Die kleine Szene in Bethanien, die dieses Kapitel abschliesst, ist bezeichnend für das Lukas-Evangelium, in dem uns tiefe Belehrungen über grosse, grundsätzliche Wahrheiten gegeben werden.
Die zwei hier genannten Schwestern waren in ihrer Gesinnung völlig verschieden voneinander. Sie wurden auf die Probe gestellt, ob die Gesinnung Christi in ihnen wirksam war; und das Urteil Gottes in dieser Sache ist für uns von grösstem Wert.
Das Haus, das wir hier betreten, gehörte Martha. Der Heilige Geist teilt uns dies als für Martha charakteristisch mit. Mit bereitwilligem Herzen nahm sie den Herrn in ihr Haus auf und traf für Ihn die beste Vorsorge, die ihr möglich war. Dies entsprach seiner Arbeit und seinem ermüdenden Dienst, dachte sie. Martha wusste gut, dass seine Wege landauf-landab die Wege des barmherzigen Samariters waren, der auch dort zu Fuss ging, wo andere reiten mochten. Sie liebte Ihn zu sehr, um nicht seine Müdigkeit wahrzunehmen und für Ihn besorgt zu sein.
Aber Maria hatte kein Haus für Ihn! Sie war dem Geist nach eine Fremde – wie Er selbst. Sie öffnete Ihm dafür ihr durch den Glauben geheiligtes Herz und gab Ihm darin einen Raum. Sie nahm ihren Platz zu seinen Füssen ein und hörte seinem Wort zu. Sie wusste genau so gut wie ihre Schwester Martha von seiner Müdigkeit, aber sie hatte auch erkannt, dass in Ihm eine Fülle war, die über jede Müdigkeit triumphierte. Und anstatt Ihm mit ihren Händen zu dienen, wollte sie vielmehr von Ihm einen Gewinn für ihr Herz haben. Hierin liegt der Unterschied zwischen den beiden Schwestern. Marthas Auge sah seine Müdigkeit; sie wollte Ihm geben. Marias Glaube erfasste seine Fülle; sie wollte von Ihm empfangen.
Hier wurde nun Geist und Gesinnung des Sohnes Gottes offenbar. Der Herr nahm die Fürsorge Marthas an, solange es sich um ein schlichtes und fleissiges Besorgtsein um seine gegenwärtigen Bedürfnisse handelte; sobald sie sich jedoch mit ihrer Gesinnung in Rivalität zur Einstellung ihrer Schwester Maria brachte, erfuhr sie die Zurechtweisung des Herrn, und sie musste lernen, dass Ihn Maria durch ihren Glauben weit mehr erquickte als sie mit all ihrer Fürsorge es je hätte tun können. Der Glaube Marias stellte dem Herrn gleichsam seine eigene, göttliche Herrlichkeit vor. Nicht, dass Er das nötig gehabt hätte; aber der Glaube Marias erwartete von Ihm, dass Er trotz seiner Ermüdung in der Lage sei, sie zu nähren und zu erfrischen. Sie sass zu seinen Füssen und hörte seinem Wort zu. Da war kein Tempel, kein Licht der Sonne nötig (Off 21,22.23), denn der Sohn Gottes war gegenwärtig, und Er bedeutete ihr alles. Das war eine Ehrung, die Er schätzte. Und in der Tat, wie glückselig war sie in diesem seinem Geheimnis!
Als Er ein anderes Mal durstig und von der Reise ermüdet an der Quelle Jakobs sass, da vergass Er dieses alles, sobald Er lebendiges Wasser austeilen konnte, das kein Schöpfgefäss aus einem anderen Brunnen hervorzubringen vermocht hätte. Bei diesem göttlichen Brunnquell lebendigen Wassers weilte auch Maria hier, um trotz seiner Müdigkeit von Ihm Gebrauch zu machen.
Was für Wahrheiten werden uns hier enthüllt! Unser Gott beansprucht für sich selbst den Platz oberster Gewalt und souveräner Güte. Er will, dass wir Ihm gegenüber Schuldner seien. Dass wir seine Fülle geniessen und wertschätzen, ist Ihm kostbarer als aller Dienst, den wir für Ihn tun können. Obgleich Er grösseren Anspruch erheben könnte als was die ganze Schöpfung Ihm zu geben vermöchte, ist es doch vor allem sein Wunsch, dass wir seine Liebe und seine unergründlichen Reichtümer ausbeuten möchten. Durch unser Vertrauen in Ihn können wir Ihn am meisten ehren; denn es ist ein Bestandteil der göttlichen Herrlichkeit zu geben, zu segnen und aus seiner unerschöpflichen Fülle Gutes für uns hervorkommen zu lassen. Unter dem Gesetz hätte Er von uns empfangen sollen, unter der Gnade aber gibt Er uns.
Unser Herr sagte: «Geben ist seliger als nehmen.» Für alle Ewigkeit will Er diesen Platz, den Platz des Gebers einnehmen; denn «ohne allen Widerspruch wird das Geringere von dem Besseren gesegnet» (Heb 7,7). Gewiss wird Er von allem, was Odem hat, gepriesen werden; aber von Ihm selbst, von dem Thron seiner Herrlichkeit, wird ein beständiger Strom der Segnung ausgehen – Licht zur Freude, Wasser zur Erquickung und die Blätter des Baumes zur Heilung. Und unser Gott wird seine eigene Freude daran finden und seine eigene Herrlichkeit darin entfalten, dass Er für immerdar der Geber bleibt.