Der Splitter im Auge des Bruders

Matthäus 7,1-5; Johannes 13,1-15

Ein Fremdkörper im Auge reizt und schmerzt dieses empfindliche Organ. Es rötet sich und läuft über. Es sieht nicht mehr klar.

Der, dem ein solcher Splitter ins Auge gerät, wird sogleich Vorkehrungen treffen, um ihn zu entfernen. Man muss ihn nicht erst darauf aufmerksam machen.

Ist die Sünde nicht auch ein böser Fremdkörper im Leben des Gläubigen, der sogleich ausgeschieden werden muss, damit der Schaden nicht immer grösser wird? Das Böse ist ja wie ein Sauerteig, der nicht eher ruht, als bis alles durchsäuert ist.

Wie aber reagiert der Gläubige, wenn die Sünde in seine Gedanken, ja sogar in sein Tun eindringt? Das ist die grosse Frage.

Wandelt er gewohnheitsmässig in dem Licht, übt er sich, unter Wachen und Beten, ein Gewissen ohne Anstoss zu haben, so wird er sich der gestörten Gemeinschaft mit Gott sogleich bewusst werden. Er wird nach dem Grund forschen, die Sünde bekennen und davon gereinigt werden (1. Joh 1,9).

Aber sind wir alle in diesem guten Zustand?

Ach, wir leben in einem Zeitlauf, wo uns die Welt fortgesetzt mit ihrem unreinen Wesen berührt, das im Wort mit «Lust des Fleisches, Lust der Augen und Hochmut des Lebens» bezeichnet wird! Die «Liebe des Vaters» im Herzen ist das Schutzmittel gegen die «Liebe zur Welt» und alle ihre Einflüsse. Doch will diese Beziehung zu Gott gepflegt sein. Wir werden ermahnt: «Ihr aber, Geliebte, euch selbst erbauend auf euren allerheiligsten Glauben, betend im Heiligen Geist, erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes» (1. Joh 2,15.16; Judas 20.21).

Wie nun, wenn ich hierin fehle und sich mir das Böse so anhaftet, dass ich es nicht mehr verurteile und kein Selbstgericht mehr ausübe?

Du sagst vielleicht: Dann wird der himmlische Sachwalter fortfahren, durch den Heiligen Geist das Wort Gottes auf dein Herz und Gewissen anzuwenden und wird so «deine Füsse waschen», damit du wieder ein Teil mit Ihm, also volle Gemeinschaft mit Ihm haben kannst.

Johannes 13 belehrt uns aber, dass der Herr zu diesem Werk der Wiederherstellung auch den Bruder gebrauchen will, besonders dann, wenn sich das Böse festsetzt und nach aussen sichtbar wird: «Ihr nennt mich Lehrer und Herr, und ihr sagt es zu Recht, denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und der Lehrer, euch die Füsse gewaschen habe, so seid auch ihr schuldig, einander die Füsse zu waschen. Denn ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit, wie ich euch getan habe, auch ihr tut.»

Wird meine Abirrung jedoch zu einer Angelegenheit zwischen dem Bruder und mir, dann wird sie schwierig. Denn, wenn ich in einem schlechten Zustand bin, werde ich Mühe haben, mir von einem anderen etwas sagen zu lassen. Ich habe ja den Herrn und sein Wort vernachlässigt und werde noch viel weniger geneigt sein, auf den Bruder zu hören, sondern finden, er habe vor seiner eigenen Tür zu wischen.

Der Bruder seinerseits steht vor einer heiklen Aufgabe. Es geht ja nicht darum, dass er den Fehlbaren in einem gesetzlichen Richtgeist verurteilt. Die Pharisäer, die noch nie im Licht Gottes gestanden und selbst einen «Balken im Auge» hatten, handelten so.

Sie verhüllten ihre eigene Sündhaftigkeit und richteten die anderen Menschen, um sich selbst zu erhöhen. Darum nannte der Herr sie so oft «Heuchler». Dem geistlichen Bruder aber ist es ein ernstes Anliegen, seinem Mitbruder zur Wiederherstellung behilflich zu sein. Er ist frei von fleischlicher Überheblichkeit; er wandelt im Geist der Liebe und des Friedens, der ihn selbst zur Treue und zur Enthaltsamkeit anhält. Er sucht seinen Mitbruder in diesem Geist der Sanftmut wieder zurecht zu bringen, indem er auf sich selbst sieht, dass nicht auch er versucht werde (Gal 5,22; 6,1).

Wie hat unser Herr durch sein Beispiel der Fusswaschung uns auf so eindrückliche Weise belehrt, wie dieser Dienst der Zurechtbringung an den Geschwistern geschehen soll! – Er hat an jenem Abend seine Oberkleider abgelegt – mit denen der Mensch so gern seine Würde und seinen Wert zeigen will – und sich mit einem leinenen Tuch umgürtet. Mit einem Waschbecken in den Händen ging Er nun wie ein Diener von einem Jünger zum anderen, kniete bei jedem einzelnen nieder und befreite die Füsse von allem Staub und Schmutz, den sein Auge wahrnahm. Er vergass aber auch nicht, sie abzutrocknen: Wenn Er einen Jünger verliess, so erinnerte nichts mehr daran, dass bei diesem eine solche Prozedur nötig gewesen war.

«Einer trage des anderen Lasten, und so erfüllt das Gesetz des Christus» (Gal 6,2). Ja, lasst auch uns in einer wahrhaft demütigen Gesinnung der Liebe einander dienen! Oft sind es gerade die Brüder, die nicht öffentlich hervortreten, die uns in der Ausübung der Fusswaschung ein Beispiel sind. Wie viele Geschwister, die sich vom Weg abgewandt haben, wären wohl noch unter uns, wenn wir in diesem Dienst treuer gewesen wären?