Gnade, Friede, Barmherzigkeit, Liebe

Die auf den ersten Blick vielleicht etwas willkürlich erscheinende Zusammensetzung der vier Ausdrücke in der Überschrift erklären sich leicht, wenn wir die Grussworte in den 21 Briefen des Neuen Testaments lesen und miteinander vergleichen. Wir sind vielleicht manchmal geneigt, die Einleitungen und Segenswünsche in den Briefen schnell zu überlesen, um uns mit ihrem eigentlichen Inhalt zu beschäftigen. Ein sorgfältiges und vergleichendes Studium der Einleitungsverse ist aber nicht nur interessant, sondern auch von grossem Segen. Nicht umsonst hat der Heilige Geist die verschiedenen Schreiber der Briefe (Paulus, Petrus, Johannes, Jakobus und Judas) geleitet, den jeweiligen Briefempfängern in zum Teil unterschiedlicher Art und Weise klarzumachen, was sie ihnen wünschen.

Nachstehende Übersicht zeigt die einzelnen Segenswünsche in den verschiedenen Briefen im Überblick:

Römer: Gnade und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus

1. Korinther: Gnade und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus

2. Korinther: Gnade und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus

Galater: Gnade und Friede von Gott, dem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus

Epheser: Gnade und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus

Philipper: Gnade und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus

Kolosser: Gnade und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus

1. Thessalonicher: Gnade und Friede

2. Thessalonicher: Gnade und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus

1. Timotheus: Gnade, Barmherzigkeit, Friede von Gott, dem Vater, und Christus Jesus, unserem Herrn

2. Timotheus: Gnade, Barmherzigkeit, Friede von Gott, dem Vater, und Christus Jesus, unserem Herrn

Titus: Gnade und Friede von Gott, dem Vater, und Christus Jesus, unserem Heiland

Philemon: Gnade und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus

Hebräer: Kein besonderer Gruss

Jakobus: Kein besonderer Gruss

1. Petrus: Gnade und Friede sei euch vermehrt

2. Petrus: Gnade und Friede sei euch vermehrt in der Erkenntnis Gottes und Jesu, unseres Herrn

1. Johannes: Kein besonderer Gruss

2. Johannes: Gnade, Barmherzigkeit, Friede von Gott, dem Vater, und von dem Herrn Jesus Christus, dem Sohn des Vaters, in Wahrheit und Liebe

3. Johannes: Kein besonderer Gruss

Judas: Barmherzigkeit und Friede und Liebe sei euch vermehrt

Briefe an örtliche Versammlungen

Ein erster Vergleich zeigt einen Unterschied zwischen den Briefen, die sich direkt an eine örtliche Versammlung richten, und denen, die entweder an einzelne Personen oder an eine Gruppe von Personen (aber nicht an eine örtliche Versammlung) gerichtet sind. In den Briefen an örtliche Versammlungen – also an die Römer, Korinther, Galater, Epheser, Philipper, Kolosser und Thessalonicher – sind es grundsätzlich immer Gnade und Friede, die gewünscht werden. Hinzuzählen können wir auch den Brief an Philemon, der zwar einerseits an eine Einzelperson, gleichzeitig aber auch an die Versammlung im Haus von Philemon gerichtet war. Auch hier lautet der Gruss: Gnade und Friede.

Weiter fällt auf, dass es bis auf zwei Ausnahmen immer heisst: «von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus.» Damit wird auf die Stellung der örtlichen Versammlung hingewiesen. Sie steht in einer unmittelbaren Beziehung zu Gott, dem Vater, und zum Herrn Jesus Christus. Die Versammlung ist die Versammlung des lebendigen Gottes, die Er sich erworben hat durch das Blut seines Eigenen (Apg 20,28). Das ist wahr für die Versammlung im Allgemeinen. Das Zitat aus Apostelgeschichte 20 macht aber deutlich, dass es auch für jede örtliche Versammlung gilt, denn Paulus sagt es dort in Verbindung mit dem Aufseherdienst der Ältesten in Ephesus, der ortsgebunden war, wie es jeder Aufseherdienst ist.

Was damals für die Versammlungen der ersten Jahrzehnte Gültigkeit hatte, ist auch heute noch wahr. Jede örtliche Versammlung darf wissen, dass sie in einer ganz bewussten Beziehung zu Gott als Vater und zu Jesus Christus als Herrn steht. Die Erinnerung daran darf unser Herz glücklich machen. Auch in Tagen von Verfall und Niedergang, von Fehlern und Unzulänglichkeiten, von Streit und Zerrissenheit bleibt es doch wahr, dass die Versammlung die Versammlung Gottes ist, die Er sich durch das Blut des Herrn Jesus erworben hat. Wir dürfen Gott als unseren gemeinsamen Vater kennen, und wir haben es mit dem Herrn Jesus Christus zu tun.

Auffallend sind die beiden Ausnahmen im Galater- und 1. Thessalonicher-Brief. Auch wenn einige Handschriften in Galater 1,3 lesen: «Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater» heisst es in der überarbeiteten Elberfelder-Übersetzung sicher nicht ohne Grund: «Gnade euch und Friede von Gott, (dem) Vater, und unserem Herrn Jesus Christus.» Der Inhalt des Galaterbriefs ist überaus ernst, und das mag der Grund dafür sein, dass Paulus sich in diesem Fall nicht durch den Gebrauch des Wortes «unser» mit den Galatern verbindet, sondern eher allgemein von Gott in seinem Charakter als Vater spricht. Im 1. Thessalonicher-Brief haben wir eine ganz andere Sachlage. Dort betont Paulus gerade in der Einleitung besonders, dass die Versammlung der Thessalonicher eine Versammlung «in Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus Christus» ist (Kap. 1,1). Danach wünscht er Gnade und Frieden, und es liegt auf der Hand, dass beides natürlich von Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus ist, ohne dass dies noch einmal erwähnt wird.

Die persönlichen Briefe

Es sind dies die Briefe von Paulus an Timotheus und an Titus. Zu beiden Mitarbeitern hatte der Apostel ein besonderes Verhältnis, wobei die Beziehung zu Timotheus vermutlich enger war als zu Titus. Letzterer war offensichtlich älter und besass einen stärkeren Charakter als Timotheus. Das mag auch der Grund sein, warum Paulus Timotheus nicht nur Gnade und Frieden wünscht, sondern auch von Barmherzigkeit spricht. Barmherzigkeit hat es ganz besonders mit unseren Umständen zu tun, in denen Gott bei uns sein möchte. Genau das war es, was Timotheus als Ermunterung vielleicht mehr brauchte als Titus.

Die allgemeinen Briefe

Beim Lesen der übrigen Briefe fällt auf, dass der Hebräer-Brief, der 1. und 3. Johannes-Brief und der Jakobus-Brief keine einleitenden Hinweise auf Gnade, Friede, Barmherzigkeit oder Liebe enthalten.

Die Gründe für das Fehlen beim Hebräer- und 1. Johannes-Brief liegen auf der Hand. Beide Briefe beschäftigen uns – wenn auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise – mit der Herrlichkeit der Person des Herrn Jesus und enthalten deshalb weder eine Einleitung noch einen direkten Hinweis auf den Schreiber des Briefes. Deshalb fehlt auch der persönliche Segenswunsch. Der 3. Johannes-Brief basiert auf einem sehr guten Seelenzustand des Empfängers Gajus (V. 2), was der Grund dafür sein mag, dass kein besonderer Segenswunsch ausgesprochen wird.

Der Jakobus-Brief nimmt unter den Briefen des Neuen Testaments eine Sonderstellung ein. Zum einen ist er vermutlich zeitlich der erste Brief überhaupt, der von einem inspirierten Schreiber verfasst wurde, zum anderen ist er der einzige Brief, der sich an die zwölf Stämme des Volkes Israel richtet und damit Christen und Nichtchristen gleichermassen anspricht. Das mag der Grund dafür sein, dass Jakobus lediglich sagt: «Jakobus … den zwölf Stämmen, die in der Zerstreuung sind, seinen Gruss» (Kap. 1,1).

Petrus schreibt in beiden Briefen: «Gnade und Friede sei euch vermehrt», und er gibt im 2. Brief auch an, wie das geschehen kann, nämlich «in der Erkenntnis Gottes und Jesu, unseres Herrn» (2. Pet 1,2). Anders als Paulus wünscht er den Empfängern nicht einfach Gnade und Friede, sondern er wünscht ihnen ein vermehrtes Empfinden dieser göttlichen «Qualitäten». Petrus schreibt sehr persönlich, und es ist gut möglich, dass er deshalb diese etwas von Paulus abweichende Ausdrucksweise wählt.

Sowohl der 2. Johannes-Brief als auch der Judas-Brief zeichnen sich durch einen besonderen Segenswunsch aus. Johannes erwähnt in seinem Brief an die auserwählte Frau wie Paulus an Timotheus Gnade, Barmherzigkeit und Friede und fügt dann noch die bedeutsamen Worte hinzu: «von Gott, dem Vater, und von dem Herrn Jesus Christus, dem Sohn des Vaters, in Wahrheit und Liebe.» Die Gefahren für die Briefempfängerin waren nicht zu unterschätzen, denn die Person des Sohnes Gottes wurde angegriffen. Deshalb wird schon im Segenswunsch darauf hingewiesen, dass Gnade, Barmherzigkeit und Friede nur im Sohn des Vaters, in Wahrheit und Liebe zu finden sind. Das ist heute nicht anders.

Judas ist der einzige Schreiber überhaupt, der die Barmherzigkeit an die erste Stelle setzt. Er wendet sich in seinem Brief an berufene Heilige, die in einer schweren Zeit lebten. Sein Brief gleicht einem dunklen Gemälde und beschreibt uns die Entwicklung des christlichen Bekenntnisses auf dieser Erde. Angesichts dieser Entwicklung wird die Barmherzigkeit, d.h. das göttliche Erbarmen über Personen, die sich in solch ernsten Umständen befinden, an die erste Stelle gesetzt. Danach wird der Friede erwähnt, und wiederum als einziger von allen spricht Judas vom vermehrten Empfinden der göttlichen Liebe.

Beschäftigen wir uns jetzt noch kurz mit dem, was Gnade, Friede, Barmherzigkeit und Liebe für uns bedeuten.

Gnade

Wenn die Gnade erwähnt wird, dann steht sie immer am Anfang. Gnade entspringt dem Herzen Gottes und ist seine – aus unserer Sicht als Empfänger – völlig unverdiente Zuwendung. Gott gibt, weil Er der «Gott aller Gnade» ist (1. Pet 5,10). Seine Gnade war in der Vergangenheit tätig, denn es ist Gnade, die uns errettet hat (Eph 2,5.8). Seine Gnade ist in der Gegenwart für uns tätig. Es ist Gnade, die uns durch alle Umstände hindurchträgt, denn seine Gnade genügt uns (2. Kor 12,9). Göttliche Gnade schliesslich ist es, die uns in der Zukunft ans Ziel bringen wird. Wir dürfen völlig auf die Gnade hoffen, die uns bei der Offenbarung des Herrn Jesus gebracht werden wird (1. Pet 1,13).

Wenn nun in den Briefen Gnade gewünscht wird, dann ist damit ohne Frage das Bewusstsein der gegenwärtigen Gnade, in der wir stehen, im Vordergrund zu sehen. Gott möchte, dass wir im tiefen Empfinden, dass Er alle unsere Bedürfnisse kennt und ihnen entsprechen kann und wird, unseren Weg gehen. Die einzelnen Briefe widerspiegeln deutlich, dass unsere Bedürfnisse und Umstände sehr verschieden sind, aber eines ist immer gleich: Wir brauchen die göttliche Gnade, die Gnade unseres Gottes und Vaters und die Gnade unseres Herrn Jesus Christus.

Barmherzigkeit

Gnade und Barmherzigkeit sind nahe verwandt. Beide kommen von Gott und beide sind unverdient. Auch Barmherzigkeit hat es mit unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart und unserer Zukunft zu tun. Gott ist «reich an Barmherzigkeit» und hat uns errettet (Eph 2,4). Seine Barmherzigkeit und Hilfe empfangen wir täglich, wenn wir uns zum Thron der Gnade wenden (Heb 4,16). Barmherzigkeit schliesslich ist es, auf die wir hoffen dürfen, wenn der Herr Jesus kommt, um uns in den völligen Genuss des ewigen Lebens zu bringen (Jud 21).

Gnade und Barmherzigkeit finden beide ihren Ursprung in Gott. Wenn wir vorsichtig unterscheiden wollen, dann scheint der Unterschied darin zu liegen, dass Barmherzigkeit (Erbarmen) immer einen elenden und bemitleidenswerten Zustand dessen voraussetzt, an dem Barmherzigkeit geübt wird. Gott ist «der Gott aller Gnade», unabhängig davon, ob diese Gnade einen Gegenstand findet oder nicht. Doch Gott wird nicht der Gott aller Barmherzigkeit genannt, weil Barmherzigkeit Menschen voraussetzt, an denen diese Barmherzigkeit geübt werden kann. Gott sei Lob und Dank: Er hat unseren bemitleidenswerten und traurigen Zustand gesehen und Barmherzigkeit geübt. Und jeden Tag dürfen wir neu mit der Barmherzigkeit unseres Herrn rechnen. Unsere Lebensumstände sind verschieden, doch wir alle brauchen die Barmherzigkeit unseres Gottes jeden Tag aufs Neue. Wir dürfen darauf bauen und im tiefen Bewusstsein unseren Weg gehen, dass Er auch in notvollen Umständen das gibt, was wir benötigen.

Der Prophet Jeremia hatte seinen Gott ohne Frage in einer anderen Weise kennen gelernt als wir, und doch hatte er ein tiefes Empfinden sowohl der Gnade als auch der Barmherzigkeit Gottes, wenn er schreibt: «Es sind die Gütigkeiten des Herrn, dass wir nicht aufgerieben sind; denn seine Erbarmungen sind nicht zu Ende» (Klgl 3,22). Dieser alttestamentlichen Aussage stimmen wir gern und von Herzen zu.

Friede

Das Ergebnis von Gnade und Barmherzigkeit ist Friede. Deshalb wird der Friede – wenn er erwähnt wird – immer nach Gnade bzw. Barmherzigkeit genannt. Wir können das gut verstehen. Nur ein Mensch, der im tiefen Bewusstsein lebt, durch Gnade gerettet zu sein, kann den Frieden mit Gott geniessen. Nur ein Mensch, der ein tiefes Bewusstsein davon hat, täglich von der Gnade Gottes zu leben, kann den Frieden Gottes geniessen. Wer den «Gott aller Gnade» nicht kennt, weiss auch nichts von dem «Gott des Friedens» (Röm 15,33).

Paulus befand sich oft in äusserst schwierigen Situationen. Aber er hatte gelernt, sein Genüge in der Gnade Gottes zu finden. Deshalb war er auch in notvollen Umständen in innerem Frieden. Wie hätte er sonst, in Ketten liegend, Loblieder singen können? Wie hätte er sonst aus dem Gefängnis in Rom so manches Mut machende Wort schreiben können? Wie hätte er sonst, den sicheren Tod vor Augen, sein Vertrauen auf Gott zum Ausdruck bringen können? Niemand von uns wird sich mit diesem besonderen Gottesmann vergleichen wollen, aber Gott stellt uns dessen Leben doch als ein Beispiel vor. Wer aus der Gnade lebt, wer die Barmherzigkeit Gottes erfährt, der hat inneren Frieden und innere Ruhe.

Liebe

Wie bereits bemerkt, wird die Liebe als einleitender Segenswunsch nur im Judasbrief erwähnt. Der Zusammenhang macht klar, dass es hier wohl nicht in erster Linie um unsere vermehrte Liebe untereinander geht, auch nicht um eine wachsende Liebe unsererseits zu Gott und zu unserem Herrn – beides möge der Herr geben –, sondern darum, dass wir ein immer tieferes Bewusstsein der göttlichen Liebe zu uns haben. «Gott ist Liebe», so schreibt es der Apostel Johannes zweimal (1. Joh 4,8.16). Die ganze Tragweite dieser Aussage vermögen wir nicht zu erfassen. Und doch dürfen wir uns täglich neu in dieses Meer der Liebe versenken. Wenn alles um uns her aus dem Gleichgewicht geraten mag, wenn das christliche Glaubensgut zunehmend angegriffen wird – eines wird uns immer bleiben: die Liebe unseres Gottes und Vaters und die Liebe unseres Herrn und Heilands, Jesus Christus. Dafür dürfen wir Ihm jeden Tag danken.