Die beiden Naturen (2)

Zwei verschiedene Naturen in einer Person

Wir stellten fest, dass wir bei unserer natürlichen Geburt eine böse Natur empfangen haben, die so schlecht ist, dass sie sich unmöglich dem heiligen Gesetz Gottes unterwerfen kann. Sie «kann Gott nicht gefallen.» «Siehe, in Ungerechtigkeit bin ich geboren, und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen», sagt der Psalmist (Ps 51,7).

Wird der Mensch aber von neuem geboren, empfängt er durch die unumschränkte Wirksamkeit des Heiligen Geistes, mittels des Wortes Gottes (Jak 1,18; 1. Pet 1,23), eine ganz andere, eine «göttliche Natur» (2. Pet 1,4), ein neues Leben. Der Herr bringt dies gegenüber Nikodemus in wenigen Worten zum Ausdruck: «Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist» (Joh 3,6).

Der Gläubige besitzt also zwei Naturen, eine, die «aus dem Fleisch geboren ist» und ihrem Wesen nach Gott nicht wohlgefallen kann, und eine andere, die aus dem Geist geboren ist, und ihrem Wesen nach nicht sündigen kann, weil sie aus Gott geboren ist.

Im 7. Kapitel des Römerbriefes werden diese beiden Naturen miteinander erwähnt, wie z.B. in Vers 25: «Also nun diene ich selbst mit dem Sinn (d.h. mit dem erneuerten Geist, oder anders ausgedrückt, mit der neuen Natur) dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber (d.h. mit der alten Natur) dem Gesetz der Sünde.» Und in den Versen 22.23: «Denn ich habe Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen; ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Sinnes widerstreitet …»

Ein einfaches Beispiel mag als Illustration dienen: Eine Bäuerin, die von einer Henne Enteneier ausbrüten lässt, entdeckt nach einer Woche, dass irgendwer einen Teil der Eier zerstört hat. Sie ersetzt sie durch Hühnereier. Sobald die Vöglein ausgeschlüpft sind, sieht sich die Henne als Mutter von zwei Arten von kleinen Lebewesen. Sie kümmert sich aber wenig darum, bis sie eines schönen Tages zu ihrem Schrecken wahrnimmt, wie die Entlein einem benachbarten Teich zusteuern und von ihrem ersten Ausflug im Wasser so entzückt sind, dass all ihr Glucksen und ihre dringenden Warnrufe nicht imstande sind, sie aufs Trockene zu locken. Die Küken dagegen zeigen nicht die geringste Lust, sich auf das trügerische Element zu wagen und wären sogar tief unglücklich, wenn man sie dazu zwänge. Hier haben wir zwei ganz verschiedene Naturen mit völlig verschieden geartetem Geschmack und Gewohnheiten vor uns. Was aus dem Entenei kam, entspricht der Natur der Enten; was aus dem Hühnerei kam, entspricht der Natur der Hühner, obwohl beide Eierarten im selben Nest gebrütet worden sind. Aber alle Bäuerinnen der Welt, mit Hilfe sämtlicher Gelehrter, brächten es nie fertig, die Natur einer Ente in die eines Huhnes zu verwandeln. Jede von ihnen bewahrt ihre Eigenheit.

Nun gut, die beiden Naturen im Christen sind aufgrund des Unterschiedes ihrer Herkunft noch tausendmal mehr verschieden. Die eine kommt vom Menschen – vom verlorenen, schuldigen, gefallenen Menschen – die andere kommt von Gott und entspricht der ganzen Heiligkeit seiner unbefleckten Natur. Die eine ist menschlich und verunreinigt, die andere göttlich und folglich vollkommen rein. Jeder schlechte Gedanke oder jede böse Handlung des Gläubigen muss also von der alten Natur herrühren; jeder gute Wunsch aber, jede Gott wohlgefällige Handlung kommt aus der Quelle der neuen Natur.

Aber jetzt taucht eine andere wichtige Frage auf:

Wird die alte Natur durch das Vorhandensein der neuen Natur veredelt?

Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: Nichts vermag das Fleisch zu verbessern. Seit dem Fall Adams und Evas bis zum Kreuz Christi ist dieser Versuch auf jede erdenkliche Weise gemacht worden. Und mit welchem Ergebnis? Der Mensch hat das heilige Gesetz Gottes willentlich übertreten, als ihm Gott gebot, sich diesem zu unterwerfen. Sein Sohn wurde auf grausame Weise umgebracht, als Er diese Welt in Gnade besuchte. Statt dass die Anwesenheit des göttlichen Lebens die alte Natur verbessert, macht sie also nur deren völlige Verdorbenheit offenbar. Wenn du einem armen Bettler ein neues Kleid gibst, meinst du dann, dieses verschönere das Aussehen seiner alten, zerrissenen und zerfransten Hosen?

«Wenn aber», so sagst du, «meine alte Natur weder vergeben noch gebessert werden kann, so ergeben sich daraus zwei neue Schwierigkeiten:

  1. Wie kann ich davon befreit werden?
  2. Wie kann ich sie unter meiner Kontrolle halten?»

Bevor wir diese Schwierigkeiten klären, wollen wir den wichtigen Unterschied beachten, den die Schrift selbst macht zwischen:

«der Sünde» im Fleisch und «den Sünden»

Das Wesen der verdorbenen Natur, mit der wir geboren worden sind, wird häufig «die Sünde» genannt, während die bösen Handlungen, Worte und Gedanken, die sich daraus ergeben, dass wir diese verdorbene Natur besitzen, «die Sünden» genannt werden. Beachte diese Unterscheidung in 1. Johannes 1,8.9: «Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, so betrügen wir uns selbst», und: «Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt.» Diese Unterscheidung ist von grösster Wichtigkeit, denn die Schrift belehrt uns, dass uns Gott unsere bösen Handlungen, d.h. unsere Sünden aufgrund des vergossenen Blutes Christi vergibt. Sie zeigt uns aber auch, dass Gott die Sünde im Fleisch nie vergibt, sondern sie «verurteilt» oder verdammt. Ich will dies näher erklären.

Nehmen wir an, du habest einen Sohn von heftigem Temperament. Eines Tages wirft er in einem Wutanfall seinem Bruder ein Buch an den Kopf und zerbricht mit demselben Wurf eine Scheibe. Er bereut es, bekennt seine böse Handlung, und du vergibst ihm von Herzen. Aber was wirst du mit dem heftigen Temperament tun, das ihn zu dieser Tat verleitet hat? Wirst du es vergeben? Unmöglich! Du verabscheust und verurteilst es unbedingt; wenn es dir möglich wäre, würdest du es zum Verschwinden bringen.

Der schlechte Charakter, (an sich eigentlich nur ein Wesenszug der bösen Natur), entspricht der in uns wohnenden Sünde, während die Entfaltung seiner bösen Tätigkeit, die den Bruder verletzt und die Scheibe zerschlägt, mehr den Sünden entspricht. Wenn also Gott die Sünden des Gläubigen umsonst vergibt, ich wiederhole es, so wird Er die Sünde niemals vergeben. In seiner Gerechtigkeit kann Er sie nur unter das Urteil bringen, nur der Tod kann von ihr befreien.

In Römer 8,3 lesen wir: Gott hat, «indem er, seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend (d.h. als Opfer für die Sünde), die Sünde im Fleisch verurteilt.»

Die ersten Kapitel des Römerbriefes beschäftigen sich mit der Befreiung von den Sünden, aber im sechsten Kapitel zeigt uns der Apostel, wie wir von der Sünde befreit werden. Der letzte Vers des vierten Kapitels z.B. redet von Jesus Christus, «der unserer Übertretungen wegen hingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist.» Die gesegnete Folge dieser Hingabe ist die, dass denen, die an Ihn glauben, gerechterweise vergeben wird, d.h. sie werden «gerechtfertigt» und haben «Frieden mit Gott». Aber wie wir soeben sagten, handelt es sich im sechsten Kapitel um einen ganz anderen Gegenstand: um die Befreiung von der Sünde: «Wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde» (Vers 7).

Der Unterschied zwischen diesen beiden Dingen wird dir klar, wenn du die Reinigung des Aussätzigen (3. Mo 14,1-7) mit der des Naaman vergleichst (2. Kön 5,10-14).

Beachte, wie in der erstgenannten Stelle der arme Aussätzige, der völlig ausserstande war, irgendetwas zu seiner eigenen Reinigung zu tun, sich nur still verhalten musste und sozusagen zuschauen durfte, was für ihn getan wurde. Der «lebendige und reine Vogel» wurde in das Blut eines zweiten, geschlachteten Vogels getaucht, und dann ins freie Feld fliegen gelassen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass der unreine Aussätzige, im Bild, jemand für sich in den Tod herabsteigen sieht, der «lebendig» und «rein» ist. Dieser ins Blut getauchte Stellvertreter fliegt dann ins freie Feld hinaus, und der Aussätzige wird durch den Mund des Priesters für rein erklärt. So hat auch «Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit er uns zu Gott führe» (1. Pet 3,18), und folglich kann keinerlei Flecken mehr an uns, die wir an Ihn glauben, gefunden und keine Anklage mehr gegen uns erhoben werden. «Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde» (1. Joh 1,7), und «von allem, wovon ihr durch das Gesetz Moses nicht gerechtfertigt werden konntet, wird durch diesen jeder Glaubende gerechtfertigt» (Apg 13,39).

Gehen wir nun zum Fall des Naaman über. Hier sehen wir nicht eine andere Person für ihn hinabsteigen. Er selbst muss sich in den Jordan tauchen, einem Bild des Todes. Ich will nicht bei dem stehen bleiben, was daraus hervorging; es genügt, darauf hinzuweisen, dass alles, was er als Aussätziger war, dem Bild nach im Tod verschwand.

Die Schrift belehrt uns also, dass nicht nur Christus für den Gläubigen in den Tod hinabgestiegen ist, sondern dass auch dieser selbst, wie Naaman, in den Tod eingetreten ist. Er ist «mit Christus gestorben» (Röm 6,8).

Es besteht aber ein grosser Unterschied zwischen unserer Befreiung und derjenigen Naamans. Er wurde von der Gegenwart der Plage befreit, wir aber werden von der jetzigen Gegenwart der Sünde, die in uns wohnt, erst befreit, wenn wir diese Welt entweder durch den Tod oder beim Kommen des Herrn verlassen.

So ist also alles, was wir von Natur sind, wie auch alles, was wir getan haben, am Kreuz schon gerichtet worden, und der, der dort unser Stellvertreter im Gericht war, hat ausgerufen: «Es ist vollbracht!» Wer kann uns also verdammen? Es gibt nichts mehr zu verdammen. Wenn Satan kommt und uns unsere Sünden vorhält, so suchen wir sie weder zu leugnen noch sie zu entschuldigen, sondern werden einfach antworten: «Christus ist für meine Sünden gestorben.» Und wenn er uns durch den Gedanken an unsere sündige Natur beunruhigen will, fügen wir hinzu: «Und auch ich bin gestorben.»

Hier zeigt sich nun für viele eine praktische Schwierigkeit. Ich habe einmal einen Gläubigen sehr inständig beten hören, «dass es ihm geschenkt werde, zu fühlen, dass er mit Christus gestorben sei». Sagt denn Gott irgendwo, dass wir fühlen müssten, gestorben zu sein? Nein, aber Er leitet uns an, uns für tot zu halten: «Haltet dafür, dass ihr der Sünde tot seid, Gott aber lebend in Christus Jesus» (Röm 6,11). Wir müssen glauben, dass wir mit Christus gestorben sind, einfach weil Gott es sagt, und nicht, weil wir es fühlen; denn wir können dies nie empfinden. Gott sagt uns, dass es in seinen Augen so ist, und Er will, dass wir dies so einfach glauben, wie wir die Tatsache glauben, dass Christus für unsere Sünden gestorben ist. Gott rechnet uns den Tod unseres Stellvertreters zu, als ob es unser Tod wäre. Und die Rechnung des Glaubens stimmt immer mit der Rechnung Gottes überein.

So hat also unsere alte Stellung als Söhne des gefallenen Adams am Kreuz vor Gott ein Ende gefunden, oder, wie die Schrift sagt: «Unser alter Mensch ist mitgekreuzigt» worden (Röm 6,6), und jetzt sind wir in lebendiger Beziehung mit dem zweiten Adam, dem auferstandenen Christus, oder wie es in Römer 7,4 heisst: «Wir sind eines anderen geworden, des aus den Toten Auferweckten.»

Als Gläubige sind wir in eine ganz neue Stellung eingeführt worden. Der am Kreuz für uns zur Sünde gemacht und gerichtet wurde, ist nun aus den Toten auferstanden und Gott sieht uns «in ihm». Wir sind gemacht zur Gerechtigkeit Gottes in Christus, und sind daher auf immerdar sicher vor dem Gericht.

«Aber ist es denn möglich, wird jemand sagen, dass die Gegenwart einer so bösen Sache wie das Fleisch eine ist, nicht ein Hindernis wird für meine Gemeinschaft mit Gott?» Ich möchte dies an einem weiteren Beispiel erklären.

Ein Vater und sein Sohn sind eines Tages zu Hause und geniessen eine glückliche Gemeinschaft miteinander, d.h. sie sind in allem eins, sowohl in ihren Gedanken als auch in ihren Gefühlen. In diesem Augenblick kommt ein anderes Kind vom Wald her und stellt ein Gefäss mit Tollkirschen auf den Tisch. Sogleich verurteilt sie der Vater und bezeichnet sie als schreckliches Gift, wovor man sich hüten müsse, und ordnet an, sie sicher wegzubringen. Wenn nun der Sohn den Gedanken seines Vaters bezüglich dieses Giftes teilt und es gleicherweise verurteilt, so wird die blosse Gegenwart der bösen Früchte nicht den geringsten Unterbruch in der Gemeinschaft zwischen dem Vater und dem Sohn herbeiführen. Wenn aber der Sohn, durch den schönen Anblick dieser Früchte getäuscht, sich weigern würde, das Urteil des Vaters anzunehmen und diese Tollkirschen zu behalten suchte, so wäre er nicht mehr in Gemeinschaft mit ihm. Und wenn er sie gar essen würde, so würden sich gewiss schlimme Folgen einstellen. Sobald er jedoch seine Torheit einsieht und seinen Eigenwillen demütig bekennt, wird er wieder den Standpunkt seines Vaters einnehmen, diese schlechten Früchte verurteilen und die verlorene Gemeinschaft wieder finden.

Entdeckt der Gläubige, den Gott in diesen Wahrheiten unterwiesen hat – was nicht anders sein kann – dass die Sünde noch in ihm wohnt und die alte Natur noch ebenso schlecht, ja sogar noch schlechter ist als je, so soll er, statt unnötig zu versuchen, sie zu verbessern, den Standpunkt Gottes gegen sie einnehmen. Er betrachtet sie nur noch als einen tödlichen Feind, wovor man sich immer hüten muss und den man niemals dulden kann.

Er weiss, dass Gott sie am Kreuz ganz gerichtet hat, und daher verurteilt auch er sie ganz und gar. Er hält sich der Sünde für tot, «Gott aber lebend in Christus Jesus».

Oh, welche Gnade, dass Gott vom Fleisch gar nichts Gutes mehr erwartet, sondern es für immer beiseite gesetzt hat, als durch und durch böse. Zudem hat es durchaus keinen rechtlichen Anspruch mehr auf uns. Wir sind dem Fleisch gegenüber keine Schuldner mehr, «um nach dem Fleisch zu leben» (Röm 8,12). Obwohl wir verantwortlich sind, die grösste Wachsamkeit an den Tag zu legen, damit es nicht wirksam sein kann, gibt uns Gott durch den Tod und die Auferstehung Christi das Recht das Fleisch als etwas zu betrachten, das in unserer neuen Stellung vor Ihm keinen Platz mehr hat. Das Kreuz Christi hat das Band, das uns mit dem ersten gefallenen Menschen verknüpfte, für immer durchschnitten und der Heilige Geist hat in unsere Seelen das Leben des auferstandenen zweiten Adam eingeführt.

Gott betrachtet uns durchaus nicht mehr als «im Fleisch», sondern als «im Geist», und das einzige Leben, das wir jetzt vor Ihm besitzen, ist das Leben Christi. Daher konnte der Apostel sagen: «ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat» (Gal 2,20).