Widersprechen sich Jakobus und Paulus?
Beim Lesen des Jakobus-Briefs gewinnt man an der einen oder anderen Stelle den Eindruck, dass Jakobus etwas anderes sagt als Paulus. Dies gilt besonders, wenn es um das Kernthema «Glaube und Werke» geht. Wie kann man diesen scheinbaren Widerspruch erklären bzw. auflösen?
Jakobus behandelt in seinem Brief eine grosse Vielfalt von Themen, die sich jedoch unter zwei grossen Überschriften einordnen lassen. Erstens geht es um die Frage, wie Glaube und Werke miteinander verknüpft sind. Das Wort «Glauben» kommt 16-mal vor, das Wort «Werke» 15-mal. Eng damit verbunden ist die zweite Frage: Wie zeigt sich der Glaube ganz praktisch im Lebensalltag des Christen?
Der Reformator Martin Luther konnte zum Brief des Jakobus wohl keinen rechten Zugang finden. Er nannte ihn eine «stroherne Epistel». Das gründete sich vor allem darauf, dass Jakobus – zumindest auf den ersten Blick – das Thema «Glaube und Werke» anders darzustellen scheint als Paulus. Dabei geht es besonders um die Aussagen in Kapitel 2,14-26. Beim Lesen dieses Abschnitts kann tatsächlich der Eindruck entstehen, Jakobus schreibe gegen die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben, wie Paulus sie in seinen Briefen mitteilt.
Tatsache ist jedoch, dass Paulus und Jakobus einander überhaupt nicht widersprechen. Sie ergänzen sich vielmehr. Wenn wir einmal richtig verstanden haben, worauf es Jakobus ankommt und aus welcher Perspektive er über das Thema «Glaube und Werke» schreibt, löst sich die gestellte Frage.
Paulus zeigt, auf welche Weise ein Sünder vor Gott gerechtfertigt werden kann, nämlich nur durch den Glauben und nicht durch Werke (z.B. Röm 3,28; 4,5; Gal 2,16; Eph 2,8.9). Der Sünder kann Gott nichts anbieten, um von Ihm angenommen zu werden. Durch eigene Werke kann sich niemand den Himmel verdienen. Paulus hat somit Menschen im Visier, die noch nicht gerettet sind.
Jakobus zeigt, wie sich der Glaube in einem Menschen, der geglaubt hat, äussert – nämlich durch entsprechende Taten und Werke (z.B. Jak 2,14). Es geht darum, wie ein Mensch, der aus Glauben gerechtfertigt ist, im täglichen Leben als Gläubiger erkannt werden kann (z.B. Jak 2,17). Gute Werke sind bei Jakobus keine «Gesetzeswerke», sondern «Glaubenstaten». Diese Werke rechtfertigen nicht den Sünder vor Gott (Paulus), sondern den Gläubigen vor Menschen (Jakobus). Dabei darf nicht vergessen werden, dass Paulus diesen Aspekt in seinen Schriften ebenfalls wiederholt betont (z.B. Kol 1,10; Eph 2,10; Tit 2,14).
Paulus spricht von der christlichen Stellung. Jakobus spricht von der christlichen Praxis. Der Christ tut keine guten Werke, um den Glauben zu bekommen. Er tut gute Werke, weil er geglaubt hat!
Die göttliche «Reihenfolge» lautet deshalb:
Schritt 1: Das Heil (die Rettung des Menschen) ist aus Glauben (auf dem Grundsatz des Glaubens) und ohne Werke (nicht auf dem Grundsatz von Werken).
Schritt 2: Die Echtheit des Glaubens wird durch Werke bewiesen. Der Glaube zeigt sich bei Jakobus z.B.
- in Prüfungen (Kapitel 1,2-18),
- im Hören und Tun (Kapitel 1,19-27),
- in der Liebe und im Gehorsam (Kapitel 2,1-26),
- in der Weisheit (Kapitel 3,1-18),
- in Demut und Abhängigkeit (Kapitel 4,1-17),
- in Geduld und Hoffnung (Kapitel 5,1-12),
- im Gebet (Kapitel 5,13-18) und
- im Bemühen um Verirrte (Kapitel 5,19.20).
Jakobus nimmt den Leser mit in viele Lebenssituationen, in denen echter Glaube sichtbar wird. Der Glaube des Christen beweist sich in Prüfungen, die von Gott kommen. Er gleicht einem Schiff, dessen Seetüchtigkeit sich nicht im Hafen oder bei schönem Wetter zeigt, sondern gerade im Sturm.
Wenn wir diesen Grundgedanken gut im Auge behalten, können wir den Brief des Jakobus mit grossem inneren Gewinn lesen. Dann ist er keine «stroherne Epistel», sondern lebendiges und Leben veränderndes Wort Gottes.