Einst Fremde – jetzt aber Hausgenossen Gottes

Auf den Blättern des Alten Testaments finden wir vornehmlich die Geschichte Israels, des irdischen Volkes Gottes, aufgezeichnet: Seine Entstehung, seine Knechtschaft in Ägypten, seine Befreiung, seine Wanderung durch die Wüste, seinen Einzug ins verheissene Land und sein Wohnen darin – aber auch seine Untreue und seinen Ungehorsam, durch die es alle Segnungen verwirkte. Aufgrund des mit dem HERRN eingegangenen Bundes, der das Halten seines Gesetzes voraussetzt, konnte das Volk unmöglich vor Ihm bestehen bleiben. Seine Hoffnung auf endgültige Herrlichkeit und Ruhe kann allein aufgrund der Hilfsquellen der Gnade und Macht Gottes in Erfüllung gehen.

Und so wird es auch geschehen. Israel wird in späteren Tagen als das Volk Gottes dastehen, in der Kraft, die ihm durch die Aufnahme seines Christus, in Buße und Glauben, zuteilwird. Die Propheten Israels weisen auf Ihn hin und auch die Geschlechtslinie Davids, seines Fürsten, endigt bei Ihm, dem verheissenen Messias, der als König der Könige in Gerechtigkeit regieren und sein Volk Israel weiden wird.

Aber da ist noch ein anderer und tieferer Vorsatz Gottes von erhabenerem Charakter, der die Heiden, die Menschen aus den Nationen, betrifft. Diese Tatsache wurde im Alten Testament durch eine Linie von Zeugen, von Persönlichkeiten aus den Nationen, angedeutet, die in Israel Fremde waren.

Es scheint, dass zu allen Zeiten inmitten Israels eine Gruppe von Heiden gelebt hat, die gegenüber Israel einen untergeordneten Rang einnahmen (z.B. Jos 9,2), obwohl sie sich mit ihm an den Segnungen erfreuen durften. Anderseits gab es aber auch eine Reihe hervorragender Heiden, die, wenn immer sie in der Geschichte Israels erschienen, in den bezüglichen Ereignissen einen Platz einnahmen und zu Diensten berufen wurden, die sie weit über den Stand Israels erhoben. Beides, so scheint mir, ist sehr bedeutsam und zeigt uns im Vorbild die Ratschlüsse Gottes für die Heiden und Fremden,

  1. hinsichtlich der grossen Gruppe derer, die später in dem Reich einen dem Volk Israel untergeordneten Platz einnehmen und doch an der Freude Israels teilhaben werden und
  2. im Blick auf die zahllosen Auserwählten aus den Nationen, die – zusammen mit vielen einzelnen Auserwählten aus den Juden – in der jetzigen Haushaltung aus der Welt herausgerufen werden, um die Versammlung oder Kirche Gottes zu bilden, deren Stellung und Würde weit über die künftige Stellung und Würde des Volkes Israel als Ganzem erhaben sein wird (vergleiche Offenbarung 21,9-11.23.24).

Melchisedek

Der erste der durch die Gunst Gottes ausgezeichneten Menschen aus den Nationen, der uns begegnet, ist Melchisedek (1. Mo 14,17-20; sowie viele Stellen im Hebräerbrief). Von der Ehre, die ihm gegeben war, muss nicht besonders gesprochen werden; dies wird im Allgemeinen gut verstanden. Aber mit ihm beginnt eine Reihe von Personen, die aus ihrem Geschlecht jener Tage herausgehoben wurden, wie er selbst.

Asnat – Zippora

Nach ihm begegnen wir Asnat (1. Mo 41,45), der Frau Josephs, und Zippora (2. Mo 2,21.22), der Frau Moses. Sie beide waren Fremdlinge betreffs der Bündnisse der Verheissung mit Abraham. Aber sie wurden die Mütter der Kinder, die diesen zwei hervorragenden Vätern in Israel in den Tagen gegeben wurden, als sie von Israel getrennt waren. Diese Frauen empfingen Würden, um die sie die vornehmsten Frauen in Israel beneidet hätten.

Jethro

Als nächster wird Jethro (2. Mose 18) eingeführt. Dieser gottesfürchtige Priester gehörte nicht zu Israel, aber wir sehen ihn doch in Gegenwart Aarons priesterlichen Dienst ausüben und Mose bezüglich der Ordnung der Dinge in Israel Ratschläge erteilen, ohne deswegen gerügt zu werden. Die hervorragendsten Persönlichkeiten in Israel wurden für einen Augenblick überstrahlt. Wie Melchisedek zuvor, so ist auch Jethro ein schönes Vorbild von der Stellung, zu der die Auserwählten aus den Nationen gelangt sind.

Rahab

Nach Jethro begegnen wir Rahab (Josua 2), einer anderen Fremden, der, wie wir alle wissen, ein hoher Ehrenplatz in Israel zuteilwurde, ein Ehrenplatz, wonach sich im Lauf der Zeit alle jungen Frauen des Landes ausstreckten: Rahab war ein Glied in der Kette der Vorfahren, durch die dem Fleisch nach die Hoffnung Israels zum Volk kam (Mt 1,5). Ihre Glaubenswerke werden in Jakobus 2,21-25 in einem Atemzug mit dem Glauben und den Werken Abrahams genannt.

Jael

Danach sehen wir in Jael der Frau Hebers, des Keniters, erneut eine Fremde hervortreten. Es war ihre Hand, durch die Gott in einer besonderen Weise den König der Kanaaniter vor den Kindern Israel demütigte, so dass über sie das Lob ausgesprochen wurde: «Gesegnet vor Frauen sei Jael, die Frau Hebers, des Keniters, vor Frauen in Zelten gesegnet!» (Ri 5,24).

Ruth

Darauf trat in Ruth, der Moabiterin, wieder eine Fremde in den Vordergrund. Obwohl eine Frau eines unreinen und verworfenen Volkes, wird ihr ein hoher Platz gegeben, gleich dem der hervorragendsten Mütter in Israel. Wie vor ihr durch Rahab, kommt dem Fleisch nach die Hoffnung der Nation auch durch sie (Mt 1,5); und wie Rahab empfängt auch sie eine bleibende Würde (Ruth 4,11). Es verband sie keine natürliche Verwandtschaft mit dem auserwählten Volk, aber durch Gnade wurde sie auf Israel aufgepfropft, um eine Trägerin des Stammes Isais zu werden, an dessen Zweig jede Hoffnung Israels hing.

Urija

Und auch später, in den Tagen Davids, wird uns der Fremde in höchst ehrenhafter Weise vor Augen geführt. So zuerst in Urija (2. Samuel 11). Er war ein Hethiter; aber seine Treue gegen den Gott Israels und sein selbstloser Eifer für dessen Volk leuchten hell hervor, selbst im Gegensatz zum obersten, edelsten und besten Sohn Israels jener Tage. Er, der zum armen Überrest der verachteten Heiden gehörte, tadelte keinen geringeren Israeliten als den König David selbst.

Ittai

Auch in Ittai, dem Gatiter (2. Samuel 15), begegnen wir in jenen Tagen Davids dem Ausländer. Mit allen seinen Männern verband er sich mit David, und die Worte, die sein Handeln begleiteten, lauteten ähnlich wie die der Ruth, die zu Noomi sagte: «Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.» Er war nicht aus Israel, doch war er dem König Israels treuer als Israel selbst; denn als sich das Volk unter der Anführung Absaloms empörte und das Land in Aufruhr war, da hing dieser Fremde auf Leben oder Tod dem König David an.

Arawna

In der Person Arawnas (2. Sam 24,18-25) wird in den Tagen Davids noch einmal der Fremde oder Heide eingeführt, und dies, wie in den anderen Fällen, in einer ausgezeichneten und ehrenvollen Art und Weise. Davids Übertretung hatte die Nation unter das Gericht gebracht; aber als der Engel des HERRN durch das Land ging und Tausende erschlug, da zog er bei der Tenne dieses Jebusiters auf Geheiss des Herrn seine Hand zurück. Gerade hier triumphierte die Gnade zuerst über das Gericht. Die Sünde hatte in Israel zum Tod geherrscht, aber die Gnade sollte nun zum Leben herrschen – zuerst im Erbteil dieses Heiden. Welch hohe Auszeichnung für ihn! Welch ein Zeichen der Gunst gegenüber den Heiden! Wahrlich, alles dieses hatte eine Stimme, wenn auch keine Rede und keine Worte.

Die Witwe von Zarpat – Naaman

Auch möchte ich noch auf die Witwe von Zarpat (1. Könige 17) und auf Naaman, den Syrer (2. Könige 5), in den Tagen der Könige, hinweisen. Diese wurden zwar nicht, wie andere, zu hohem Rang in Israel erhoben, aber sie wurden doch zu bleibenden Denkmälern der auszeichnenden und auserwählenden Gnade gemacht (vgl. Lk 4,25-27).

Jonadab

Und nach ihnen gelangen wir zu Jonadab, dem Sohn Rekabs, den Jehu zum Zeugen seines Eifers im Gericht am Haus Ahabs gemacht hat (2. Kön 10,15-17).

So wird uns der Fremde zur Zeit der Patriarchen und in den nachfolgenden Tagen Moses, Josuas, der Richter, Davids und der Könige nach ihm gelegentlich vorgestellt, aber immer besonders hervorgehoben.

Die Rekabiter

Aber neben diesem gelegentlichen Zeugnis gab es auch eine bleibende Anwesenheit und ein beständiges Zeugnis von Heiden in Israel. Ich denke da an die Familie, der dieser Jonadab angehörte, an die Familie der Rekabiter, die von den frühesten bis zu den spätesten Zeiten, von Mose bis Jeremia, in Israel bestand (vgl. Ri 1,16; 1. Chr 2,55; Jer 35,8). Während all dieser vieler Jahrhunderte lebten sie als Fremde im Land. Ganz am Anfang verliessen sie die Stadt, um in der Wüste zu wohnen, und auch ganz am Ende sehen wir sie immer noch den gleichen Charakter festhalten. Sie bauten weder Häuser noch kauften sie Felder, sie streuten weder Samen aus noch pflanzten sie Weinberge; alle ihre Tage wohnten sie in Zelten und assen nicht von der Frucht des Weinstocks. Sie waren ein bleibendes Zeugnis vom Nasiräertum und mehr für Gott abgesondert als selbst Israel. Und so treu waren sie in ihren Gelübden zur Absonderung, dass am Ende, als der Herr das Gericht über sein eigenes Volk aussprach, Er ihnen die Verheissung gab, dass es ihnen nicht an einem Mann fehlen sollte, der alle Tage vor Ihm stehen würde. Wo immer wir in der langen Zeitspanne ihres Zeltens in Israel von ihnen hören, ist es immer zu ihrem Ruhm. Immer sehen wir sie einen solchen Charakter der Heiligkeit aufrecht halten, dass sie, wie die anderen Fremden, weit über den Stand des Volkes hinausragten.

Schliesslich möchte ich noch auf die Ausländer hinweisen, die in der Mitte Israels erschienen, als die Zeiten des Neuen Testaments begonnen hatten:

  • Auf den Hauptmann (Mt 8,5-13) und
  • die Syro-Phönizierin (Mk 7,25-30).

Auch sie erscheinen, wie ihre älteren Genossen, in grosser Auszeichnung. Der Herr hebt sie beide besonders hervor.

Zu all diesem möchte ich bemerken, dass, wie Melchisedek den Juden ein Hinweis auf eine bessere Ordnung als die des aaronitischen Priestertums sein sollte (Heb 7), auch diese Linie der Fremden, die den Spuren Melchisedeks folgte, dem Volk ein beständiger Hinweis auf bessere Dinge, aufbewahrt für die Heiden, sein mochte; ein Hinweis auf Besseres als alles, was Israel ausgezeichnet hatte. Diese Linie der Fremden war ein Hinweis auf das Herausrufen der Versammlung Gottes, die mit dem Sohn Gottes, als ihrem Haupt, der wahre Fremdling auf der Erde ist, und die vor Gott einen geehrteren Platz einnimmt als Israel ihn je kannte. Die Versammlung oder Kirche ist es, auf die alle diese zuvor aufgezählten, hervorragenden Fremden hinweisen. Denn die Kirche geht nicht auf dem Pfad Israels. Sie ist dort fremd, wo Israel zu Hause war. Ihr Bürgertum ist in den Himmeln und nicht auf der Erde. Die Heiligen sind Söhne Gottes, und die Welt kennt sie nicht, wie sie Christus nicht kannte. Sie stehen gleichsam am Ende der Zeitalter (1. Kor 10,11), mit Christus gestorben und auferweckt. Dem Herrn Jesus wurde auf der Erde kein Platz gegeben; und auch sie halten sich – wenn sie richtig stehen – nur als Fremde hier auf, wie Er es tat, dem Grundsatz nach getrennt von allem, was sie umgibt, so wie die Rekabiter einst von Israel abgesondert waren und nur in Zelten bei ihnen wohnten.

Ich bezeichne jedoch die Lebensgeschichten der aufgezählten Fremden nicht allgemein als vorbildlich. Ich weise nur auf die Tatsache ihrer besonderen Erhöhung in Israel hin, worin sie ein Hinweis Gottes auf seine hohen, erhabenen Vorsätze bezüglich der Versammlung, des wahren Fremdlings, sind. Die Geschichte einiger von ihnen mochte vorbildlich gewesen sein. Aber es waren nicht die Einzelheiten ihrer Geschichte, die vor mir standen, sondern einfach die Tatsache ihrer Auszeichnung in Israel.

So enden in Christus zwei Linien von Persönlichkeiten:

  1. Die Linie der ausgezeichneten Israeliten oder jüdischen Männer, die durch eine aussergewöhnliche Wirksamkeit des Geistes zur Hilfe für Israel oder zu dessen Leitung berufen wurden; sie endet in Christus, dem wahren Propheten und König Israels, dem Gott Jeschuruns, der in kommenden Tagen der Schild ihrer Hilfe und das Schwert ihres Ruhmes sein wird.
  2. Die Linie der ausgezeichneten heidnischen Fremden – die in einem besonderen Charakter gesehen werden und besondere Würden und Ehren trugen, die weit über den Stand oder die Berufung Israels hinausgingen – endet in Christus als dem Haupt seines Leibes, der Versammlung.

Das zukünftige Reich wird Christus und alle, die in so unterschiedlicher Weise mit Ihm verbunden sind, in diesen verschiedenen Herrlichkeiten offenbar machen. Alle Dinge im Himmel und auf der Erde werden dann in Ihm vereint sein. Die wahren Fremden – die Heiligen – werden in den Himmeln scheinen «wie die Sonne in dem Reich ihres Vaters» (Mt 13,43), und Israel wird seine Ruhe, seine heilige Ruhe, unter dem verheissenen König aus dem Geschlecht Davids, ihrem Fürsten und Hirten, finden.