Dieses Gleichnis, wie auch das des «ungerechten Richters» (Verse 1-8), handelt vom Gebet. Es stellt einen selbstgerechten Pharisäer einem Zöllner gegenüber, der sich seines sündigen Zustandes bewusst ist.
Der ungerechte Richter «fürchtete Gott nicht und scheute sich vor keinem Menschen». Der Pharisäer fürchtete Gott ebenso wenig, wollte aber einen frommen Schein von Gottesfurcht erwecken und betete im Tempel. In Wirklichkeit vertraute er jedoch nicht auf Gott, sondern auf sich selbst. Wenn er sich selbst für «gerecht» hielt, was brauchte er da noch Gott? Er war also ein Mensch, der Gott völlig fremd war und dessen Wesen nicht kannte, obwohl er öffentlich bekannte, enge Beziehungen zu Ihm zu haben. Dafür aber schrieb er sich selbst eine Gerechtigkeit zu, die Gott allein besitzt, und machte aus sich selbst – vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein – einen Mittelpunkt, den man doch nur in Gott findet. In Wirklichkeit lebte er ohne Ihn. Das führte ihn dazu, kühn vor Gott hinzutreten und sein Eigenlob auszusprechen.
Aufgrund seiner ausgezeichneten Meinung von sich selbst nahm er gegenüber den Menschen eine noch verwerflichere Haltung ein als der ungerechte Richter, der sich vor keinem Menschen scheute. Der Pharisäer hielt die übrigen der Menschen für nichts.
Die Selbstgerechtigkeit ist nichts anderes, als Hochmut in einer religiösen Form, und ist dadurch noch viel hässlicher als der Hochmut des Unglaubens. Er betrachtet sich inmitten des Verfalls der übrigen Menschen als ein überragendes Standbild und verachtet sie alle.
Der arme Zöllner aber ist sich bewusst, dass er vor Gott steht, und er fürchtet Ihn. Diese Furcht hasst die Sünde und ist der Weisheit Anfang. Der Zöllner stellte sich, ohne dazu gezwungen worden zu sein, an den letzten Platz, an den Platz, den ihm der Hochmut des Pharisäers bezeichnet hatte. Er stand «von fern», im Bewusstsein, dass die Sünde ihn von Gott trennte. Er «wollte sogar die Augen nicht erheben zum Himmel», denn er hielt sich für völlig unwürdig, sich an Gott zu wenden. Er «schlug sich an die Brust», im Gefühl seiner Schuld, aber durchdrungen von echter Buße.
In diesem Zustand sah er nur zwei Möglichkeiten vor sich: entweder den verdienten Zorn Gottes, oder aber sein Erbarmen, dessen er sich unwürdig fühlte, das aber allein ihn noch retten konnte.
Er «ging gerechtfertigt hinab in sein Haus vor jenem», obwohl er auf seine dringende Anrufung Gottes noch keine Antwort erhalten hatte. Aber er trug aus der Gegenwart Gottes die Überzeugung davon, dass nur die Gnade ihn vor dem Zorn in Sicherheit setzen konnte, und dass Gnade und Gericht aus derselben Quelle kommen.
Hat dieses Gleichnis nicht auch uns etwas zu sagen, wenn es auch keineswegs den Zustand beschreibt, in den die Gnade uns Christen versetzt hat?
Weder die eine noch die andere der beiden Persönlichkeiten, von denen es spricht, sind ein Bild von dem, was wir sind. Ein Selbstgerechter kann ein Bekenner im Sinn des Pharisäers sein, aber er kann niemals ein wahrer Christ sein. Auch der Zöllner stellt nicht den Christen dar, dessen eigentliches Wesen darin besteht, durch Glauben an Christus von aller Sünde gerechtfertigt zu sein. Aber wir finden hier eine praktische Unterweisung, die wir oft zu wenig beachten, und die im 14. Vers in das Wort zusammengefasst ist: «Jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer aber sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.»
Der Pharisäer erhebt sich und hält die übrigen für nichts; der Zöllner erniedrigt sich. Fragen wir uns, welcher von den beiden das Spiegelbild unseres eigenen Zustandes sei! Kein wahrer Christ wird so reden wie dieser Pharisäer. Aber begegnet man vielleicht Christen, die auf ihre Gaben oder ihre geistlichen Fähigkeiten vertrauen und auf andere herabschauen, die sie als weniger fähig einschätzen, als sich selbst? Sie sind nicht selbstgerecht wie der Pharisäer, aber teilen seinen religiösen Hochmut mit ihm, der, wie wir gesehen haben, der Selbstgerechtigkeit zugrunde liegt. Ein solcher Hochmut ist sich des eigenen Wertes bewusst und schätzt die übrigen keineswegs höher ein als sich selbst.
Der Zöllner seinerseits hat nicht die Meinung, etwas zu sein und vergleicht sich nicht mit anderen, weil er Gott zum Wertmesser nimmt und weiss, dass er ein Nichts ist vor der Vollkommenheit des Gottes, der alles beurteilt.
Das ist die Lektion, die der Herr uns heute gibt. Wir neigen sehr leicht dazu, den Pharisäer zu richten, aber lasst uns daran denken, dass der religiöse Hochmut, die gute Meinung über uns selbst, der Selbstgerechtigkeit sehr ähnlich ist. Der Zöllner war frei davon, und das ist die Lehre, die er uns erteilt, uns, die wir durch das Evangelium in der Erkenntnis der Gunst des Gottes der Liebe viel weiter vorgedrungen sind.
Nehmen wir also diese Unterweisung zu Herzen, denn das Pharisäertum schleicht sich so leicht in unsere Beziehungen zu unseren Brüdern ein! Wer sich hoch einschätzt, ist immer in Gefahr, seine Brüder für nichts zu achten und sehr tief zu fallen.