Meine Speise

Johannes 4,1-42

Gott, der Sohn, lebt und wandelt und leidet als wahrer Mensch hier auf der Erde! Erhabener Anblick für das Herz des Gläubigen, der Ihn von Bethlehem an mit ehrfürchtigen Blicken begleitet und auf alle Worte lauscht, die über seine Lippen gekommen sind!

Er selbst sagte: «Aus der Fülle des Herzens redet der Mund» (Mt 12,34). Wenn wir diesen Grundsatz auf Ihn selbst anwenden, wie verraten dann seine Äusserungen, was auf seinem Erdenlauf sein Inneres erfüllte!

Welch tiefen Einblick in sein göttliches Herz gibt uns auch sein Ausspruch: «Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe.» Lasst uns einen Augenblick über diese Worte in Johannes 4 nachsinnen und dabei beachten, in welchem Zusammenhang Er sie geäussert hat!

Nach langer Wanderung auf staubigen Wegen unter der sengenden Sonne Palästinas ist Jesus mit seinen Jüngern bei einer Quelle angelangt. Er ist ermüdet von der Reise, durstig und hungrig. Als wahrer Mensch empfand Er dieses alles ebenso wirklich wie seine Jünger, die der Hunger in die Stadt trieb, um Speise zu kaufen (Vers 8).

Nur zu gut könnten wir begreifen, wenn Er jetzt, bis seine grossen leiblichen Bedürfnisse gestillt sind, für einige Augenblicke nicht mehr für die Anliegen anderer zu sprechen wäre. Das ist es doch, was uns so oft im Dienst hindert.

Er aber sieht von der Stadt her eine Frau mit einem Krug zum Brunnen kommen und weiss, dass ihr Herz nach einem anderen Wasser schreit, das seinen Durst endlich zu löschen vermöchte. Sogleich ist sein ganzes Interesse darauf gerichtet, dieser Seele zu helfen.

Wie zart nimmt Er den Kontakt auf mit ihr! Er bittet sie um einen Trunk Wasser. Es ist Ihm vor allem darum zu tun, mit ihr ins Gespräch zu kommen; wir lesen nichts davon, dass sie seiner Bitte entsprochen hätte. Vielleicht hat sie diese über der Unterredung, die sie im Innersten packt, vergessen.

Diese Frau, die in ihrem bisherigen Leben so vieles «getan hat», was sie selbst vor den Menschen zu einem tief gesunkenen Geschöpf stempelte, fasst Vertrauen zu diesem Mann, der da bei der Quelle sitzt. Er ist so ganz anders als die Juden, die in ihrem religiösen Hochmut verächtlich und feindselig auf die Samariter herabschauten. Dieser da ist so demütig und doch so hoheitsvoll, so heilig und doch von so unbeschreiblicher Güte! Sie merkt, Er sucht ihr Bestes.

In Aufrichtigkeit öffnet sie ihr Herz seinen Worten der Gnade und der Wahrheit. Er deckt zwar ihr Sündenleben auf, bringt ihr aber auch Kunde von dem, was ihr Gott durch Ihn, in dem sie einen Propheten (Vers 19) und schliesslich den Christus erkennt (Vers 29), zu geben hat: lebendiges Wasser, das den Durst der Seele auf ewig stillt, eine Quelle Wassers, das ins ewige Leben quillt.

Da Frau kann zwar die unermesslichen geistlichen Reichtümer noch nicht fassen, die ihr jetzt durch Glauben an das Wort des Christus zuteilgeworden sind, aber das wenige schon, das sie von dem lebendigen Wasser getrunken hat, erfüllt sie mit einer unbeschreiblichen Freude des Heils. In einem plötzlichen Verlangen, dies anderen mitzuteilen, lässt sie ihren Wasserkrug stehen und geht weg in die Stadt. Hat sie ihn vergessen oder nimmt sie ihn nicht mit, weil sie eilen will?

Noch ein anderes Herz überfliesst: das Herz des Einen, der gekommen ist, den Menschen Gnade zu bringen. Die zurückgekehrten Jünger wundern sich, dass Er mit einer solchen Frau, einer Samariterin redet. Wissen sie noch nicht, dass kein Mensch, auch der beste Jude nicht, ein Anrecht hat auf den Segen, den Christus brachte?

Sie bitten Ihn: «Rabbi, iss!» Er aber spricht zu ihnen: «Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt.» Die Jünger denken hier nur an das Irdische und fragen sich: «Hat ihm wohl jemand zu essen gebracht?» Jesus antwortet: «Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe» (Verse 31-34).

Dieser demütige, ermüdete Wanderer an der Quelle Jakobs war der «Eingeborene vom Vater». Gott hatte Ihn, der «voller Gnade und Wahrheit» ist, herabgesandt, um hier im Fleisch das grosse Werk der alles Denken übersteigenden Gnade Gottes zu vollbringen. Nur diese Gnade konnte den Menschen noch erretten, nachdem dieser in der Geschichte des Volkes Israel vor Gott bewiesen hatte, dass er nicht imstande war, das durch Mose gegebene Gesetz zu halten und zu tun.

Aber – wer kann es verstehen? – die damaligen Juden verwarfen diese wunderbare Gnade und auch den göttlichen Gesandten, in dem sie ihnen in unumschränkter, unermesslicher Fülle angeboten wurde! Sie verschlossen ihre Augen vor dem Licht der Welt, das ihren völlig verdorbenen Zustand blosslegte, und wollten in hochmütiger Anmassung auf dem Boden des Gesetzes verharren, das sie doch unter den Fluch gebracht hatte! Sie demonstrierten vor den Menschen eine Gesetzestreue, die vor Gott gar nicht vorhanden war! Welche Heuchelei!

Wie ganz anders verhielt sich diese arme, so tief gefallene Frau aus dem verachteten Samaria! Als das Licht in ihr Gewissen drang, erhob sie keinen Einwand. Sie suchte ihren sündigen Zustand nicht zu verschleiern. Demütig beugte sie sich unter diese Tatsache. Dann aber begann sie im Glauben begierig zu trinken aus der göttlichen Quelle der Gnade, die in der Person Jesu Christi bis zu ihr hin gekommen war. Dadurch hatte diese Sklavin der Sünde Ihn selbst aufgenommen und war so in die Stellung eines Kindes Gottes, einer Anbeterin des Vaters erhoben worden.

An den Menschen, ja, an einer einzigen Seele ein solches Werk der Gnade zu vollbringen, war für das Herz unseres Herrn erquickende Speise. Es hungerte Ihn danach, den Willen dessen zu tun, der Ihn gesandt hat, und so Gemeinschaft mit dem Gott zu haben, der die Menschen so unendlich liebt, dass Er Ihn, seinen eingeborenen Sohn, für sie gab. Und auf seinem Gang durch die Welt hungerte den Herrn Jesus auch selbst danach, Menschen zu finden, an denen Er das Werk der Gnade vollbringen konnte. Hat Er es nicht dadurch bewiesen, dass Er schliesslich alles, ja sogar sich selbst für uns hingegeben hat? Anbetungswürdiger Herr!

Nun erwartet Er von denen, die seine Gnade erfahren haben, dass sie, gedrängt von seiner Liebe, an diesem Werk der Gnade mithelfen. Da Frau von Sichar tat es ungeheissen. Um ihres schlichten Zeugnisses willen glaubten viele von den Samaritern an Ihn. Ja, es entstand in jener Stadt eine ganze Erweckung.

Die Jünger aber, deren Herz noch durch gesetzliche und jüdische Erwägungen verengt war, musste der Herr auffordern, ihren Blick auf die Felder zu erheben, die «weiss zur Ernte» sind. Was die Propheten geweissagt hatten, war nun erfüllt. In Christus Jesus war die Gnade Gottes erschienen, die von jetzt an in der ganzen Welt verkündigt werden sollte. In seinem Geist sah der Herr alle die Menschenseelen vor sich, die das Evangelium der Gnade annehmen würden.

Wer an dieser Ernte mitwirkt und auf den Feldern der Welt die Frucht der Gnade, die in Christus Jesus ist, einsammeln hilft, empfängt Lohn. Worin besteht er? Wir dürfen jetzt schon und auf ewig teilhaben an der Freude des Vaters und des Sohnes über jeden Sünder, der Buße tut und zur Ernte der Gnade gehört. Auch die treuen Propheten, die «gesät» haben, indem sie im Voraus von der Gnade gegen uns weissagten, werden sich mitfreuen.

«Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt», musste der Herr damals zu den Jüngern sagen, die aber später eifrige Boten des Evangeliums der Gnade wurden.

Und wir? Kennen wir diese Speise? Hungern wir danach, auf irgendeine Weise den Menschen die Gnade in Christus zu verkündigen?