Gottes Sohn im vierten Evangelium

Johannes 6,48-51; Johannes 13,1-17

Das Johannes-Evangelium könnte den Titel tragen: «Evangelium des Allerheiligsten». In der Stiftshütte der Juden schien das Licht der Wolke der Herrlichkeit allezeit über dem Allerheiligsten und erfüllte es mit ihrem Glanz. So leuchtet auch im Bericht des Johannes vom Leben des Einen fortwährend die göttliche Herrlichkeit Christi auf die anbetenden Herzen der Leser.

In diesem Evangelium wird der fleischgewordene Sohn Gottes als wie ein durchscheinender Vorhang ausgebreitet. In ihm mischt sich das Blau der himmlischen Herrlichkeit mit dem Scharlach und dem Purpur der messianischen Herrlichkeit, wie auch mit dem Byssus der vollkommenen Menschheit, in einer durch den Heiligen Geist gewirkten, auserlesenen Harmonie.

Das bevorzugte Thema des Evangelisten ist das schöpferische Wort, das Fleisch geworden ist, unter den Menschen wohnte und seine Herrlichkeit offenbarte, die Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater.

Johannes gibt uns die genauen Worte des Herrn wieder, damit wir durch sie den ewigen Sohn und den Vater, den Er zu offenbaren gekommen ist, erkennen möchten. In den anderen Evangelien ist eine Menge von Zeichen und Wundern mit seinem Dienst verbunden. Sie sind die Beglaubigung seiner amtlichen Herrlichkeit. Aber hier enthüllen seine Worte, die aus der Fülle seines Herzens kommen, seine persönliche Herrlichkeit als die des Sohnes im Schoss des Vaters.

Die wenigen Zeichen, von denen Johannes berichtet, sind nur als Vorspiele zu tiefen Entfaltungen von Gnade und Wahrheit durch die holdseligen Lippen des Herrn selbst eingeführt. So bildet zum Beispiel der Bericht über die Speisung der Volksmengen mit einigen Broten und Fischen eine Einleitung zu den grossen Reden des Herrn über sich selbst, als dem lebendigen Brot, das aus dem Himmel gekommen ist, um der Welt das Leben zu geben und es den Seinen zu erhalten (Joh 6).

Erwähnen wir noch ein weiteres Beispiel: Der Bericht, wie der Herr der Herrlichkeit von dem Abendessen aufsteht und sich umgürtet, um sich der niedrigen Arbeit der Fusswaschung seiner Jünger zu unterziehen (Joh 13) ist eine Einleitung zu seinem endgültigen Abschied und zur Unterweisung der Seinen in den Kapiteln, die darauf folgen.

Wie vermöchten wir den Wert dieser Abschiedsworte zu ermessen! Sie nehmen ungefähr einen Sechstel des ganzen Evangeliums ein, und sie teilen in unvergänglichen Ausdrücken mit, dass die an Ihn Glaubenden während seiner Abwesenheit Gegenstände der unaufhörlichen Tätigkeit und zarten Fürsorge des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes sein würden.

Aus tiefstem Herzen danken wir Gott für die reichen Enthüllungen des vierten Evangeliums. Wir mögen darin lesen, wo wir wollen, überall vernehmen wir seine Stimme, die Leben gibt. Wir staunen über seine Sohnesherrlichkeit und werden gedrängt, auszurufen: «Mein Herr und mein Gott!»

In diesem Evangelium ist aber nicht nur seine persönliche Herrlichkeit vor uns ausgebreitet, wir hören darin auch seine Stimme als die Stimme des Sohnes der Liebe des Vaters. Ehemals redete Gott durch heilige Männer auf vielerlei Weise zu den Menschen. In diesem Evangelium dagegen ist Gottes eigener Sohn der Wortführer Gottes. Der ewige Sohn ist das ewige Wort, das den Vater kundmacht.

Und wie zart und lieblich ist die Stimme Jesu, des Sohnes Gottes! Vor alters zerbrach die Stimme des HERRN mit unwiderstehlicher Gewalt die Zedern des Libanon (Ps 29,5), und am Sinai erfüllte jene Stimme die Hörer mit Furcht und Zittern (2. Mo 20,18-20; Heb 12,19-21).

Wie anders heute! Im Evangelium Johannes sind die Worte des Herrn Jesus an uns wie «eine Honigwabe, Süsses für die Seele und Gesundheit für das Gebein» (Spr 16,24; Hld 1,3). Sein Name und der Duft seiner Worte sind wie ein «ausgegossenes Salböl». Das geknickte Rohr zerbrechen sie nicht und den glimmenden Docht löschen sie nicht aus. Sie werben um den Schwächsten und gewinnen den Stärksten, sowohl einen ängstlichen Nikodemus wie auch einen derben Simon.

Dieses Evangelium zeigt uns, wie die Stimme des Sohnes Gottes sich in Gnade jeder Gelegenheit und jeder Lage unter den Menschen anpasste. Wir hören Ihn sprechen in Judäa, in Galiläa und selbst in Samaria; im Tempel in Jerusalem und in der Synagoge in Kapernaum; in den Säulenhallen Salomos und am Jakobsbrunnen; auf dem stürmischen See und an seinem ruhigen Gestade; inmitten der Freude des Hochzeitsfests in Kana und auch am Grab in Bethanien, wo Trauer herrschte; Er redete zu einem reichen Rabbi bei Nacht und zu einem blinden Bettler bei Tage.

Die Worte Jesu, des Sohnes Gottes, waren nicht wie ein scharfes Schwert. Sogar solche, die nicht von seinen Jüngern waren, sagten: «Niemals hat ein Mensch so geredet wie dieser Mensch» (Joh 7,46). Und kein Wunder, die Gnade und die Wahrheit sind durch Ihn geworden. Diese Worte sind besonders im vierten Evangelium für uns aufbewahrt.