Zwei unterschiedliche Personen
Im Haus des Pharisäers Simon kommt der Herr Jesus in Kontakt mit zwei Menschen, die zwei moralische Gruppen repräsentieren. Es sind der Gastgeber Simon und eine Sünderin aus der Stadt. Diese beiden Personen sind die zwei Schuldner im Gleichnis, das der Herr bei dieser Gelegenheit erzählt.
Simon war nicht von der Sorte der Pharisäer, die versuchten, Jesus in seiner Rede zu fangen. Er glich aber auch nicht Levi, der dem Herrn Jesus in seinem Haus ein grosses Mahl machte und viele Zöllner und Sünder dazu einlud. Simon war einer, der die Vortrefflichkeit Jesu ein Stück weit anerkannte. Um Ihm eine gewisse Ehre zu erweisen, hatte er Ihn in sein Haus eingeladen. Ich zweifle nicht, dass er zu denen gehörte, die sich täglich bewusst sind, wie sehr sie Gott für seine Fürsorge und Barmherzigkeit in ihrem Leben Dank schulden. Er war einer, dem eine Schuld von 50 Denaren geschenkt worden war.
Die Frau, die nun ins Haus trat, war eine Sünderin. Sie wusste es auch selbst nur zu gut. Doch der Herr Jesus war als Retter gekommen und sie kannte Ihn als solchen. Sie war nicht nur überzeugt, dass sie wegen ihres sündigen Lebens absolut verloren war, sie war auch bereit, alles aufzugeben. Obwohl sie von ihrer Schuld überzeugt war, wusste sie, dass ihr vergeben worden war. Sie war begnadigt und dem Gericht entronnen. Sie war nicht wie David, der den Engel des HERRN mit gezücktem Schwert in seiner Hand sah. Sie stand vor Gott als von Ihm gerettet. Dabei stützte sie sich nicht einfach auf seine vorsehende Barmherzigkeit, sondern war sich einer ewig gültigen Annahme bewusst. Sie war eine Schuldnerin, der 500 Denare geschenkt worden waren.
So müssen wir die Sünderin aus der Stadt betrachten. Sie zeigte positive Eigenschaften und Siege, die mit dem Empfinden der Vergebung einhergingen. Das machte sie mutig. Sie wagte sich als bekannte Sünderin in das Haus des Pharisäers. Das war kühn von ihr. Sie rechnete wohl damit, dass ihr dabei Verachtung, verletzendes Tuscheln und vorwurfsvolles, selbstgerechtes Murren begegnen würden.
Das Bewusstsein der Vergebung der Sünden
Aber das Bewusstsein, dass Gott Sünden vergibt, machte sie glücklich. Es verlieh ihr eine gewisse Unabhängigkeit von den anderen und stellte sie über die Welt. Es weckte in ihr eine Gesinnung der Hingabe und Anbetung. Alles, was sie war und hatte, war nicht gut genug oder zu wertvoll für Den, der sie errettet und geliebt hatte und sich selbst für sie hingeben würde. Sie legte alles, was sie hatte, zu den Füssen Jesu nieder. Um die anderen, die auch anwesend waren, kümmerte sie sich nicht. Sie war nur auf Ihn konzentriert. Sie wusste um den neuen Namen auf dem weissen Stein (Off 2,17). Die Gedanken des Pharisäers berührten sie nicht, ähnlich wie die Verachtung Michals bei ihrem Mann David wirkungslos blieb, als er sich über die Rückkehr der Bundeslade freute (2. Sam 6,20-22). Im Herrn Jesus hatte die Frau volles Genüge gefunden. Bei Ihm hatte sie auf alles eine Antwort bekommen.
Sie gehörte zu denen, die die grosse Wahrheit des Christentums kannte: die Vergebung der Sünden. «Ihre vielen Sünden sind vergeben.» Sie kannte Jesus so, wie Simon Ihn nicht kannte. Sie stand in einer anderen Beziehung zu Ihm. Christus war ihr persönlicher Heiland. Simon nahm kaum oder nur am Rand Notiz von ihr. Er konnte sie nicht verstehen. Das, was er von ihr wusste, kannte er auf eine Weise, die ihn täuschte. Er dachte bei sich selbst: «Sie ist eine Sünderin.» Ganz bestimmt war sie das. Nur eine Sünderin konnte ein solches Opfer bringen, wie sie es tat. Aber Simon wusste nicht, dass gerade das Bewusstsein ihres Zustands der Ursprung und der Grund von allem war, was da geschah. Er kannte auch seinen Gast nicht. Er zweifelte, ob Er ein Prophet sei. Doch bald zeigte ihm der Herr, dass Er nicht nur ein Prophet, sondern ein göttlicher Prophet war, der ihm die geheimsten Überlegungen seines Herzens mitteilte.
Simon bemerkte zwar, dass sie den Herrn anrührte, und machte sich seine Gedanken dazu. Da möchten wir fragen: War das alles, Simon? Die ganze Handlung machte keinen Eindruck auf ihn, denn er verstand sie nicht. Er sah wohl die Küsse, die Tränen und den Wert des Alabasterfläschchens mit Salböl. Doch es war, als ob er das alles gar nicht wirklich wahrnahm. Mit den 50 geschenkten Denaren war er weit davon entfernt zu erfassen, was es bedeutete, 500 Denare geschenkt zu bekommen.
Ja, so ist es. Das ist gerade die besondere Lektion aus dieser kurzen Geschichte und dem Gleichnis, das mittendrin steht. Es illustriert den Wert einer Seele, die die richtigen Gedanken über ihre Beziehung zu Gott hat. Es zeigt auch den Wert der Erkenntnis, dass wir Sünder sind, hoffnungslos für ewig verloren. Dann lernen wir aber, dass der Herr Jesus für uns nichts weniger ist als ein gegenwärtiger Erretter, ein vollkommener Erretter und ein Erretter für die Ewigkeit.
Das Werk der Erlösung und die Antwort der Liebe
Im Evangelium erstrahlen viele moralische Herrlichkeiten. Eine davon ist, dass es zu einer erstaunlichen und wertvollen Beziehung zwischen Gott und seinen Geschöpfen führt. Diese Verbindung ist in gewisser Weise sowohl für den Geber als auch für den Empfänger von unschätzbarem Wert, wobei wir auf Gottes Seite das Werk der Erlösung mit all seinen Folgen haben und auf der Seite des Sünders die dankbare Antwort der Liebe. Diese Beziehung ist der grösste Gewinn für den, der am weitesten von Gott entfernt ist und sie am allerwenigsten verdient hat.
Die Engel sind erhabene, strahlende Geschöpfe mit gewaltiger Kraft. In diesem ersten Zustand, den sie vom Schöpfer bekommen haben und den sie bewahren sollen, können sie Kontakt mit Dem haben, der sie geschaffen hat. – Solange Adam sich im Zustand der Unschuld befand, war es ihm möglich, als aufrichtig geschaffener Mensch im Garten Eden Kontakt mit Gott zu haben. – Aber was sind diese Beziehungen verglichen mit der Beziehung, die die Gnade durch die Errettung bewirkt hat!
Wenn dies so ist, dann wird es unsere Pflicht und unsere Aufgabe, die Vergebung der Sünden und die Errettung Gottes in unserem Herzen zu erwägen. Als Folge davon werden ähnliche Zuneigungen gegenüber unserem Erlöser entstehen, wie wir sie bei der Sünderin sehen.
Empfundene Vergebung führt zu herzlicher Zuneigung
Die Bibel, dieses göttlich wunderbare Buch, beginnt damit, dass es uns die Verbindung zwischen Gott und seinen Geschöpfen in der Zeit der Unschuld zeigt. Aber es schliesst mit der Darstellung der viel herrlicheren Verbindung, die durch die Errettung zustande kommt. Die Frau des Lammes wird in der Herrlichkeit den Herrn lieben können, wie Adam dies im Garten Eden nie gekonnt hätte. Die Braut des Lammes wird Ihn lieben, wie diese Frau es im Haus von Simon getan hat. Die Kraft und Freude dieser Liebe wird die Gnade sein, die ihr eine Schuld von 500 Denaren erlassen hat.
Ich für mich kenne niemand in der ganzen Bibel – von Anfang bis zum Ende –, der die Zuneigung der Braut des Lammes tiefer und ergreifender illustriert als diese Frau und was sie getan hat. Die Familie in Bethanien und Maria Magdalene bringen eine sehr innige, persönliche Zuneigung zum Herrn Jesus zum Ausdruck. Ihre Herzen werden angezogen und in sehr schöner Weise in Beschlag genommen. Wir freuen uns über das, was uns von ihnen gezeigt wird. Die moralische Kraft, die im Bewusstsein der Vergebung und der Annahme bei Gott liegt, wird im ersten Zusammenkommen der Gläubigen in Jerusalem sehr schön vorgestellt (Apg 2). Im Weiteren gibt es viele Stellen, die etwas von den Empfindungen einer Seele zeigen, der die Tatsache der Vergebung und Versöhnung neu bewusst geworden ist. Wir denken an David in Psalm 32, an Jesaja in Kapitel 6 seines Buches, an das bußbereite Israel, wie es in Jesaja 53 und Micha 7 beschrieben wird. Im Neuen Testament sind es Petrus, Matthäus, Zachäus, die samaritische Frau am Jakobsbrunnen. Später finden wir Paulus, wenn er den Zustand seines Herzens gegenüber dem Herrn Jesus in Galater 2,19-21 schildert. Das alles stimmt. Das sind alles Beispiele von der Kraft, die im Wissen um die Vergebung liegt. Doch ich wiederhole: Ich kenne keine andere Stelle, in der wir eine so ergreifende Illustration finden wie hier in Lukas 7. Die stadtbekannte Sünderin stellt uns das volle Mass und den vollkommenen Weg vor, wie das Bewusstsein der Vergebung und die Gewissheit der Annahme bei Gott das ganze Herz in Beschlag nehmen. Zugleich wird dieses Herz unter eine unbestrittene, unvergleichliche Autorität gestellt, die ihr leichtes und willkommenes Joch auf alles legt und das Herz mit der reichsten und grosszügigsten Zuneigung erfüllt.
Was wird es sein, ewig ein Herz zu haben, das von einer solchen Freude erfüllt ist, die sich auf das sichere Wissen um die Vergebung gründet!
Weitere Lektionen aus Lukas 7,36-50
Es gibt natürlich noch weitere Lektionen in dieser Begebenheit. Wir lernen aus ihr, dass alles zu seiner Zeit und an seinem Platz wieder zum Vorschein kommen wird. Sowohl der Dienst der Frau als auch die Nachlässigkeit Simons werden einmal vom Herrn hervorgeholt werden. Alles schien vorbei und vergessen zu sein, als diese Handlungen entweder getan oder eben nicht getan worden waren. Doch das stimmte nicht. Hier wird eine ernste und wichtige Wahrheit vorgestellt. Nichts ist unwichtig. Alles hat sein moralisches Gewicht, wobei die Grösse dieses Gewichts jetzt noch im Heiligtum Gottes verborgen ist, aber zu seiner Zeit einmal festgestellt werden wird. So war es auch hier: Die Küsse, die Tränen, das Abtrocknen mit den Haaren ihres Hauptes und das Salböl aus dem Alabasterfläschchen, die das Verhalten der Liebe der Frau prägen, stehen dem gegenüber, was der Pharisäer vernachlässigt hat. Alles wird vom Herrn in einem Augenblick wieder hervorgeholt, wenn es keinem von beiden bewusst ist. Wie geschrieben steht: «Der Herr jenes Knechtes wird an einem Tag kommen, an dem er es nicht erwartet, und in einer Stunde, die er nicht weiss» (Lk 12,46).
Diese Tatsache legt sich auf unser Herz. Haben wir in der Stille dem Herrn gedient? Denken wir an den Tag, an dem alles offenbar werden wird? Wie stehen wir zu diesem Tag? Ich stelle dies nicht als grundsätzliche Frage, sondern richte es als göttlichen Appell an mein Herz und meine Wege, damit ich mein gegenwärtiges Verhalten ins Licht der zukünftigen Tage stelle.
Am Ende dieser lehrreichen Geschichte macht der Herr die Errettung der Frau öffentlich bekannt. Er spricht so, dass alle, die mit Ihm zu Tisch sind, es hören können. In Gegenwart der ganzen Welt setzt Er sein gültiges Siegel auf die Tatsache, dass ihr alles vergeben ist – auch wenn es dabei anklagende Gedanken oder ungläubige Fragen geben mag. «Deine Sünden sind vergeben», sagt der Herr zu ihr. «Und die mit zu Tisch lagen, fingen an, bei sich selbst zu sagen: Wer ist dieser, der auch Sünden vergibt?» Es war die Stimme des Sohnes Gottes, der dem Wind und den Wellen gebot, die hier aufs Neue ertönte. Das Getuschel und die Anklagen wurden von der Frau nicht gehört. «Wer wird gegen Gottes Auserwählte Anklage erheben? name="_Hlk84263017">Gott ist es, der rechtfertigt» (Röm 8,33). Das genügte ihr.
Wenn der Herr sich nun von ihren Anklägern zu ihr wendet, ändert sich der Ton seiner Stimme. Er hat ihr etwas Persönliches zu sagen. Die Frucht der Vergebung ist Liebe, aber die Wurzel und die Quelle der Vergebung ist Glauben. Es war nicht ihre Liebe, so intensiv und selbstlos wie sie war, die sie gerettet hatte. Ihr Glaube ging der Errettung voraus, und zwar bevor sie in das Haus Simons zu Jesus kam. Die Liebe folgte darauf, wie wir gesehen haben. Darum sagt Er, wenn Er sich von ihren Anklägern zur Frau wendet: «Dein Glaube hat dich gerettet; geh hin in Frieden.» Weder die Liebe noch das, was sie als Folge der Errettung getan hat, wird jetzt erwähnt. Die Errettung ist aus Gnade und gründet sich auf das Blut des Herrn Jesus. Der Glaube erfasst dies und stützt sich darauf. Die Errettung kann nicht mit dem, was ein Mensch tut, auf eine Ebene gestellt werden. Sie steht viel höher. Sie ist das Werk Gottes und gilt für den, «der nicht wirkt». «Es ist aus Glauben, damit es nach Gnade sei» (Röm 4,5.16).