Dieses Lied Moses, das ihn der HERR niederschreiben hiess (5. Mo 31,19), ist ein prophetischer Ausblick auf die Geschichte des Volkes Israel: auf dessen Abfall von dem lebendigen Gott, auf die Gerichte, die deshalb über das Volk kommen würden und auf dessen Wiederherstellung am Ende der Tage.
Angesichts dieser traurigen Untreue und Unbeständigkeit ruft der Gott Israels in diesem Lied mehrmals einen seiner besonderen Namen aus: Er ist der Fels.
«Der Fels, der dich gezeugt» (Vers 18)
Klingt das nicht eigenartig? Weshalb nennt sich Gott im Zusammenhang mit der Entstehung Israels «der Fels»? Es lag im festen, unabänderlichen Ratschluss Gottes, dieses Volk zu schaffen und es vor allen anderen Nationen dieser Erde zu segnen. Abraham, dem Vater dieses Volkes, gab Er deutliche Verheissungen:
- Ich werde dich reichlich segnen und deine Nachkommen sehr mehren, wie die Sterne des Himmels und wie der Sand, der am Ufer des Meeres ist (1. Mo 22,17).
- Das ganze Land, das du siehst, dir will ich es geben und deiner Nachkommenschaft bis in Ewigkeit (1. Mo 13,15).
- In deinem Nachkommen – gemeint ist Jesus Christus, der dem Fleisch nach aus Israel gekommen ist – werden sich segnen alle Nationen der Erde (1. Mo 22,18).
Diese Ratschlüsse und Verheissungen Gottes sind teilweise schon erfüllt und werden sich noch erfüllen, trotz der Untreue Israels und trotz der Wut seiner Feinde, die es im Lauf der Jahrhunderte immer wieder vernichten wollten. So wie der HERR, der Fels, es bei sich beschlossen hat, so ist es gekommen: Er hat Israel gezeugt, es wurde ein grosses Volk, das sich im verheissenen Land niederliess; Christus, der «Nachkomme» Abrahams, ist gekommen und hat am Kreuz ein Heil gegründet, aufgrund dessen nicht nur Israel, sondern einst auch alle Nationen der Erde gesegnet werden. «Die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar» (Röm 11,29) – «Treu ist er, der die Verheissung gegeben hat» (Heb 10,23).
«Der Fels seiner Rettung» (Vers 15)
In Ägypten war es, wo Israel, «das zählbare Häuflein», zu einer grossen Nation wurde. Aber hier geriet es auch unter die grausame Knechtschaft Pharaos, dem es Frondienst leisten musste (1. Mo 15,13).
Der HERR, ihr Fels, hatte sich jedoch vorgesetzt, sie zur bestimmten Zeit mit ausgestrecktem Arm und durch grosse Gerichte aus dieser Sklaverei zu erlösen (2. Mo 6,6). Wer vermochte Ihn daran zu hindern? Als Pharao versuchte, «dem Fels der Rettung» zu widerstehen, wurden seine Wagen und seine Heeresmacht ins Meer gestürzt.
Wie viel grösser noch ist die Rettung oder Errettung, die Gott durch Jesus Christus, seinen Sohn, zur Ausführung brachte! Da ging es um die Errettung der Menschen aus der Gewalt Satans, aus der Knechtschaft der Sünde, aus dem Zustand des Verderbens! Diese Rettung ist nicht nur für Israel, sondern für alle Menschen: «Ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt, um meine Rettung zu sein bis an das Ende der Erde.» (Jes 49,6).
Gott hat alle Widerstände, die diesem Heil entgegenstanden, überwunden, und Christus machte sein Angesicht «wie einen Kieselstein» (Jes 50,6.7), um unaufhaltsam den Weg voranzuschreiten, der Ihn durch Schmach und Leiden ins Gericht Gottes und in den Tod führte, aber auch zur Auferstehung und Verherrlichung, zur Vollbringung des Ihm aufgetragenen Werkes.
Der Herr Jesus selbst ist nun allen, die Ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils geworden (Heb 5,9), mit allen Ergebnissen und Segnungen, die es umfasst. Er selbst ist der «Fels unseres Heils», wie Er in den Psalmen genannt wird (Ps 18,47; 95,1). Der Erlöste steht für immer auf dieser sicheren, unerschütterlichen Grundlage. Nicht die eigenen Anstrengungen der Selbsterlösung vermochten mich aus dem Sumpf der Sünde herauszuheben. Gott selber hat mich durch Christus «heraufgeführt aus der Grube des Verderbens, aus kotigem Schlamm; und er hat meine Füsse auf einen Felsen gestellt, meine Schritte befestigt» (Ps 40,3). Wahrlich, wie hoch und sicher ist die Stellung, in die ich «in Christus» erhoben worden bin, und wie fest und unauflöslich die Kindesbeziehungen zu Gott, dem Vater, in die ich durch Ihn eingeführt wurde!
«Der Fels: vollkommen ist sein Tun» (Vers 4)
Könnte für das Tun Gottes gegenüber seinem Volk eine bessere Überschrift als diese gefunden werden? «Jakob» – das Volk in seiner eigenen Natur gesehen: ungehorsam und widerspenstig, unzufrieden und murrend – zog einst vom Roten Meer zum Jordan. Da fand ihn der HERR «im Land der Wüste und in der Öde, dem Geheul der Wildnis» – ein Volk ohne Schutz, ohne Marschplan, ohne Brot und ohne Wasser. Aber Er «umgab ihn, gab acht auf ihn, er behütete ihn wie seinen Augapfel» (5. Mo 32,10).
Nehemia sagte später, im Rückblick auf jene Zeit in einem Gebet: Trotz aller Treulosigkeit Israels «verliessest du in deinen grossen Erbarmungen sie doch nicht in der Wüste. Die Wolkensäule wich nicht von ihnen bei Tag, um sie auf dem Weg zu leiten, noch die Feuersäule bei Nacht, um ihnen den Weg zu erleuchten, auf dem sie ziehen sollten. Und du gabst ihnen deinen guten Geist, um sie zu unterweisen; und dein Manna versagtest du nicht ihrem Mund, und du gabst ihnen Wasser für ihren Durst. Und vierzig Jahre lang versorgtest du sie in der Wüste, sie hatten keinen Mangel; ihre Kleider zerfielen nicht, und ihre Füsse schwollen nicht» (Neh 9,19-21).
Die Wüste dieser Welt ist ein Gebiet, worin das Volk Gottes und der Einzelne Erfahrungen macht von der eigenen Schwachheit, Verkehrtheit und Unzulänglichkeit, vom Wesen der Welt, aber auch vom Wesen Gottes: «Ein Gott der Treue und ohne Trug, gerecht und gerade ist er» (5. Mo 32,4), dabei aber auch «ein Gott der Vergebung, gnädig und barmherzig, langsam zum Zorn und gross an Güte» (Neh 9,17).
Die Wüste ist sozusagen der Exerzierplatz für die Gläubigen. Gott hat ein Ziel mit ihnen und erzieht sie zu diesem Ziel hin. Auch hierin ist Er ein unbeugsamer Fels. Er gibt nicht nach. Seine weisen Absichten der Treue und Liebe will Er erreichen, auch wenn es Opfer kostet, die uns unverständlich sind und zu gross erscheinen mögen, wie im Fall eines Hiob. Aber gerade dieser Mann durfte erfahren, wie die ihm von Gott auferlegten Trübsale und schmerzlichen Prüfungen zu doppelten Segnungen führten. Im 11. Vers unseres Kapitels wird uns in so rührender Weise vorgestellt, wie Gott bei seinem Erziehungswerk vorgeht: «Wie der Adler sein Nest aufstört, über seinen Jungen schwebt, seine Flügel ausbreitet, sie aufnimmt, sie auf seinen Schwingen trägt; so leitete ihn der HERR allein.» Wie diese Jungen des Adlers, so sind auch wir geneigt, uns auf das «Nest», auf die angenehmen Umstände, auf die Menschen, auf das Sichtbare zu stützen. Aber Gott will uns dazu führen, dass wir jederzeit und in allem unser Vertrauen auf Ihn allein setzen, ähnlich wie die aufgestörten jungen Vögel, über dem Abgrund flatternd, beim Adler Hilfe suchen und sich auf seine starken Schwingen setzen.
Den Felsen … verachten (Vers 15)
Wenn wir nicht unsere eigenen Herzen kennten, fänden wir es unverständlich, dass das Volk Israel sich von einem solchen «Felsen» wegwandte!
Er hatte es doch gezeugt und geboren, war der Fels seiner Rettung geworden, hatte es in seiner unendlichen Langmut und Güte mit allem versorgt, ins verheissene Land geleitet und dort mit reichen irdischen Segnungen überschüttet!
Hätte das alles nicht Gegenliebe, treue Nachfolge und Dankbarkeit hervorrufen müssen?
Stattdessen wurde Jeschurun (ein poetischer Beiname Israels) fett, dick und feist. Er verliess den Gott, der ihn gemacht und diente fremden Göttern (Verse 15 und 16).
Ist das nicht eine ernste Mahnung auch für uns, für die sich unser grosser Gott und Heiland Jesus Christus hingegeben hat, «damit er uns von aller Gesetzlosigkeit loskaufte und sich selbst ein Eigentumsvolk reinigte, das eifrig sei in guten Werken»? (Tit 2,4).
Beim Volk Israel begann das Abgleiten damit, dass es den Felsen, der es gezeugt hatte, vernachlässigte und vergass (Vers 18). Bald aber verachtete es Ihn auch (Vers 15), indem es die Götter der umliegenden Nationen Ihm vorzog und ihnen diente.
Wie nötig haben wir doch, über unser eigenes Herz zu wachen, dass es in dieser Zeit äusseren Wohlstandes und Friedens nicht fett, dick und feist werde, ohne Appetit für die Dinge Gottes! Wie leicht werden wir erfüllt von allen möglichen Dingen, die wir «mehr lieben» als den, der sich für uns hingegeben, uns errettet und erkauft hat! Verachten dann nicht auch wir den «Felsen unserer Rettung»?
Möge Er uns «ein Fels zur Wohnung» sein, «zu dem wir stets gehen können» (Ps 71,3), nicht nur, um dort in äusseren Schwierigkeiten und Gefahren Schutz zu finden, sondern auch um vor den Einflüssen der uns umgebenden Welt und ihres Fürsten bewahrt zu bleiben.