Bei fünf verschiedenen Begebenheiten bezeichnet sich Johannes in seinem Evangelium als den Jünger, «den Jesus liebte». War das eine arrogante Prahlerei? Nein, ganz und gar nicht. Johannes bewunderte lediglich die Liebe und Gnade des Herrn Jesus, die ihm persönlich galt. Dabei meinte er nicht, dass er mehr geliebt würde als die anderen Jünger.
Wir lernen von ihm, wie viel wichtiger es ist, mit der Liebe Gottes zu uns beschäftigt zu sein, als über unsere Liebe zu Gott nachzudenken. Ein älterer Christ hat einmal gesagt: «Versuche nicht, den Herrn mehr zu lieben, als du es tust. Sonne dich einfach in seiner Liebe zu dir!»
1) Anlehnen
«Einer aber von seinen Jüngern, den Jesus liebte, lag zu Tisch in dem Schoss Jesu. Diesem nun winkt Simon Petrus, damit er frage, wer es wohl sei, von dem er rede. Jener aber, sich an die Brust Jesu lehnend, spricht zu ihm: Herr, wer ist es?» (Joh 13,23-25).
Das erste Mal finden wir diesen Ausdruck, als Johannes im Schoss von Jesus lag und sich an seine Brust lehnte. Die Szene spielte sich im Obergemach ab, und zwar in der Nacht, in der Jesus Christus überliefert wurde. Er hatte seinen Jüngern gerade mitgeteilt, dass einer von ihnen Ihn verraten würde. Das löste bei den Jüngern Bestürzung aus. Petrus wies nun Johannes an, den Herrn zu fragen, wen Er meinte.
Wenn Gläubige gewohnheitsmässig im Bewusstsein der Liebe des Herrn zu ihnen leben, befinden sie sich in seiner Nähe und können seine Mitteilungen empfangen. Aber beachten wir: Johannes begab sich nicht in die Nähe seines Meisters, um göttliche Mitteilungen zu bekommen. Nein, er erhielt sie, weil es seine Herzensgewohnheit war, nahe bei Ihm zu sein, um wirklich in der Liebe seines Herrn zu ruhen.
In Vers 23 ist vom «Schoss» und in Vers 25 von der «Brust» des Herrn Jesus die Rede. Johannes lehnte sich tatsächlich an die Brust seines Herrn, denn er befand sich körperlich in seiner Nähe. Aber die Tatsache, dass er im Schoss Jesu lag, deutet mehr als nur örtliche Nähe an. Der Sohn ist im Schoss des Vaters und der Jünger liegt im Schoss des Sohnes. Das ist ein Ort der inneren Nähe und Gemeinschaft – ein Ort, der uns allen offen steht.
2) Stehen
«Als nun Jesus die Mutter sah und den Jünger, den er liebte, dabeistehen, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe dein Sohn! Dann spricht er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter!» (Joh 19,26.27).
Während seines Dienstes wahrte der Herr Jesus eine gewisse Distanz zu seiner Mutter (Joh 2,4; Mt 12,46-50). Natürliche Beziehungen hatten keinen Einfluss auf seinen Dienst, wie es bei anderen so oft der Fall ist. Ausserdem sah Gott voraus, dass Maria in der Christenheit einen unbiblischen Platz bekommen würde. Deshalb setzte der Herr in der Zeit, als Er in Israel wirkte, eine Distanz zwischen sich und seine Mutter. Doch sobald Er im Begriff steht, sein Werk am Kreuz zu vollenden, scheint die natürliche Zuneigung hervorzutreten. Er spricht zu seiner Mutter: «Frau, siehe dein Sohn!» Dann erklärt Er dem Jünger Johannes: «Siehe, deine Mutter!» Damit übergibt Jesus Christus die Person, die Ihm in den natürlichen Beziehungen auf der Erde am nächsten steht, der Fürsorge des Jüngers, den Er liebt.
Wenn wir im Erkennen und Erfassen der Liebe unseres Herrn zu uns wachsen, wird in uns der Wunsch entstehen, uns um solche zu kümmern, die Er liebt. Was Christus am wertvollsten ist und Ihm am meisten am Herzen liegt, ist die Versammlung. Wie Johannes die Mutter Jesu, Maria, in sein eigenes Haus aufnahm (Vers 27), so können wir für die Gläubigen der Versammlung Gottes Sorge tragen.
Wer im Bewusstsein der Liebe des Herrn lebt, wird in der Stunde der Erprobung stehen können. Alle Jünger hatten Jesus verlassen und hielten sich irgendwo versteckt, mit Ausnahme von Johannes. Simon Petrus, der von seiner Liebe zum Herrn überzeugt gewesen war, hatte Ihn nicht nur verlassen, sondern sogar verleugnet. Genau das war der wesentliche Unterschied zwischen Petrus und Johannes. Der Jünger, der sich nicht mit seiner Liebe zu Christus beschäftigte, sondern in der Liebe des Herrn zu ihm ruhte, stand beim Kreuz.
Immer wieder werden wir in den Briefen des Apostels Paulus aufgefordert, standhaft zu bleiben und im Glauben zu stehen. Der Jünger, der im Bewusstsein der Liebe des Herrn lebt, bleibt in der dunklen Stunde der Prüfung standhaft und flieht nicht.
3) Laufen
«Am ersten Tag der Woche aber kommt Maria Magdalene früh, als es noch dunkel war, zur Gruft und sieht den Stein von der Gruft weggenommen. Sie läuft nun und kommt zu Simon Petrus und zu dem anderen Jünger, den Jesus lieb hatte, und spricht zu ihnen: Sie haben den Herrn aus der Gruft weggenommen, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben» (Joh 20,1.2).
Johannes und Petrus sind in diesen verschiedenen Szenen, die im Johannes-Evangelium geschildert werden, sehr eng miteinander verbunden. Auch am Auferstehungsmorgen sehen wir beide zusammen. Nachdem ihnen Maria mitgeteilt hatte: «Sie haben den Herrn aus der Gruft weggenommen», rannten Johannes und Petrus zum leeren Grab. Sie liefen beide zusammen los. Aber der Jünger, den Jesus liebte, war «schneller als Petrus und kam als Erster zu der Gruft» (Vers 4).
Wir lernen daraus: Wenn wir als Jünger leben, die in der Liebe des Herrn zu uns ruhen, bekommen wir Energie für den Glaubenslauf. Ein Christ hingegen, der keine volle Heilssicherheit hat oder der mehr auf die Anerkennung Gottes für seine eigene Leistung als auf die Gnade Gottes blickt, wird keine sicheren Schritte tun noch mit Ausharren laufen können.
Johannes kommt als Erster zum leeren Grab und schaut hinein. Doch er bleibt am Eingang stehen. Petrus holt ihn ein, geht an Johannes vorbei und betritt die Gruft. Johannes und Petrus waren ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Johannes besass einen nachdenklichen Charakter, Petrus handelte oft ungestüm. Dennoch führte Gott sie als Jochgenossen zusammen. Wie schön, dass der Herr Menschen gebraucht, die unterschiedlich im Temperament sind! So wie wir in seiner Schöpfung eine bunte Fülle und Komplexität beobachten können, so sehen wir auch bei denen, die Er miteinander in seine Nachfolge beruft, eine grosse Vielfalt.
Die Ereignisse des Auferstehungsmorgens und der folgenden Tage veränderten das Leben dieser beiden Freunde grundlegend. Besonders Petrus lernte etwas Wichtiges: Wenn unsere Liebe scheitert – die Liebe unseres Herrn versagt nie, auch nicht in unserer dunkelsten Stunde.
4) Erkennen
«Da sagte jener Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr» (Joh 21,7).
Im Neuen Testament werden zwei wunderbare Fischfänge erzählt (Lk 5,4-6; Joh 21,6). Der eine ereignete sich zu Beginn des Dienstes des Herrn, als Er seine Jünger berief. Der andere erfolgte nach seiner Auferstehung, als Er in seiner Gnade den Aufruf zur Nachfolge gegenüber seinen Jüngern wiederholte. Beim ersten Wunder in Lukas 5 machte Simon Petrus eine persönliche Erfahrung. Er erkannte: Jesus Christus hat Macht über die Schöpfung und ist tatsächlich eine göttliche Person. So konnte Petrus seine Fischernetze hinter sich lassen und dem Meister voll und ganz vertrauen, dass Er allen seinen Bedürfnissen zu entsprechen vermochte, während sein Jünger den Auftrag als «Menschenfischer» erfüllte.
Doch bei der Gefangennahme seines Herrn versagte Simon Petrus auf schmerzliche Weise. Sein übermässiges Vertrauen in seine eigene Liebe zum Herrn führte dazu, dass er zusammenbrach. Er hatte sich damit gebrüstet, seinen Meister nicht zu verleugnen, selbst wenn alle anderen Jünger es tun würden, weil er meinte, er würde Ihn «mehr als diese» lieben (Mt 26,33; Joh 21,15). Hier sehen wir, wie gefährlich es ist, wenn wir auf unsere Liebe zum Herrn vertrauen. Viel besser ist es, ein «Jünger zu sein, den Jesus liebt», und unser Vertrauen auf seine Liebe zu uns zu setzen.
Als der Morgen über dem See von Tiberias anbrach, auf dem die Jünger die ganze Nacht vergeblich gefischt hatten, erschien der Herr Jesus am Ufer. Die Jünger wussten nicht, wer es war. Als sie aber auf seinen Befehl hin das Netz auswarfen und die vielen gefangenen Fische sahen, sagte der Jünger, den Jesus liebte: «Es ist der Herr!» Er war der Erste, der sowohl erkannte als auch bezeugte, wer der Fremde war. Entsprechend seiner impulsiven Natur sprang Petrus sofort ins Wasser, um schnellstmöglich zum Herrn zu kommen.
Geistliche Einsicht scheint unter dem Volk Gottes eine immer seltener werdende Eigenschaft zu sein. Da fragen wir uns: Was befähigt uns, Gottes Stimme und Gottes Willen klarer zu erkennen? Es ist das gewohnheitsmässige Verweilen bei Christus im Bewusstsein seiner Liebe und Zustimmung.
5) Nachfolgen
«Petrus wandte sich um und sieht den Jünger nachfolgen, den Jesus liebte, der sich auch bei dem Abendessen an seine Brust gelehnt und gesagt hatte: Herr, wer ist es, der dich überliefert? Als nun Petrus diesen sah, spricht er zu Jesus: Herr, was wird aber mit diesem?» (Joh 21,20.21).
Der Herr hatte Simon Petrus gerade mitgeteilt, wie und wann er sterben würde. Er würde im Alter von Gott die Gnade bekommen, als Märtyrer den Tod durch Kreuzigung zu erleiden: «Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken» (Vers 18; 2. Pet 1,14). Nun fragte Petrus den Herrn über das Schicksal seines Freundes Johannes: «Was wird aber mit diesem?» Vermutlich war es echtes Interesse, vielleicht auch eine gewisse Neugier, die diese Frage bei Petrus auslösten. Er dachte: Wenn ich im Alter den Märtyrertod erleiden werde, was passiert mit meinem besten Freund, Mitarbeiter und Mitjünger? Da bekam er zur Antwort: «Was geht es dich an?» Mit anderen Worten: «Petrus, das musst du nicht wissen.» Dann fügte der Herr hinzu: «Folge du mir nach!» (Vers 22).
In Vers 20 heisst es: «Petrus wandte sich um und sieht den Jünger nachfolgen, den Jesus liebte.» Johannes folgte bereits dem Herrn Jesus und brauchte keine Aufforderung dazu wie Petrus. Er handelte schon im Sinn seines Meisters, weil er Ihn und seine Liebe kannte!
Einige verstanden die Aussage in der Antwort des Herrn an Petrus falsch: «Wenn ich will, dass er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an?» Die frühen Christen leiteten aus diesem Satz eine verkehrte Auffassung ab: «Es ging nun dieses Wort unter die Brüder aus: Jener Jünger stirbt nicht» (Vers 23).
Aber der Herr sagte keineswegs, Johannes werde nicht sterben. Er erklärte einfach: «Wenn ich will, dass er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an?» Der Jünger, den Jesus liebte, würde «bleiben» und die anderen Apostel überleben. Vermutlich war Petrus bereits heimgegangen, als Johannes sein Evangelium schrieb. Der Jünger, der im Obergemach im Schoss Jesu lag, war einer der «Söhne des Donners» (Mk 3,17). Gerade ihm wurde die Vision der Offenbarung gegeben! Der Jünger, der das tiefste Bewusstsein für die Liebe Gottes hatte, sollte auch die tiefste Einsicht in die Heiligkeit Gottes und das kommende Gericht haben.