Eine Einführung in die Psalmen

Die Psalmen gehören zum inspirierten Wort Gottes und dienen zu unserer Belehrung (Röm 15,4). Wenn wir sie lesen, stossen wir auf Aussagen, die uns direkt ansprechen und ermutigen. Andere Psalmworte hingegen finden wir schwierig oder können sie kaum auf unser Glaubensleben übertragen. Vielleicht helfen die vorliegenden Gedanken und Hinweise, die Psalmen besser zu verstehen, damit wir noch einen grösseren geistlichen Nutzen aus ihnen ziehen.

Ein poetischer Charakter

Die Schriften des Alten Testaments können aufgrund ihres Charakters in drei Gruppen eingeteilt werden: Es gibt geschichtliche, poetische und prophetische Bibelbücher. Als der Herr Jesus seinen Jüngern erklärt, «dass alles erfüllt werden muss, was über mich geschrieben steht in dem Gesetz Moses und den Propheten und Psalmen» (Lk 24,44), macht Er auch eine Einteilung. Mit den «Psalmen» meint Er die poetischen Bücher des Alten Testaments, zu denen das Buch Hiob, alle fünf Psalmbücher, das Buch der Sprüche, das des Predigers und das Hohelied gezählt werden.

Dieser besondere Charakter der Psalmen zeigt sich auf verschiedene Weise:

  • Es gibt Psalmen, die ein dichterisches Kunstwerk sind. Psalm 119 zum Beispiel enthält 22 Abschnitte entsprechend der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets. Die Anfangsbuchstaben der einzelnen Abschnitte folgen im Hebräischen der alphabetischen Ordnung, und zwar beginnen alle acht Verse jedes Abschnitts mit demselben Buchstaben. Diese hohe Dichtkunst hat Gott in sein inspiriertes Wort aufgenommen.
  • Die Ausdrucksweise in den Psalmen ist oft poetisch. Mit Vergleichen aus der Natur wird das Handeln Gottes oder der geistliche Zustand der Seinen beschrieben. In Psalm 77,20 betet Asaph zu Gott: «Im Meer ist dein Weg, und deine Pfade sind in grossen Wassern, und deine Fussstapfen sind nicht bekannt.» Damit drückt er aus, dass der Gläubige die Wege, die Gott mit ihm geht, oft nicht erkennen und verstehen kann, so wie ein Weg im Meer nicht sichtbar ist. Ein anderes Beispiel finden wir in Psalm 1,3. Dort wird der Gottesfürchtige, der sich vom Bösen absondert und sich mit dem Wort Gottes beschäftigt, mit einem grünen, fruchtbaren Baum verglichen.
  • Manchmal steht in der Überschrift, auf welches geschichtliche Ereignis sich der Psalm bezieht. Der Dichter beschreibt jedoch nicht die äusseren Umstände, sondern seine inneren Gefühle in dieser Situation: seine Hoffnungen, seine Befürchtungen, seine Sorgen und seine Freuden. Wir erfahren auch etwas von seiner verborgenen Beziehung zu seinem Gott. Viele Psalmen sind Gebete, in denen der Dichter sein Herz vor Gott ausschüttet, das Vertrauen auf Ihn setzt und die Gemeinschaft mit Ihm pflegt. Auch dieser Aspekt – dass die Psalmen mehr die Empfindungen ausdrücken – gehört zum besonderen Charakter dieses Bibelbuchs.

Eine alttestamentliche Heilszeit

Die Psalmen wurden in der Zeit des Gesetzes geschrieben, als Gott den Menschen erprobte und dem Volk Israel einen besonderen Platz auf der Erde gab. Wir leben in der Zeit der Gnade, kennen das vollbrachte Erlösungswerk des Herrn Jesus und sind Himmelsbürger. Darum können wir nicht jede Aussage in den Psalmen direkt auf uns übertragen. Es gibt einige Unterschiede, die es zu beachten gilt:

  • Die Gläubigen im Alten Testament besassen nicht die Heilssicherheit, die wir kennen, weil das Werk am Kreuz noch nicht geschehen war. Wenn sie gesündigt hatten, bekamen sie Zweifel, ob Gott sie nun verwerfen würde. So betete David in Psalm 51,13: «Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und den Geist deiner Heiligkeit nimm nicht von mir!» Das ist nicht unsere Sprache, denn wir wissen: «Also ist jetzt keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind» (Röm 8,1).
  • Die Gottesfürchtigen zur Zeit des Gesetzes riefen zu Gott um Rache an ihren Feinden: «Lass sie büßen, o Gott; mögen sie fallen durch ihre Pläne! Stosse sie weg wegen der Menge ihrer Übertretungen, denn sie sind widerspenstig gegen dich gewesen» (Ps 5,11). Das war damals nicht verkehrt. Aber in unserer Zeit gilt der Geist der Gnade: «Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet die, die euch fluchen; betet für die, die euch beleidigen» (Lk 6,27.28).
  • Die Menschen aus dem Volk Israel besassen eine irdische Hoffnung. Sie erwarteten das Friedensreich des Messias auf der Erde, wie es David in Psalm 37,11 ausdrückt: «Die Sanftmütigen werden das Land besitzen und werden sich ergötzen an Fülle von Frieden.» Im Gegensatz dazu haben wir als gläubige Christen eine himmlische Hoffnung. Der Apostel Paulus erklärt es uns: «Unser Bürgertum ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten, der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit seinem Leib der Herrlichkeit» (Phil 3,20.21).
  • Die Gläubigen zur Zeit des Alten Testaments wussten fast nichts über das, was nach dem Tod folgt. Ihre Sichtweise und ihre Hoffnung betrafen das Leben auf der Erde. Es war für sie ein besonderer Segen Gottes, wenn sie lange lebten. Dementsprechend betete David, als er sich in Todesgefahr befand: «Kehre um, HERR, befreie meine Seele; rette mich um deiner Güte willen! Denn im Tod erinnert man sich nicht an dich; im Scheol, wer wird dich preisen?» (Ps 6,5.6). Durch den Tod und die Auferstehung des Herrn Jesus besitzen wir eine Perspektive über den Tod hinaus. Die Entschlafenen sind bei Christus im Paradies (Phil 1,23; Lk 23,43). Wenn Er wiederkommt, wird Er sie auferwecken und sie mit den verwandelten Lebenden zu sich in den Himmel entrücken. «So werden wir allezeit bei dem Herrn sein» (1. Thes 4,13-18).

Beim Lesen und Erforschen der Psalmen gilt es diese Unterschiede im Auge zu behalten, damit wir nicht auf falsche Gedanken kommen, sondern einen geistlichen Gewinn haben.

Eine prophetische Zielrichtung

Der Schwerpunkt der Psalmen liegt auf der Prophetie. Was die Dichter der Psalmen unter der Leitung des Geistes Gottes zum Ausdruck bringen, ist einerseits die Sprache des gläubigen Überrests aus Israel in der Zukunft. Anderseits hören wir in den Psalmen, wie Christus prophetisch über seine Leiden und seine Herrlichkeit spricht (Joh 5,39; 1. Pet 1,11).

  • Die gläubigen Juden befinden sich während der kommenden Drangsalszeit in einer ähnlichen Stellung wie die Schreiber der Psalmen. Sie glauben an Gott und erwarten den Messias. Doch sie besitzen noch nicht die völlige Gewissheit, dass sie von Gott angenommen sind. Es fehlt ihnen die Kenntnis der segensreichen Auswirkungen des Opfertodes, den Christus am Kreuz erduldet hat. Ausserdem ist ihre Hoffnung auf das irdische Leben ausgerichtet. So passen viele Aussagen der Psalmen bestens zur Situation und zum Zustand der Gläubigen aus Israel in der Zukunft. Sie bringen ihre Empfindungen in der Bedrängnis zum Ausdruck und beschreiben ihre innere Not, die sie vor Gott ausschütten. Die Psalmen zeigen auch die geistliche Entwicklung, die diese treuen Juden durchlaufen, bis sie innerlich für das Kommen des Herrn Jesus in Herrlichkeit bereit sind.
  • Viele prophetische Aussagen in den Psalmen beziehen sich jedoch in erster Linie auf Christus. Sie betreffen sowohl sein erstes Kommen in Demut und Armut als auch sein zweites Kommen in Macht und Herrlichkeit. Während die Evangelien vor allem die äusseren Ereignisse seines Lebens und seines Todes schildern, beschreiben die Psalmen seine inneren Empfindungen. Wir erfahren aus ihnen, wie der Herr Jesus unter dem Hass und der Verachtung der Menschen litt (Ps 69), wie Er als Mensch eine Beziehung zu Gott pflegte (Ps 16) und was Er am Kreuz empfand, als Ihn der heilige Gott verliess (Ps 22). Wir lernen aus den Psalmen auch, was es für Ihn sein wird, wenn Er als Richter und Herrscher auf der Erde erscheinen wird, um zu seinem Recht zu kommen (Ps 45; Ps 110). Neben jenen Psalmen, die sich umfänglich auf Christus beziehen, gibt es auch Psalmen mit einzelnen Aussagen über Ihn, die wie Edelsteine glänzen.

Der Apostel Petrus erklärt uns, dass wir das prophetische Wort wie eine Lampe besitzen, die an einem dunklen Ort leuchtet und uns so auf dem Glaubensweg behilflich ist (2. Pet 1,19). Daran wollen wir denken, wenn wir die Psalmen lesen und in ihnen prophetische Hinweise auf die Zukunft finden.

Am Ende seines zweiten Briefs fordert uns der Apostel Petrus auf: «Wachst aber in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus» (2. Pet 3,18). Neben anderen Bibelbüchern helfen uns auch die Psalmen, den Herrn Jesus besser kennen zu lernen und dadurch geistlich zu wachsen. Darum wollen wir in ihnen nach Aussagen suchen, die Ihn betreffen. Sie werden unser Herz glücklich machen und uns zur Anbetung führen.

Eine zeitlose Unterweisung

Wir haben gesehen, dass die Psalmen von Gläubigen geschrieben wurden, die in einer anderen Heilszeit lebten als wir. Deshalb können wir nicht alles auf uns beziehen. Wir haben auch erkannt, dass die Psalmen in erster Linie prophetische Aussagen enthalten, die sich sowohl auf den Herrn Jesus als auch auf den jüdischen Überrest in der Zukunft beziehen. Da fragen wir uns: Worin liegt nun der praktische Nutzen der Psalmen für uns?

Es gibt göttliche Grundsätze für das Glaubensleben, die zu allen Zeiten gelten. Wir finden sie auch in den Psalmen und können sie direkt für uns nehmen. Wir weisen auf einige dieser Lebensprinzipien hin, die die Glaubenden unabhängig von der Heilszeit, in der sie leben, auszeichnen sollen:

  • Beten gehört zu den Kernstücken des Glaubens an Gott. Nachdem sich Saulus bekehrt hatte, sagte der Herr von ihm: «Siehe, er betet» (Apg 9,11). In den Psalmen finden wir viele Beispiele von Gläubigen, die zu Gott gefleht und gerufen haben (Ps 28,1.2; 141,1.2). Die Psalmen enthalten auch manche Zusage, dass Gott die Gebete hört und erhört (Ps 65,3; 86,7). So werden wir beim Lesen der Psalmen zum Beten unterwiesen und angespornt.
  • Gottesfurcht ist ein weiteres Merkmal, das die Gläubigen zu allen Zeiten kennzeichnen soll. In den Psalmen kommt es oft vor, und zwar mit dem Ausdruck «den HERRN fürchten». Damit ist nicht Angst vor Gott gemeint, sondern eine Einstellung und ein Verhalten, die von Ehrfurcht und Respekt vor Gott geprägt sind. Echte Gottesfurcht veranlasst uns, in jedem Lebensbereich die Ehre des Herrn zu suchen. Sie hält uns auch davon ab, etwas zu tun, was Ihm missfällt. Die Psalmen fordern uns nicht nur zur Gottesfurcht auf (Ps 34,10), sie geben auch manche Verheissung für eine gottesfürchtige Lebensführung (Ps 25,14; 103,11). In Psalm 128,1 heisst es: «Glückselig jeder, der den HERRN fürchtet!»
  • Gottvertrauen ist ebenfalls eine Eigenschaft, die der Herr jederzeit bei den Gläubigen wertschätzt, und durch die sie dem Herrn Freude bereiten. Wer auf Ihn vertraut, erhebt sich über die menschlichen Möglichkeiten und rechnet mit der göttlichen Macht. Das erfordert jedoch einen persönlichen Glauben an den unsichtbaren, allmächtigen Gott. David hat bei vielen Gelegenheiten sein Vertrauen auf Gott gesetzt und ist nie enttäuscht worden. Er empfiehlt uns: «Befiehl dem HERRN deinen Weg und vertraue auf ihn, und er wird handeln!» (Ps 37,5). Aus eigener Erfahrung wusste er: «Wer auf den HERRN vertraut, den wird Güte umgeben» (Ps 32,10). Ist das nicht ein Ansporn für uns, täglich den Glaubensweg im Vertrauen auf Gott zu gehen?
  • Gemeinschaft mit Gott pflegten schon Abraham, David (1. Mo 18; 2. Sam 7) und andere. Auch wir können mit göttlichen Personen Gemeinschaft haben, und zwar mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus (1. Joh 1,3). Allerdings entspricht die Art der Gemeinschaft mit Gott jeweils der Beziehung, in der die Gläubigen in den einzelnen Heilszeiten zu Ihm stehen. Dennoch ermutigen uns die Psalmen, von diesem Vorrecht rege Gebrauch zu machen. Wie David wollen wir den tiefen Wunsch nach Gemeinschaft mit Gott haben: «Es dürstet nach dir meine Seele, nach dir schmachtet mein Fleisch in einem dürren und lechzenden Land ohne Wasser» (Ps 63,2). Gibt es in unserer öden Welt etwas Besseres, als die Beziehung zu Gott zu pflegen und sich an dem zu freuen, was Ihm Freude macht?

Das sind einige Beispiele, die uns den Nutzen der Psalmen für unser Glaubensleben vor Augen führen. Bestimmt finden wir beim Lesen der Psalmen noch weitere Grundsätze für ein Leben mit Gott.

Schluss

Mit einer Frage fassen wir diese Einführung in die Psalmen zusammen: Worin liegt nun der grosse Wert dieses Bibelteils für uns Christen?

  1. Die Psalmen reden von Christus in seinen Leiden und in seiner Herrlichkeit. Sie offenbaren uns, was Er in seiner Seele empfunden hat und noch empfinden wird. Die Beschäftigung mit dem Herrn Jesus wird uns dazu führen, Ihn mehr zu erkennen, inniger zu lieben, besser zu verehren und mutiger zu bezeugen. Dazu sind uns die Psalmen eine Hilfe.
  2. Die Psalmen leiten uns zu einem Glaubensleben an, das von Gebet, Gottesfurcht, Gottvertrauen und Gemeinschaft mit Gott gekennzeichnet ist. Die Erfahrungen der Psalmdichter spornen uns an, diese Grundsätze im Alltag zu verwirklichen. Dadurch wird Gott geehrt und unsere Freude vertieft.