Das Kreuz Christi und der Christ

Die Hinweise in den Briefen auf das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus haben eine grosse Bedeutung für das Leben des Gläubigen. Sie zeigen, dass sich die Auswirkungen dieses Kreuzes nicht nur auf den Anfang, sondern auch auf unsere ganze Laufbahn hier auf der Erde erstrecken.

Die Predigt des Kreuzes

Im ersten Brief an die Korinther zeigt der Apostel, dass das Kreuz Christi das Hauptthema der Evangeliums­verkündigung ist. Der gekreuzigte Christus war zwar ein Anstoss für die Juden und eine Torheit für die Griechen, aber Er war und ist Gottes Kraft und Gottes Weisheit für alle Berufenen (1. Kor 1,17.18.23.24).

Als daher Paulus Korinth besuchte, um dort das Evangelium zu verkündigen, «hielt er nicht dafür, etwas unter ihnen zu wissen, als nur Jesus Christus und ihn als gekreuzigt» (1. Kor 2,2). Dass er Ihn so verkündigte, war ein Schlag ins Gesicht für die stolzen Zuhörer. Die feierliche Tatsache des Kreuzes war ein Beweis ihrer Unwissenheit. Denn weil keiner von den Fürsten dieses Zeitlaufs die Weisheit Gottes erkannte, darum haben sie den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt (1. Kor 2,8).

Aus diesen Schriftstellen geht die Stellungnahme der Welt – besonders der religiösen und der intellektuellen Welt – gegenüber dem Kreuz Christi deutlich hervor. Sie blicken auf die Kreuzigung mit Widerwillen und Verachtung, denn sie sehen den Herrn nur als «in Schwachheit gekreuzigt», und wissen nicht, dass Er «auferweckt wurde in Kraft».

Das Kreuz und die Versöhnung mit Gott

Das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus stellt den Höhepunkt der Schuld und Auflehnung des Menschen gegenüber Gott dar. Gleichzeitig ist es aber auch der Boden der Gerechtigkeit, auf dem der Thron der Gnade Gottes für die Menschheit aufgerichtet worden ist. Das Kreuz Christi ist daher der Zentralpunkt in der göttlichen Heilsgeschichte. In Kolosser 1,20, wo der Apostel vom Kreuz schreibt in Verbindung mit der Versöhnung aller Dinge mit Gott, sagt er: Jesus hat «Frieden gemacht durch das Blut seines Kreuzes». Das Blut war nötig zur Sühnung der Sünden. Aber dort war nicht nur der Tod, sondern «der Tod am Kreuz» (Phil 2,8). Das Kreuz ist das grosse Zeugnis davon, dass die Welt als solche unversöhnlich ist mit Gott. Es ist das Urteil der Welt gegenüber seinem geliebten Sohn, der in diese Welt gekommen ist, damit die Welt durch Ihn errettet würde.

Aber am Kreuz wurde das Sühnungsblut für die Sünde vergossen, das jetzt für die Gläubigen und im kommenden Tausendjährigen Reich für die Welt als Ganzes die Grundlage der Versöhnung bildet. «Er hat Frieden gemacht durch das Blut seines Kreuzes».

Auch im Epheserbrief wird das Kreuz in Zusammenhang gebracht mit der Versöhnung, jedoch mit dem Hinweis, dass beide, sowohl Juden als Nationen, durch den Glauben auf einen Boden vor Gott hingestellt worden sind. Vor Golgatha gab es eine anerkannte Zwischenwand zwischen Juden und Nationen. Aber beide Gruppen haben sich freiwillig zusammengetan, um den Herrn der Herrlichkeit zu kreuzigen, und so tragen sie beide die Schuld an seinem Tod. Gottes Antwort in Gnade auf diese Sünde war die Aufhebung des alten Unterschiedes und die Zusammenfassung der Gesamtheit der Gläubigen in einem Leib, ungeachtet ihrer Nationalität. So lesen wir, dass Er «abgebrochen hat die Zwischenwand der Umzäunung», um «die beiden in einem Leib mit Gott zu versöhnen durch das Kreuz, nachdem er durch dieses die Feindschaft getötet hatte» (Eph 2,13-16).

Befreiung vom Gesetz, vom Fleisch und von der Welt

Im Brief an die Galater führt der Apostel das Kreuz Christi ein, um die dadurch entstandene dreifache Befreiung für den Gläubigen hervorzuheben. Diese Befreiung ist eine vollendete Tatsache, wie auch das Werk Christi am Kreuz vollkommen und endgültig ist; und alle die glauben, haben teil an diesen Ergebnissen.

1. Befreiung vom Gesetz

Durch das Gesetz Mose wurde ein Fluch gelegt

  1. auf jeden, der nicht ununterbrochen dessen Vorschriften gehorchte: «Verflucht sei, wer nicht aufrechterhält die Worte dieses Gesetzes, sie zu tun!» (5. Mo 27,26; Gal 3,10); und
  2. auf jeden, der verurteilt wurde, an ein Holz gehängt zu werden: «Ein Fluch Gottes ist ein Gehängter» (5. Mo 21,23; Gal 3,13).

Da alle, denen das Gesetz gegeben worden war, der Übertretung schuldig waren, lag das ganze Volk unter dem Fluch. Aber der Herr Jesus, der gekreuzigt worden ist und also «am Holz hing», wurde zum Fluch gemacht. Darum erklärt der Apostel: «Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist». Den Strafansprüchen des Gesetzes wurde somit durch den Herrn Jesus auf dem Kreuz Genüge getan. Als Ergebnis geht daraus hervor: Der gläubige Jude ist vom Gesetz und seiner furchtbaren Strafe losgekauft worden und der Segen Abrahams ist durch Jesus Christus auf die Nationen gekommen.

2. Befreiung vom Fleisch

Im Brief an die Galater wendet der Apostel diesen Grundsatz auf den Wandel der Gläubigen an. Ihr Wandel kann, wie er zeigt, entweder unter dem Impuls und der Leitung ihres eigenen Fleisches oder unter dem Antrieb und der Führung des Heiligen Geistes stehen. Aber Paulus ermahnt sie, im Geist zu wandeln. Er gründet seine Ermahnung auf ihre Einsmachung mit Christus in seiner Kreuzigung (Gal 2,20, Röm 6,6) und sagt: «Die aber des Christus sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und den Begierden (Gal 5,24).

Der Apostel drückt sich genau aus. Er sagt nicht: «die, die das Fleisch kreuzigen» und auch nicht: «die es kreuzigen werden», als ob erwartet würde, dass sie diese Handlung selber ausführten. Tatsache ist, dass es für die, die des Christus sind, schon geschehen ist. Er kann daher fortfahren: «Wenn wir durch den Geist leben, so lasst uns auch durch den Geist wandeln».

3. Befreiung von der Welt

Der Apostel zeigt im Weiteren auch, dass uns das Kreuz nicht nur von der fleischlichen Religion des Judentums und von unserer eigenen selbstsüchtigen und bösen Natur, sondern auch von der Welt befreit hat. Damit meint er die zu einem System gewordene Lebensordnung um uns herum, in dem Gott nicht anerkannt und in dem der gekreuzigte Heiland verachtet wird. Paulus frohlockt in seiner Befreiung von der Welt, obwohl sie ihm Anteil an der Schmach des Kreuzes brachte: «Von mir aber sei es fern, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt» (Gal 6,14).

Wie war dieses Wort dazu angetan, jene Christen in den galatischen Versammlungen zu beschämen, die fürchteten, «dass sie um des Kreuzes Christi willen verfolgt werden könnten»! In einem anderen Brief nennt Paulus solche Christen «die Feinde des Kreuzes Christi» (Phil 3,18). Der Apostel rühmt sich der Tatsache, dass das Kreuz für ihn persönlich Schluss machte mit der Welt; sie war für ihn gekreuzigt. Noch mehr: das Kreuz war auch hinsichtlich seiner Beziehungen zur Welt das Ende seiner selbst; auch er war der Welt gekreuzigt («und ich der Welt»). Die Welt betrachtete Paulus, der Christus nachfolgte, mit Abscheu und Verachtung, als eine gekreuzigte Person, gerade so, wie sie auch seinen und unseren Meister betrachtete und noch immer einschätzt.

Diese Einsmachung mit dem Kreuz unseres Herrn Jesus Christus war die normale Stellung des Apostels als Christ, und das trifft auch auf alle Gläubigen zu. Aber wie viele unter ihnen nehmen diese Stellung ein, in ihrer vollen Bedeutung? Es ist nicht etwas, das wir uns erst noch durch Selbstkasteiung erwerben müssen. Wir können in dieser Stellung vorangehen, weil sie für uns schon vollendete Tatsache ist.

Sich des Kreuzes Christi rühmen

Die Einsmachung mit Christus auf dem Kreuz gilt für alle Gläubigen, aber das «sich dessen Rühmen» ist eine ganz persönliche Sache des Einzelnen. Deshalb kommen die Worte des Paulus aus seinem eigenen Herzen: «Von mir aber sei es fern, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus.» Er sagt «unser», wenn er vom Herrn spricht, aber «mich zu rühmen» … «mir gekreuzigt» … «ich der Welt». So auch in einem früheren Kapitel: «Ich bin mit Christus gekreuzigt; und nicht mehr lebe ich». Viele Seelen sind schon bis ins Innerste ergriffen worden durch die geisterfüllten Worte des Paulus in diesen Kapiteln. Sie suchten ihm nachzueifern, und sich auch des Kreuzes Christi zu rühmen, das die Grundlage war für ihre Verbindung mit ihrem abwesenden und verworfenen Meister. Die, die des Christus sind, sollten sich seines Kreuzes rühmen, das sie von der Welt absondert.

So ist also jeder Gläubige in die gleiche Stellung gebracht, in der der gekreuzigte Christus zu dieser Welt stand; denn auch er ist gekreuzigt. Dabei sollte aber der andere Gesichtspunkt nicht übersehen werden, dass es auf dem Kreuz auf Golgatha sühnende Leiden gab, die niemand mit Christus teilen kann … Aber obwohl der Herr in diesem Sinn auf Golgatha allein war, so wurde doch ein Räuber mit Ihm gekreuzigt, der am selben Tag mit Ihm ins Paradies ging.

Die gegenwärtige Vereinigung mit dem Gekreuzigten wird gebührend belohnt werden am Tag der Erscheinung Christi. Wer jetzt mit Ihm leidet, wird dann mit Ihm regieren. Wer hier seine Schmach getragen hat, wird dann mit Ihm in Herrlichkeit erscheinen. Die Juden, die Ihn kreuzigten, werden auf Ihn blicken, den sie durchbohrt haben (Off 1,7; Sach 12,10). Noch mehr: sie werden in seinem Gefolge die sehen, die mit Ihm gekreuzigt waren.

Die Zeit ist kurz. Das Kommen des Herrn steht nahe bevor. Weshalb sollten wir wie einige der Galater uns fürchten, verfolgt zu werden um des Kreuzes Christi willen?

Vom Kreuztragen des Jüngers

Der Herr Jesus lehrte seine Jünger, kurze Zeit vor seiner Kreuzigung, dass es für die Nachfolge nötig war, das Kreuz aufzunehmen. Es ist wichtig, dieses Bild zu unterscheiden von dem, was wir soeben betrachtet haben. Der Begriff «Kreuz» in den Evangelien ist eng verwandt mit dem Begriff «Kreuz» in den Briefen, aber doch hat jeder dieser Begriffe seine Besonderheit. Es ist klar, dass einer, der schon auf ein Kreuz genagelt ist, nicht aufgefordert werden kann, es aufzunehmen und zu tragen; denn der Gekreuzigte wird selber vom Kreuz getragen.

Wir finden in den Evangelien, dass unser Herr, als Er das Prätorium verliess, sein Kreuz trug und zu dem Ort hinausging, wo Er gekreuzigt wurde (Joh 19,17). Sie ergriffen dann Simon von Kyrene und zwangen ihn, das Kreuz Jesu nachzutragen (Lk 23,26). Das Kreuz verkündigte jedermann in den Strassen Jerusalems, dass der Herr Jesus zum Kreuzestod verurteilt war. Das Kreuz, das zur Richtstätte hinaufgetragen wurde, war ein öffentliches Kennzeichen der Schande, und die so gebrandmarkte Person war den Verwünschungen der Volksmenge preisgegeben.

Die Tatsache der Verachtung seitens der Welt um des Kreuzes willen ist sowohl aus den Evangelien wie auch aus den Briefen ersichtlich. Der hauptsächliche Unterschied besteht darin, dass in den Evangelien der Jünger aufgerufen wird, sein Kreuz aufzunehmen, während in den Briefen der Gläubige nicht ermahnt wird, etwas aufzunehmen. Dort wird er vielmehr belehrt, dass er mit Christus gekreuzigt ist und daher dementsprechend wandeln muss, indem er alle Folgen auf sich nimmt.

Daher spricht Paulus vom «Kreuz Christi» und vom «Kreuz unseres Herrn Jesus Christus», der Herr aber vom Kreuz seiner Nachfolger: «Wer nicht sein Kreuz aufnimmt». Hier ist es das Kreuz des Jüngers. Dieses Kreuz war das Schandmal, das die Welt auf die Nachfolger des verachteten Nazareners legte.

Die Worte des Herrn haben auch heute noch ihre ganze Kraft und erfüllen sich an allen, die für den Namen Jesu leiden. Wir haben noch immer «unser Kreuz» aufzunehmen und unserem verworfenen Meister nachzufolgen.

Im Volksmund bezeichnet man Krankheiten oder irgendeine andere persönliche Trübsal als das Kreuz des Christen. Solche Dinge sind aber in dem schriftgemässen Gebrauch des Wortes nicht eingeschlossen, wie dies auch aus den verschiedenen, oben angeführten Stellen hervorgeht. Das «Kreuz» umschliesst jede Form des Leidens und der Schmach um Christi willen, die der zu ertragen hat, der Ihm nachfolgt. Aber Leiden, die aus der Ungerechtigkeit der Menschen hervorgehen oder sogar Leiden um eigener Fehler willen, sind etwas anderes als das Kreuztragen im biblischen Sinn.