Vom ersten Tag an (2)

Apostelgeschichte 9,11

Wir haben festgestellt, dass der neue Mensch, der bei der Neugeburt zu leben anfängt, vom ersten Tag an deutliche Lebenszeichen von sich gibt, wenn er in seiner Entwicklung nicht gehemmt ist: Er beginnt, sich «im Herrn» zu freuen und ergreift jede Gelegenheit, sich zu den Füssen Jesu niederzusetzen, um seinem Wort zuzuhören.

Sein weiteres Merkmal ist auch, dass er mit Gott, dem Vater und dem Sohn, innige Ge­bets­ge­mein­schaft unterhält. Das möchten wir wiederum durch ein Beispiel beleuchten.

«Siehe, er betet»

Vor drei Tagen erst hatte Saulus eine Bekehrung erlebt. War sie wohl echt? Ananias, der ihm die Hände auflegen sollte, zweifelte. War der gewalttätige Verfolger der Versammlungen wirklich ein Christ geworden?

Der Herr bejahte dies mit den Worten: «Siehe, er betet!»

War denn das Beten im Leben des Saulus etwas Neues? Als eifriger Pharisäer hatte er doch bis dahin sicher schon viele Gebete «verrichtet»!

Gewiss, aber waren denn das nicht Gebete der Selbstgerechtigkeit? Wie weit solche Gebete gehen können, sehen wir an einem krassen Beispiel in Lukas 18,9-14. Jener Pharisäer gebärdete sich wie ein Pfau, der das Rad schlägt und vor aller Augen die Pracht seiner Federn entfaltet. Jener Mann gefiel sich im Aufzählen seiner Tugenden und Gesetzeswerke. Er war wohl gekommen «um zu beten», aber er stand nicht als Beter vor Gott, sondern als Berichterstatter seiner eigenen Leistungen in eigener Kraft.

Aber zwischen dem bisherigen Saulus und dem Saulus, der jetzt in Damaskus betete, war ein gewaltiger Unterschied. Auf der Strasse zu dieser Stadt hatte er einen völligen Zusammenbruch erlebt. Im Licht Jesu Christi, des verherrlichten Herrn, war ihm die Decke von den Augen weggenommen worden, und plötzlich erkannte er sein ganzes vergangenes Leben als schlecht und sündig. Wie völlig und ohne jede Einschränkung verurteilte er es nun! Seine bisherigen Beweggründe und Lebensziele kamen ihm jetzt so verwerflich vor, dass er drei Tage lang nicht imstande war, etwas zu essen oder zu trinken (Vers 9). In der Meinung, Gott zu dienen, hatte er Jesus verfolgt, Gottes Sohn, indem er gegen die Jünger des Herrn «Drohung und Mord geschnaubt» hatte! Oh, das konnte er zeitlebens nicht vergessen. Immer wieder redete und schrieb er davon. (Siehe Apg 22,1-10; 26,9-15; 1. Kor 15,9; Gal 1,13; 1,23; Eph 3,8; Phil 3,6; 1. Tim 1,13).

Saulus mit seiner eigenen Gerechtigkeit, mit seinem Vertrauen auf das Fleisch – auf die eigene sittliche Kraft und die eigene Weisheit –, mit seinem religiösen, gesetzlichen Eifer für Gott, dieser Saulus war also zusammengebrochen und zum Paulus (der «Kleine, Geringe») geworden. Er lebte nun ein völlig andersgeartetes Leben. Was er abgebrochen, baute er nie wieder auf (Gal 2,18). War bis dahin seine eigene starke und energische Persönlichkeit Ausgangspunkt seines Denkens und Handelns, so war fortan Christus allein Quelle und Inhalt seines ganzen Lebens. Er selbst hatte dieses sein neues Leben wie folgt umschrieben: «Ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20).

Was hatte dies zur Folge? Dass er von da an in allem vom Herrn und seiner Gnade abhängig war: Im Essen, Trinken und Schlafen, beim Teppichweben wie auch im Dienst des Wortes an einzelnen und in den Versammlungen, zu dem der Herr ihn berief. Der neue Mensch ist für das Geringste wie auch für das Grösste auf die Gnade Gottes in Christus Jesus angewiesen.

Wie aber wurde Paulus diese Gnade zuteil? «Siehe, er betet!» Beten wurde für ihn so notwendig wie für den Körper das Atmen. Beten nennt man ja auch «das Atemholen der Seele». Er trat mit Freimütigkeit vor den Thron der Gnade, um Barmherzigkeit zu empfangen und Gnade zu finden zu rechtzeitiger Hilfe (Heb 4,16), für sich selbst, für die vielen Menschen, die er auf dem Herzen trug, für die Versammlungen und das ganze Werk des Herrn auf der Erde.

Es lohnt sich, in seinen Briefen den vielen Hinweisen auf seinen ununterbrochenen Gebetsumgang mit Gott nachzuspüren. Wenn er die Gläubigen alle ermahnte: «im Gebet haltet an» (Röm 12,12); «Betet unablässig» (1. Thes 5,17); verharrt im Gebet und wacht darin mit Danksagung» (Kol 4,2), so tat er es aus eigener, täglicher und glückseliger Erfahrung heraus. Von ihm selbst konnte allezeit gesagt werden: «Siehe, er betet!»

Keiner von uns hat eine solche Vergangenheit wie Paulus. Wir waren keine Eiferer für das Gesetz auf Biegen oder Brechen. Wir sind von anderen Standorten hergekommen.

Aber auch wir waren einst «im Fleisch» und vermochten Gott nicht wohlzugefallen (Röm 8,8.9). Als solche waren auch wir keine rechten Beter; denn das Wesen des Fleisches, so fromm es sich geben mag, ist Überhebung und Hochmut – und nicht Unterordnung und Abhängigkeit von Gott. In der «Gesinnung des Fleisches» ruft der Mensch nicht nach Gnade und tritt er nicht vor den Thron der Gnade mit Bitten und Flehen.

Als natürliche Menschen mussten daher auch wir vor Gott zusammenbrechen, uns zu Ihm bekehren und aus Wasser und Geist von neuem geboren werden. Wie dürfen wir Gott täglich dankbar sein, dass wir nun «in Christus» sind, dass wir in Ihm alle Gnade und Segnungen Gottes, alle Quellen besitzen.

Doch wollen wir uns prüfen: Sind wir solche Beter wie Paulus? Wie oft kann der Herr von uns sagen: «Siehe, er betet?»

Woran mag es liegen, wenn dem nicht so ist? Ach, gewiss daran, dass wir dann unter weltlichem Einfluss stehen und dem begehrlichen, eigenmächtigen, selbstsicheren und hochmütigen Fleisch Raum gewähren in unseren Herzen, statt Christus allein. Unser Geist und Herz ist dann nicht wirklich zerbrochen und zerschlagen (Ps 51,19; Jesaja 57,15; 66,2).

Wenn wir also träge und oberflächlich sind im Gebet, so ist dies ein Alarmzeichen von einem schlechten inneren Zustand, über den wir nicht leichtfertig weggehen dürfen, sondern aufrichtig Buße tun müssen.

Wie gut ist es, dass Gott in seiner unendlichen Vaterliebe über jeden von uns, die wir zu seinen «Söhnen» gehören, die Augen offenhält (Heb 12,4-11)! Wenn wir uns noch zu wenig kennen, wenn wir selbst nicht wissen, woran unser Christentum kränkelt und worin es bei uns in der Verwirklichung des vollkommenen Heils in Christus fehlt – Gott weiss es und führt uns in seiner untrüglichen Weisheit weiter, vielleicht durch schmerzliche Züchtigung, bis sein Ziel mit uns erreicht ist: Wir sollen in unserem praktischen Zustand «seiner Heiligkeit teilhaftig werden», damit Er in unseren Wegen die «friedsame Frucht der Gerechtigkeit» findet. Wie gerne und fleissig werden wir dann sein Angesicht suchen!

Sein Herz verlangt danach, Gemeinschaft mit uns zu pflegen. Welche Freude ist es für Ihn, von dir und mir sagen zu können: «Siehe, er betet!»