Kurz vor seinem Abscheiden verfasste Mose für das Volk Israel ein sehr bemerkenswertes Lied, von dem er sagte: «Und es wird geschehen, wenn viele Übel und Drangsale es treffen, so wird dieses Lied Zeugnis gegen es ablegen; denn es wird nicht vergessen werden aus dem Mund seiner Nachkommen» (5. Mo 31,21).
Das Lied selbst finden wir in 5. Mose 32,1-43. Im Anfangsabschnitt (Verse 1-14) ist die einzig dastehende Ausnahmestellung, die Gott diesem Volk inmitten aller Völker der Erde einräumte, klar festgelegt: «Als der Höchste den Nationen das Erbe austeilte, als er voneinander schied die Menschenkinder, da stellte er die Grenzen der Völker fest nach der Zahl der Kinder Israel. Denn des HERRN Teil ist sein Volk, Jakob die Schnur seines Erbteils» (Verse 8 und 9).
Das Lied beschreibt dann die ebenso zärtliche wie mächtige Fürsorge Gottes für dieses sein Volk und die Segnungen, mit denen Er es überschüttete. Darauf aber folgt die Klage über den anhaltenden Abfall Israels von der Nachfolge des HERRN, über sein Sich-Hinwenden zum Götzendienst. Dann geht es über zu der erschütternd ernsten Beschreibung der göttlichen Gerichte, die hier angedroht, später aber völlig ausgeführt worden sind (Verse 20-35).
Trotz allem wird Gott Israel niemals den Garaus machen. Wenn Er dem Volk seine eigene Macht bewiesen hat, wird Er dem Volk am Ende vergeben und zu dessen Gunsten eintreten: «Denn der HERR wird sein Volk richten (oder seinem Volk Recht verschaffen), und er wird es sich gereuen lassen über seine Knechte, wenn er sehen wird, dass geschwunden die Kraft, und der Gebundene und der Freie dahin sind» (Vers 36).
Im letzten Vers ergeht sogar die Aufforderung an die Nationen, mit seinem Volk zu jubeln, «denn er wird das Blut seiner Knechte rächen und Rache erstatten seinen Feinden, und seinem Land, seinem Volk, vergeben» (Vers 43). Wunderbarer, unwandelbar treuer Gott! Sowohl seine ernsten Regierungswege als auch seine tiefen Erbarmungen können kaum deutlicher und schöner dargestellt werden, als durch seine Wege mit Israel, seinem irdischen Bundesvolk.
Selbst in den dunkelsten Zeiten der Geschichte Israels hat Gott über dieses Volk und über dessen Land gewacht. Er hat Israel vor dem Untergang bewahrt und das Land für das Volk aufgespart.
Gleichwohl hat Er, gemäss der Weissagung von Hosea, seine Verbindung mit dem Volk für eine Zeit abgebrochen: «Gib ihr den Namen Lo-Ruchama (d.h. «Nicht-Begnadigte»); denn ich werde mich fortan des Hauses Israel nicht mehr erbarmen, dass ich ihnen irgendwie vergebe.» Weiter lesen wir dort: «Gib ihm den Namen Lo-Ammi (d.h. «Nicht-mein-Volk»); denn ihr seid nicht mein Volk und ich will nicht euer sein» (Hos 1,6-9).
Dem Überrest aus den Stämmen Juda und Benjamin, der zur Zeit Kores aus der babylonischen Gefangenschaft zurückkehrte, wurde später in der Person unseres Herrn Jesus Christus der Retter vorgestellt, der «ein Diener der Beschneidung geworden ist um der Wahrheit Gottes willen, um die Verheissungen der Väter zu bestätigen» (Röm 15,8). Er kam in das Seine und die Seinen nahmen Ihn nicht an (Joh 1,11). Er wurde von seinem eigenen Volk verworfen und gekreuzigt.
Gott aber hat durch den Sühnungstod unseres Herrn für unzählige Menschen die Grundlage zur Begnadigung gelegt, wie auch zur Vergebung der Schuld Israels und zur späteren Wiederherstellung des Volkes. Gott sei gepriesen! Das Blut Jesu Christi ist für dieses Volk «das Blut des neuen Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden» (Mt 26,28). Für die heute an Christus glaubenden Juden ist das Urteil Hoseas aufgehoben, gemäss dem Wort des ersten Petrusbriefs: «Die ihr einst ‹nicht ein Volk› wart, jetzt aber ein Volk Gottes seid; die ihr ‹nicht Barmherzigkeit empfangen hattet›, jetzt aber Barmherzigkeit empfangen habt» (1. Pet 2,10).
Das heutige Aufblühen des Staates Israel, das so gerne auf Bildern gezeigt wird, darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass das vorhin erwähnte Urteil Gottes über das Volk noch zu Recht besteht: Er hat noch keine Beziehungen mit ihm aufgenommen. Entsprechend dem Lied Moses wird Gott dem Überrest einst zu Hilfe eilen, jedoch nicht, solange sich dieser in einem Zustand vermeintlicher Kraft befindet, sondern erst, «wenn er sehen wird, dass geschwunden die Kraft, und der Gebundene und der Freie dahin sind» (5. Mo 32,36).
In seiner vergangenen Geschichte hat das Volk Israel sehr wichtige Erfahrungen gemacht, woraus es vor allem die absolute Zuverlässigkeit des Wortes erkennen könnte. Schon Mose hat dies als Prophet vorausgesagt: «Und es wird geschehen, wenn alle diese Worte über dich kommen, der Segen und der Fluch, die ich dir vorgelegt habe, und du es zu Herzen nimmst unter all den Nationen, wohin der HERR, dein Gott, dich vertrieben hat, und umkehrst zu dem HERRN, deinem Gott, und seiner Stimme gehorchst nach allem, was ich dir heute gebiete, du und deine Kinder, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele – so wird der HERR, dein Gott, deine Gefangenschaft wenden und sich deiner erbarmen; und er wird dich wieder sammeln aus allen Völkern, wohin der HERR, dein Gott, dich zerstreut hat» (5. Mo 30,1-3).
In jenem Kapitel folgt dann eine wunderbare Beschreibung des zukünftigen Segens des wiederhergestellten Volkes und daran anschliessend das wohlbekannte Wort: «Denn dieses Gebot, das ich dir heute gebiete, ist nicht zu wunderbar für dich und ist nicht fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen könntest: Wer wird für uns in den Himmel steigen und es uns holen und es uns hören lassen, damit wir es tun? Und es ist nicht jenseits des Meeres, dass du sagen könntest: Wer wird für uns jenseits des Meeres hinüberfahren und es uns holen und es uns hören lassen, dass wir es tun? Sondern sehr nahe ist dir das Wort, in deinem Mund und in deinem Herzen, damit du es tust» (5. Mo 30,11-14).
In Römer 10, wo dieser Ausspruch angeführt wird, verbindet der Geist Gottes das Gebot, d.h. das geschriebene Wort Gottes mit Christus, dem lebendigen Wort Gottes. Zur Wiederherstellung Israels, die in der Zukunft stattfinden wird, war es notwendig, dass Christus
- erstens vom Himmel herabkam – dies ist geschehen, der Überrest wird nicht darum zu bitten haben –,
- zweitens, dass Er in den Tod hinabstieg und auferstand.
Auch dies ist eine erfüllte Tatsache, so dass jetzt Gott sein grosses Heil jedem «sehr nahe» bringen kann: Es ist «in deinem Mund und in deinem Herzen», sagt Mose. Wenn der Überrest aus Israel einst sein ganzes Herz gläubig dem Wort Gottes zuwendet, wird er auf diesem Weg Christus und seiner grossen Errettung begegnen, die schon vollbracht ist.
Was Gott je und je von seinem Volk erwartete und auch heute noch erwartet, ist dies, dass es sein Wort gläubig annimmt und Ihm gehorcht. Heute noch fehlt dies bei ihm. Schon zur Zeit unseres Herrn gefielen sich die Schriftgelehrten in törichten Streitfragen und Geschlechtsregistern, in Zänkereien und Streitigkeiten über das Gesetz, obwohl diese unnütz und wertlos sind (Tit 3,9). Sie hatten um ihrer Überlieferung willen das Gebot Gottes ungültig gemacht, in einer solchen Weise, dass der Herr die Weissagung Jesajas über sie anwenden musste: «Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von mir. Vergeblich aber verehren sie mich, indem sie als Lehren Menschengebote lehren» (Mt 15,1-9). Beispiele von solcherlei Überlegungen der Schriftgelehrten finden wir in der letzten grossen Rede unseres Herrn, in der Er über sie das Urteil spricht. (Siehe Matthäus 23, besonders die Verse 16-25.)
Im heutigen Staat Israel gehört nur ein kleiner Teil der Bevölkerung zu den «Orthodoxen» die sich noch an das Alte Testament halten. Vor allem aber stützen sich diese Leute auf den Talmud, auf das umfangreiche Werk der jüdischen Tradition, durch die die Juden das Gebot Gottes leider meisterhaft zu umgehen wissen und unwirksam machen. Werden uns heute Bilder über Israel gezeigt, so erscheinen darin gewöhnlich auch ehrwürdige, gelehrte Männer mit Vollbart, die sich lebhaft über Abschnitte der traditionsmässigen Anwendung des Gesetzes unterhalten. Könnten wir mit ihnen reden, würden wir ihnen gerne in Achtung und Liebe sagen: Nicht das ist es, was Gott, den ihr zu verehren trachtet, von euch wünscht. Er möchte vielmehr, dass ihr eure Herzen einfältig und gläubig seinem Gebot zuwendet, wie Er es euch durch Mose, seinen Knecht, hat verkündigen lassen. Auf diesem Weg würde Er euch begegnen, wie Er es nach seiner Verheissung in 5. Mose 30,1-3 später auch tun wird.
Heute besteht die Gefahr, dass sich sogar gläubige Christen – denn wer hätte mehr liebendes Interesse für Israel als diese – täuschen lassen über den wahren Geisteszustand der heutigen Bewohner des Landes Israel, wovon der grösste Teil völlig ungläubig, teilweise sogar atheistisch und dem Wort Gottes gegenüber ganz und gar gleichgültig ist. Das wohlwollende Entgegenkommen gegenüber den zahlreichen christlichen Besuchern der sogenannten heiligen Stätten dort hat alles andere als christusfreundliche Gründe. In einem Stück sind sich doch die Juden dort heute alle einig: in ihrer Ablehnung, ja in ihrem Hass gegenüber dem über alles kostbaren Namen Jesus Christus, unseres Herrn. Unter den Auswirkungen eines solchen Geistes wird der gläubige Überrest später in erschreckender Weise zu leiden haben (siehe Mk 13,12.13).
Kann sich der wahre Christ, der den Herrn Jesus liebt, über die Ablehnung oder gar Schmähung des Namens seines Herrn einfach hinwegsetzen? Denken wir doch an das ernste Wort des Apostels in 1. Korinther 16,22: «Wenn jemand den Herrn Jesus Christus nicht lieb hat, der sei verflucht.»
Auch dürfen wir den Wegen der Regierung Gottes mit seinem irdischen Bundesvolk nicht vorauseilen. Das prophetische Wort, sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments, gibt uns genug klares Licht über die Zustände unter dem kommenden Antichristen und über die grosse Drangsal der Endzeit vor der Aufrichtung des Reiches, als dass wir uns durch die gegenwärtige Prosperität im Land Israel täuschen lassen könnten. (Man lese z.B. Matthäus 24 und 2. Thessalonicher 2.) Wir wissen, dass am Tag der Erscheinung des Herrn sowohl in Judäa als auch in Jerusalem ein gläubiger Überrest bestehen wird, was zum Beispiel in Sacharja 12 und 14 deutlich vorausgesagt ist. Matthäus 24,31 zeigt uns aber auch, dass ein grosser Teil der Auserwählten des Reiches beim Erscheinen des Herrn in Herrlichkeit von allen vier Himmelsrichtungen her durch seine Engel gesammelt werden. Diese werden also erst dann ins Land Israel zurückkehren.
Richtunggebend für unsere Wünsche und unser Streben im Blick auf das heutige Israel darf und soll das Wort des Apostels Paulus in Römer 11,13.14 sein: «Euch aber, den Nationen, sage ich: Insofern ich nun der Apostel der Nationen bin, ehre ich meinen Dienst, ob ich auf irgendeine Weise sie, die mein Fleisch sind, zur Eifersucht reizen und einige von ihnen erretten möge». Wir können nach keiner Seite hin von der geraden Linie des Wortes abweichen. Lasst uns in dieser Hinsicht das klare Zeugnis von Petrus vor den Obersten und Ältesten des Volkes Israel beachten, dem wir uns noch heute voll anschliessen können:
«Wenn wir heute wegen einer Wohltat an einem kranken Menschen verhört und gefragt werden, durch wen dieser geheilt worden ist, so sei euch allen und dem ganzen Volk Israel kund, dass in dem Namen Jesu Christi, des Nazaräers, den ihr gekreuzigt habt, den Gott auferweckt hat aus den Toten, dass durch ihn dieser gesund vor euch steht. Dieser ist der Stein, der von euch, den Bauleuten, verachtet, der zum Eckstein geworden ist. Und es ist in keinem anderen das Heil, denn es ist auch kein anderer Name unter dem Himmel, der unter den Menschen gegeben ist, in dem wir errettet werden müssen» (Apg 4,9-12).