In der Nähe des Ölbergs, nicht weit von Jerusalem, befand sich das Dorf Bethanien, wo Martha, Maria und ihr Bruder Lazarus wohnten. Der Herr zog sich gerne an diesen Ort zurück. Die Zuneigung, die Er dort genoss, erfrischte sein Herz, das durch den Unglauben und den Hass der Juden fortwährend betrübt und beschwert wurde. Dort diente Ihm die immer tätige Martha mit Aufopferung, und Maria, zu seinen Füssen sitzend, hörte auf sein Wort. Mit ihr verwirklichte Jesus eine Gemeinschaft, wie Er sie sonst wohl mit keinem der Seinen in so hohem Mass pflegen konnte. Das war auch der Ort, wohin Jesus sich in der letzten Zeit seines Lebens hier auf der Erde für die Nacht zurückzog, als Er durch den Hass der Juden aus Jerusalem vertrieben wurde (Mt 21,17; Mk 11,11; Lk 21,37, und, wie wir in Kapitel 12 sehen, war es auch an diesem Ort, wo Maria seine Füsse mit der kostbaren Narde salbte.
Diese Familie, die so innig mit dem Herrn verbunden und von Ihm geliebt war, wurde durch die Krankheit des Lazarus tief geprüft. Da Jesus nicht zugegen war, sandten Martha und Maria in ihrem Kummer zu Ihm und liessen Ihm sagen: «Herr, siehe, der, den du lieb hast, ist krank.» Sie drängten Ihn nicht zu kommen; sie wussten, dass die Liebe des Herrn keine formelle Einladung brauchte, dass das Wissen um ihr Leid dem göttlichen Freund genügte, um Ihn zu veranlassen, schnell zu kommen und den zu heilen, den Er liebte. Schönes Beispiel vom Vertrauen, das auch wir in seine Liebe haben dürfen, die nicht ihresgleichen hat!
Aber die Schwestern von Lazarus müssen lernen, wie auch wir, dass die Triebfeder des Herrn Jesus in seinem Dienst nicht in erster Linie seine Liebe zu den Seinen war, sondern der Gehorsam seinem Vater gegenüber. Jesus war der vollkommene Mensch, der vollkommene Diener, weil Er immer im Gehorsam voranging und den Willen Gottes vollbrachte. In den Umständen, durch die die Familie von Bethanien ging, war es nicht der Wille Gottes, dass Jesus den Tod von Lazarus verhinderte. Ein grösseres Werk, als das der Heilung sollte vollbracht werden, damit die Herrlichkeit Gottes durch die Auferstehung offenbart werde.
Als Jesus die Botschaft der beiden Schwestern vernahm, antwortete Er: «Diese Krankheit ist nicht zum Tod, sondern um der Herrlichkeit Gottes willen, damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde» (Vers 4). Es war also nicht Gleichgültigkeit, wenn Jesus sich nicht sofort aufmachte; in Vers 5 wird gesagt: «Jesus aber liebte Martha und ihre Schwester und Lazarus.» Vor allen Dingen sollte Gott verherrlicht werden, und Er wiederum wollte durch den Triumph des Lebens über den Tod seinen Sohn verherrlichen. In der Tat, welche Herrlichkeit erglänzt vor diesem Grab für den verachteten und von den Menschen gehassten Sohn Gottes! Der Mensch befand sich unter der Herrschaft des Todes, und Gott wollte die Macht zeigen, durch die Er ihn davon befreien würde. Das konnte Er nicht durch eine Heilung vollbringen, sondern nur dadurch, dass Er seinen Sohn in diese Welt sandte. Er hat Ihm gegeben, Leben in sich selbst zu haben. So sagte Jesus bei der Heilung des Gelähmten von Bethesda, im 5. Kapitel: «Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er selbst tut; und er wird ihm grössere Werke als diese zeigen, damit ihr euch verwundert. Denn wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will» (Joh 5,20.21). Das Werk, das grösser ist als die Heilung des Gelähmten und des kranken Lazarus, ist die Auferstehung aus den Toten.
Nachdem Jesus von der Krankheit des Lazarus Kenntnis genommen hatte, blieb Er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war. Wenn Er auch dem Ruf der Schwestern des Lazarus nicht sogleich folgte, stand sein Herz ihrem tiefen Schmerz, der noch durch die für sie zweifellos unerklärlichen Verzögerung seiner Ankunft vermehrt wurde, keineswegs gleichgültig gegenüber. In seiner vollkommenen Liebe litt Jesus darunter, ihrem Leiden gegenüber unberührt zu scheinen; aber vor allem wollte Er seinem Gott gehorchen. Hatte Er, als Er in die Welt kam, nicht gesagt: «Siehe, ich komme, um deinen Willen zu tun»? (Heb 10,9). Welch ein vollkommenes Beispiel gibt Er uns durch sein Verhalten in dieser Begebenheit, wie auch in allem, was Er tat! Wir müssen in allem zuerst Gott wohlzugefallen suchen, indem wir Ihn bitten, uns seinen Willen wissen zu lassen, bevor wir uns von unseren Zuneigungen, von unserer Sympathie oder von welchen Umständen es auch sein mag, leiten lassen: Sein Wille allein soll uns auf dem Weg des Gehorsams leiten.
Als die zwei Tage vergangen waren, sagte Jesus zu seinen Jüngern: «Lasst uns wieder nach Judäa gehen!» Ohne sich um das Leid der Familie von Bethanien zu kümmern, antworteten Ihm die Jünger: «Rabbi, eben suchten die Juden dich zu steinigen, und wieder gehst du dahin? Jesus antwortete: Hat der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn jemand am Tag wandelt, stösst er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht; wenn aber jemand in der Nacht wandelt, stösst er an, weil das Licht nicht in ihm ist» (Verse 7-10). Für Jesus war die Zeit, in der Er hier auf der Erde den Willen seines Vaters tat, der Tag; Er ging sicheren Schrittes voran, ohne sich durch seine Verbundenheit mit der Familie von Bethanien oder durch den Hass der Juden und den sicheren Tod, der auf ihn wartete, ablenken zu lassen. Nicht allein «sah Er das Licht» als gehorsamer Mensch, sondern Er selbst war das Licht des Lebens. Wenn wir danach trachten, nur den Willen Gottes zu tun, werden auch wir praktisch in dem Licht wandeln, und nichts wird uns davon abbringen können.
Danach wendet sich Jesus zu den Jüngern: «Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken.» Da sie nicht verstanden, dass Jesus damit auf den Tod hindeutete, sagten die Jünger zu Ihm: «Herr, wenn er eingeschlafen ist, so wird er geheilt werden.» Sie begriffen nicht, dass für den, der die Macht hatte, die Toten aufzuerwecken, der Tod nur ein Schlafen bedeutet; denn ebenso wenig wie Martha und Maria kannten Ihn die Jünger als die Auferstehung und das Leben. «Dann nun sagte ihnen Jesus geradeheraus: Lazarus ist gestorben; und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht dort war, damit ihr glaubt; aber lasst uns zu ihm gehen!» (Verse 11-15). Jesus freute sich beim Gedanken an den Gewinn, den die Jünger davon haben würden, wenn sie sehen, wie die Macht des Lebens sich im Bereich des Todes entfaltet. Das sollte sie dazu führen, an Ihn zu glauben, nicht mehr nur als an den Messias, sondern als an den Sohn Gottes, der gekommen ist, um das Leben in den Bereich des Todes zu bringen.