Das Ziel ist Heiligkeit
Wenn wir die verschiedenen Gebote und Verordnungen des Alten Testaments durchsehen, merken wir, dass sie einen Geist der Heiligkeit ausstrahlen. Die kleinste Verordnung war darauf bedacht, Israel ein Empfinden der Heiligkeit zu vermitteln. Gottes Anwesenheit in der Mitte seines Volkes sollte für die Israeliten immer eine Quelle von Heiligung und Absonderung sein. So lesen wir in 5. Mose 21,21: «Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen.» In der Verordnung über den Totschläger heisst es: «Du sollst das Land nicht verunreinigen, in dem ihr wohnt, in dessen Mitte ich wohne; denn ich, der HERR, wohne inmitten der Kinder Israel» (4. Mo 35,34). Gottes Wohnort erforderte diese Heiligkeit, «ohne die niemand den Herrn schauen wird» (Heb 12,14).
Darin gibt es keine Veränderung. Die Heilszeiten ändern sich zwar, aber Gott – gepriesen sei sein Name – kann seine Heiligkeit nie aufgeben: «Heilig, heilig, heilig ist der HERR der Heerscharen» (Jes 6,3). Er wird auch sein Bemühen nicht einstellen, sein Volk so zu machen, wie Er selbst ist. Ob Er aus dem Donner am Berg Sinai oder vom blutbesprengten Gnadenthron im Himmel aus redet, sein Anliegen ist immer dasselbe: Er will sein Volk heilig machen und heilig erhalten.
Das Gesetz macht nicht heilig
Ein grosser Unterschied besteht jedoch in der Art seines Handelns unter dem Gesetz und unter der Gnade im Evangelium. Im Gesetz rief Gott den Menschen dazu auf, so zu sein, wie Er es wünschte. Dabei legte Er zweifellos einen hohen und heiligen Standard fest – einen Standard, den der Mensch nicht erreichen konnte. Auch wenn er eifrig nach dem strebt, was das Gesetz ihm vorgibt, so kann er es schon allein aufgrund dessen, was er ist, nicht erreichen. Alle seine Bemühungen beruhen auf seiner unheiligen Natur, die ganz und gar unverbesserlich ist. Das Gesetz war wie ein Spiegel, der ihm vom Himmel vorgehalten wurde. Es zeigte allen, die ehrlich hineinschauten, dass sie sowohl in dem, was sie nicht tun sollten, als auch in dem, was sie tun mussten, genau das sind, was das Gesetz verurteilte und beiseitesetzte. Das Gesetz sagte: «Tu dies!», oder: «Du sollst das nicht tun!» Darauf konnte der Mensch aus der Tiefe seiner Natur heraus nur eine einzige aufrichtige Antwort geben: «Ich elender Mensch!» (Röm 7,24).
Das Gesetz war wie ein Senkblei, das den Charakter des Menschen mass und seine ganze Verdorbenheit und Unvollkommenheit offenbarte. Es war keineswegs seine Aufgabe, den Sünder zu verbessern. Nein, das Gesetz war dazu da, die Sünden aufzudecken und den Sünder unter den Fluch zu stellen: «Das Gesetz aber kam daneben ein, damit die Übertretung überströmend würde» (Röm 5,20). «So viele aus Gesetzeswerken sind, sind unter dem Fluch» (Gal 3,10). Das ist sehr einfach zu verstehen. Wenn du irgendetwas mit dem Gesetz zu tun hast, wird es dir beweisen, dass du ein armer, hilfloser Sünder bist und unter dem Fluch stehst. Es kann wirklich nichts anderes tun, so lange der heilige Gott und der sündige Mensch das bleiben, was sie sind.
Das Gesetz bringt nur den Fluch
In unserer Unkenntnis über den wahren Charakter von Gesetz und Gnade möchten wir vielleicht versuchen, beides miteinander zu vermengen. Doch am Ende wird sich zeigen, dass dies völlig aussichtslos ist. So wenig wie wir Licht und Finsternis vermischen können, so unmöglich ist es uns, Gesetz und Gnade miteinander zu verbinden. Nein, sie sind so unterschiedlich, wie zwei Dinge nur sein können. Das Gesetz kann dem Menschen nur die Fehler seiner Wege und das Böse seiner Natur vorstellen. Es macht ihn nicht gerade, sondern sagt ihm lediglich, wie krumm er ist. Es macht ihn nicht rein, sondern zeigt ihm nur seinen Schmutz.
Das Gesetz ist auch nicht gegeben worden, um den Sünder zu Christus zu führen. Diese Idee, die immer wieder aufkommt, ist auf ein falsches Zitieren von Galater 3,24 zurückzuführen. Dort heisst es nicht: «Das Gesetz ist unser Erzieher gewesen, um uns zu Christus zu bringen», sondern: «Das Gesetz ist unser Erzieher gewesen auf Christus hin.» Es machte einfach deutlich, dass der Herr Jesus als Erlöser kommen musste, sollte der Mensch wirklich errettet werden. Das ist wichtig, damit wir die Natur, das Ziel und den Geltungsbereich des Gesetzes verstehen. Wie könnte das Gesetz einen Menschen zu Christus führen? Alles, was es damals für ihn tat, war, ihn unter dem Fluch zum Schweigen zu bringen. Wenn ein Mensch den Weg zum Erlöser findet, ist es das Resultat eines ganz anderen Dienstes. Das Gesetz handelte als Erzieher von der Zeit an, als es gegeben wurde, bis Christus kam. Es brachte die Menschen in einen Gewahrsam, aus dem nichts und niemand sie befreien konnte als nur der Geist der Freiheit, der durch das Evangelium des Herrn Jesus gegeben wurde.
Der Sohn geht seinen eigenen Weg
Durch den einfachen Vergleich von 5. Mose 21,18-21 und Lukas 15,11-32 bekommen wir einen eindrucksvollen Beweis für den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium. In beiden Fällen handelt es sich um einen Sohn, der sich dazu entschied, seinen eigenen Willen zu tun und seinen eigenen Weg zu gehen. Das ist kein ungewöhnlicher Einzelfall. Der verlorene Sohn wünschte, seinen Anteil am Erbe zu erhalten und weit weg vom Vater zu leben. Doch wie schnell musste er seine Torheit erkennen! «Als er aber alles verschwendet hatte, kam eine gewaltige Hungersnot über jenes Land, und er selbst fing an, Mangel zu leiden» (Lk 15,14). Gerade jetzt! Wie konnte es anders sein? Er hatte den einzigen Ort verlassen, wo alle seine Bedürfnisse gestillt werden konnten, nämlich das Haus des Vaters.
Er hatte seinen Anteil des Vermögens vom Teil des Vaters getrennt und musste nun erfahren, dass sich der eigene Teil erschöpfte. Wir können das Ende aller menschlichen Umstände und Quellen erreichen. Es gab noch nie einen Becher mit menschlichem oder irdischem Glück – sei er auch noch so gross und so voll von wünschenswertem Inhalt –, der nicht bis auf den Grund geleert werden konnte. Es gibt keine Quelle menschlicher oder irdischer Erfrischung, von der nicht gesagt werden kann: «Jeden, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder dürsten» (Joh 4,13). Ganz anders ist es mit dem Becher der errettenden Liebe, der uns durch das Evangelium gereicht wird. Diese Quelle des Heils ist unerschöpflich, ewig und göttlich. Während unzählige Zeitalter der Ewigkeit vergehen, bleibt Gottes Becher immer voll. Diese Quelle wird ihre Ströme in ewiger Frische und Reinheit ausgiessen. Wie segensreich ist es für jeden, der daran teilhat!
Der Sohn kommt ins Elend
Der verlorene Sohn «begann Mangel zu leiden». Was dann? Dachte er nun an den Vater? Nein! Solange es andere Möglichkeiten gab, wollte er nicht nach Hause zurückkehren. «Er ging hin und hängte sich an einen der Bürger jenes Landes; und der schickte ihn auf seine Felder, Schweine zu hüten.» Wie schrecklich! Auf diese Weise behandelt Satan alle, die er unter seiner Gewalt hat. Jeder, der nicht in Gemeinschaft mit Gott lebt und sich dem Evangelium nicht unterwirft, steht im Dienst des Feindes. Es gibt keinen neutralen Boden. Wem dienst du? Dienst du Christus oder Satan? Wenn du dem Feind Gottes dienst, dann bedenke das Ende! Denk auch an die Liebe des Vaters und an sein Haus. Denk daran, dass Gott nicht den Tod des Sünders will, sondern vielmehr dass er von seinen bösen Wegen umkehre und lebe (Hes 18,23). Das kannst du vom verlorenen Sohn lernen. In dem Moment, als seine Bedürfnisse ihn dazu brachten, an eine Rückkehr zum Vater zu denken, stand das Zuhause weit offen, um ihn aufzunehmen. Beachte: Nur seine Bedürfnisse veranlassten ihn zu sagen: «Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.» Es war nicht der sehnsüchtige Wunsch nach Gemeinschaft mit dem Vater, sondern lediglich das Verlangen nach dem Brot des Vaters. Viele suchen in ihrem Herzen vergeblich ein liebevolles Verlangen nach Gott. Sie wissen nicht, dass unsere eigenen Bedürfnisse, unser Elend, unsere Sünden Gott dazu bewegen, uns Gnade zu erweisen. Gnade passt zu den Elenden, denn an ihnen kann sie sich verherrlichen.
Die Antwort des Gesetzes
Wir sind nun an den Punkt gekommen, wo wir den Kontrast zwischen den beiden Bibelstellen, die in der Überschrift angegeben sind, erkennen und wertschätzen können. Wie hätte das Gesetz mit dem verlorenen Sohn gehandelt? Die Antwort ist einfach:
«So sollen sein Vater und seine Mutter ihn ergreifen und ihn zu den Ältesten seiner Stadt und zum Tor seines Ortes hinausführen und sollen zu den Ältesten seiner Stadt sprechen: Dieser unser Sohn ist unbändig und widerspenstig, er gehorcht unserer Stimme nicht, er ist ein Schlemmer und Säufer! Und alle Leute seiner Stadt sollen ihn steinigen, dass er sterbe; und du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Und ganz Israel soll es hören und sich fürchten» (5. Mo 21,19-21).
Das Gesetz konnte nur von Gericht und Tod sprechen. Barmherzigkeit war weder in seiner Reichweite noch im Einklang mit seinem Charakter. Unerbittlich sagte das Gesetz: «Die Seele, die sündigt, die soll sterben» (Hes 18,20). Und: «Verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun!» (Gal 3,10).
Die Antwort der Gnade
Auf welche Weise handelt die Gnade in dieser Situation? Oh, wie loben wir Gott, der die Quelle der Gnade ist! «Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und wurde innerlich bewegt und lief hin und fiel ihm um den Hals und küsste ihn sehr» (Lk 15,20). Kurz gesagt, die Reaktion der Gnade ist genau das Gegenteil. Das Gesetz verlangt: «Ergreife ihn!» – Das Evangelium sagt: «Umarme ihn!» Das Gesetz fordert: «Steinige ihn!» – Das Evangelium sagt: «Küsse ihn!» Doch wir wollen bedenken, dass wir in beiden Fällen dem gleichen Gott begegnen. Es ist der lebendige Gott Israels, der sowohl in 5. Mose 21 als auch in Lukas 15 spricht. Darüber hinaus müssen wir uns daran erinnern, was bereits gesagt worden ist: In beiden Fällen wird das gleiche Ziel verfolgt. Es geht um die vollständige Befreiung von der Macht des Bösen. Sowohl der Stein des Gerichts als auch die Umarmung der Liebe sind dazu bestimmt, das Böse wegzutun. Doch was für ein Unterschied! Die Gnade steht im Einklang mit dem Herzen Gottes, während das Gericht ein fremdartiges Werk für Ihn ist (Jes 28,21). Es entsprach viel mehr seinem Wesen, den verlorenen Sohnes zu umarmen, als sich auf dem Berg Sinai von den Menschen abzugrenzen. Es ist wahr: Der verlorene Sohn hatte nichts, was ihn empfahl. Er hatte sich als einer erwiesen, den das Gesetz verurteilen musste. Er war ein «Schlemmer und Säufer». Die Lumpen des fernen Landes hingen an ihm. Wenn das Gesetz seinen Lauf genommen hätte – anstelle der liebevollen Umarmung –, dann hätte ihn das strenge Urteil treffen müssen. Anstatt vom Vater geküsst zu werden, hätte er die Steine des Gerichts zu spüren bekommen, die die Männer der Stadt in der Gegenwart der Ältesten auf ihn hätten werfen müssen. So deutlich ist der Kontrast zwischen Gesetz und Gnade.