«Als nun Maria dahin kam, wo Jesus war, und ihn sah, fiel sie ihm zu Füssen … Als nun Jesus sie weinen sah und die Juden weinen, die mit ihr gekommen waren, seufzte er tief im Geist und erschütterte sich … Jesus vergoss Tränen» (Joh 11,32-35).
Sind in Tagen der Trauer Tränen eines Christen unwürdig? Ist es unrecht für Gläubige, beim Verlust geliebter Angehöriger zu weinen? Durchaus nicht, wenn wir, wie Maria es tat, zu Jesu Füssen weinen. Unser Herr hat ein verständnisvolles Herz. Er erkennt die Tiefen unseres Kummers besser als es unsere treuesten Freunde vermöchten. Wenn Er unsere Tränen sieht, kommt Er zu uns. Und seine Gegenwart bringt uns grössere Befreiung als unsere Tränen.
Die Regungen des menschlichen Herzens sind Ihm bekannt, auch wenn Er in der Höhe ist. Das war von jeher so. Als Hiskia, vor alters, sterbenskrank war, lautete die Botschaft des HERRN an ihn: «Ich habe dein Gebet gehört, ich habe deine Tränen gesehen» (2. Kön 20,5). Der Schmerz des Königs und sein Schaudern im Gedanken an das Grab hatten dem Herrn Gelegenheit gegeben, seinem Gesalbten seine tiefe Anteilnahme zu bezeugen; Er schonte Hiskias Leben und wandelte seine Traurigkeit in Lobgesänge um.
Aber die göttlichen Mitgefühle mit menschlichem Kummer wurden erst dann so recht ins Licht gestellt, als der Sohn Gottes selbst in diese Welt der Tränen kam. Jetzt haben wir in Ihm die tröstende Macht der göttlichen Liebe gesehen. Die, die in den Tagen seines Fleisches sein Mitgefühl mit den Trauernden sahen, können mit den Worten des Propheten sagen: «Doch er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen» (Jes 53,4).
Jakob, Josua, Jeremia kannten nicht die Offenbarung göttlichen Mitgefühls, wie es sich im Haus des Synagogenvorstehers, in Nain und in Bethanien kundtat. Dem frommen und geduldigen Hiob fehlte ein Herz, das sein grosses Leid mit ihm teilte, als «sein Auge zu Gott tränte», und «sein Angesicht von Weinen glühte» (Hiob 16,20.16).
Hiob setzte sich in die Asche und hing sieben Tage und sieben Nächte lang seinem Schmerz nach; seine drei Freunde äusserten dabei nicht ein einziges Wort der Teilnahme. Der schwere Herzensdruck hatte auch seine Lippen verriegelt, seinen Geist ausgeleert. In diesen traurigen Tagen wusste der einsame und freudlose Hiob nichts von der lebendigen Gegenwart des Mannes der Schmerzen, der zu den Trauernden in Bethanien kam.
Maria sass allein im Haus in Bethanien, vom Leid niedergebeugt, überwältigt vom Kummer, weil in der Wohnstätte, die die führende Gegenwart ihres geliebten Bruders gekannt hatte, Lazarus künftig nicht mehr zu finden war. Sie selbst hatte die Stütze und den Trost ihres liebenden Bruders verloren.
Aber neben ihrem schwesterlichen Leid um Lazarus lag noch ein anderer dunkler Schatten auf ihrem Herzen, der sich vertiefte, als Tag um Tag verging, und Jesus nicht kam. Warum blieb ihr Gebet für ihren Bruder unbeantwortet? Sie hatten dem Meister doch eine besondere Botschaft gesandt. Warum war Er nicht gekommen, um das Leben von Lazarus, seinem Freund, zu bewahren?
Wahrlich, Trauer lässt so oft manchen trüben und fragenden Gedanken in dem brütenden Herzen aufsteigen, aber, Gott sei Dank! Sie bringt auch den Herrn selbst zu den Trauernden, wie Er zu denen in Bethanien kam. Als Maria den Herrn sah, fiel sie in demütiger Niedergeschlagenheit und gläubiger Erwartung seines Trostes zu seinen Füssen nieder.
Da wo sie früher gesessen hatte, um seine Worte der Wahrheit und Gnade in sich aufzunehmen, schüttete sie jetzt die Klage ihrer Seele vor Ihm aus: «Herr, wenn du hier gewesen wärest, so wäre mein Bruder nicht gestorben.» Diese Worte enthielten ein wenig Wahrheit: Sie glaubte, dass der Herr Macht über den Tod hatte. Sie zeugten aber auch von einem Missverständnis: Sie hatte gedacht, Er müsse notwendig nach Bethanien kommen, um das Leben ihres Bruders zu bewahren. Sie bewiesen aber auch ihre Unwissenheit: Sie wusste nicht, dass der Tod von Lazarus zur Verherrlichung Gottes war und dass eine Überraschung für sie aus dem Grab selbst kommen sollte.
Aber der Herr sah Marias Tränen. Ihre Worte sanfter Klage nahm Er gerade so, wie sie geäussert waren, und Er machte keine Bemerkung. Ihre Tränen weckten indessen seine inneren Gefühle und machte sie offenbar. Ihre tränenerfüllten Augen sprachen viel deutlicher zu Ihm von der Tiefe ihres Leids als Worte es getan haben konnten. Selbst die jüdischen Nachbarn weinten, denn Seufzer und Tränen sind ansteckend.
Aber das Wunder der Wunder sollte noch folgen. Der ewige Sohn Gottes verband sich selbst mit den Weinenden. «Als nun Jesus sie weinen sah und die Juden weinen, die mit ihr gekommen waren, seufzte er tief im Geist und erschütterte sich … Jesus vergoss Tränen.»
Wie gesegnet sind die Tränen Marias, die die Tränen Jesu hervorlockten! Wie lieben wir diese kurze Schriftstelle: «Jesus vergoss Tränen», Tränen des zärtlichen Mitgefühls, die von der unendlichen Liebe seines Herzens sprechen, das auch mit den unzähligen Leiden einer stöhnenden Welt beladen ist.
Obwohl Er wusste, dass Maria in wenigen Augenblicken den Bruder, um den sie trauerte, sehen und umarmen würde, «vergoss Jesus Tränen» – Tränen für die Trauernden und Tränen mit den Trauernden; jede dieser Tränen erzählte die Geschichte seines Mitleids.
Kostbares Denkmal göttlichen Mitgefühls, das in Bethanien aufgerichtet wurde für die leidvollen Jahre, die folgen sollten! Heute tragen viele Weinende ihre toten Lieben aus ihren Augen weg zu Grab. Für sie alle gilt in ihrem Leid – wüssten sie es nur! – das Wort: «Jesus vergoss Tränen».
Dieser selbe Jesus, der Sohn Gottes, «vermag noch immer Mitleid zu haben mit unseren Schwachheiten» (Heb 4,15), so dass wir, wenn wir an seine unveränderliche Liebe glauben, getröstet sind in der Erinnerung an seine Tränen in Bethanien, und durch die Zusicherung seines gegenwärtigen Mitgefühls am Thron der Gnade. Wir denken auch an seine Verheissung: «Ich werde euch nicht verwaist zurücklassen, ich komme zu euch» (Joh 14,18). Und wenn Er ins Herz kommt, erfahren wir sein Mitgefühl und werden durch seine Gegenwart mit Erfrischung erfüllt.