Er war ihnen untertan

Auch im Lukas-Evangelium, das uns doch den Herrn Jesus als Sohn des Menschen beschreibt, wird die Zeit seiner Entwicklung, vom Kleinkind bis zu seinem öffentlichen Auftreten als Diener Gottes, stillschweigend übergangen. Einzig in Kapitel 2,41-52 wird uns ein Ereignis berichtet, das vom zwölfjährigen «Knaben Jesus» handelt. Wenn der Heilige Geist die «heiligen Männer Gottes», die Schreiber des Neuen Testaments, nicht dazu inspirierte, von der Kindes- und Jünglingszeit Jesu zu berichten, so wollen wir auch nicht auf die zahlreichen menschlichen Christus-Legenden hören, die diese Lücke ausfüllen sollen. «Niemand erkennt den Sohn, als nur der Vater» (Mt 11,27), vor allem was die Verbindung von Gott und Mensch in einer Person betrifft. Aber wir dürfen im Glauben dankbar erfassen und bewundern, was uns Gottes Wort von Ihm offenbart.

Dass der Geist Gottes die erwähnte Szene ausgewählt hat, lässt darauf schliessen, dass sie kennzeichnend ist für die Jugendzeit Jesu Christi.

Die Eltern des Herrn Jesus, Joseph und Maria, die sich durch Gehorsam gegen Gott auszeichneten, hatten bis dahin auch alles erfüllt, was das Gesetz bezüglich Jesu vorschrieb; denn Er wurde «unter Gesetz geboren» und ist gekommen, um das Gesetz zu erfüllen (Gal 4,4; Mt 5,17): Er wurde am achten Tag beschnitten. Sodann brachten sie Ihn, am Tag der Reinigung seiner Mutter, im Zusammenhang mit seiner Geburt, «nach Jerusalem hinauf, um ihn dem Herrn darzustellen.» Dabei opferten sie, was im Gesetz des Herrn denen gesagt ist, die arm waren: «ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben» (Lk 2,21-24.39; 3. Mo 12).

In diesem Gesetz stand ferner geschrieben: «Dreimal im Jahr sollen alle deine Männlichen vor dem HERRN, deinem Gott, erscheinen an dem Ort, den er erwählen wird» (5. Mo 16,16). Darum gingen die Eltern (also auch Maria) «alljährlich am Passahfest nach Jerusalem». Und jetzt hatte der zwölfjährige Knabe Jesus mitkommen können. Von Nazareth bis nach Jerusalem hinauf war eine mehrtägige Fusswanderung zurückzulegen über eine gebirgige Gegend.

Von dem was der Zwölfjährige in der Hauptstadt erlebte, die an diesen Festtagen von zusätzlichen Menschenmengen besucht war, lesen wir nichts. Er sah vieles, was nicht stimmte. Aber die Zeit zur Tempelreinigung war noch nicht da. Erst achtzehn Jahre später sollte sein öffentlicher Dienst beginnen.

Als das Passahfest und das anschliessende siebentägige Fest der ungesäuerten Brote vorüber waren, gab es einen allgemeinen Aufbruch. Auch Joseph und Maria kehrten unverzüglich zurück. Aber wie merkwürdig! Erst als sie von der allgemeinen Reisegesellschaft eine Tagereise entfernt waren, fragten sie sich, wo wohl ihr Sohn geblieben sei. – Ist es uns, die wir dem Herrn angehören, nicht auch schon so gegangen? Wir eilten unseren Aufgaben und Pflichten nach, und merkten erst nach ein oder zwei Tagen, dass wir nicht nach Ihm gefragt haben. Abhängigkeit von Ihm ist für uns eine schwere Lektion.

Die Eltern kannten ihren einzigartigen Sohn noch so wenig! Sie suchten Ihn zuerst unter der Reisegesellschaft, bei der Jugend der Verwandten und Bekannten. Da wäre doch jeder andere Junge zu finden gewesen. Doch nein, Er war nicht da. Sie wurden unruhig und eilten den langen Weg nach Jerusalem zurück und suchten Ihn überall da, wo sein Herz Ihn nicht hinzog. Erst nach drei Tagen fanden sie Ihn im Tempel, und zwar «wie er inmitten der Lehrer sass und ihnen zuhörte und sie befragte». Die Eltern waren Zeugen davon, wie alle, die Ihn hörten, «ausser sich gerieten über sein Verständnis und seine Antworten».

Gewiss lag da allen die Frage auf der Zunge, die auch später die Leute beschäftigte: «Woher hat dieser das alles, und was ist das für eine Weisheit, die diesem gegeben ist?» (Mk 6,2). Auch wir mögen uns dies fragen, wenn wir Ihn als Menschen betrachten.

Haben wir nicht eine Antwort in den Versen 40 und 52 von Lukas 2? «Das Kind aber wuchs und erstarkte, erfüllt mit Weisheit, und Gottes Gnade war auf ihm.  – Und Jesus nahm zu an Weisheit und an Grösse und an Gunst bei Gott und Menschen.» Hier stellt Ihn der Heilige Geist uns nicht als Sohn Gottes vor, sondern da wird davon gesprochen, dass Er als Mensch und als Kind äusserlich und innerlich gewachsen sei und an Weisheit zugenommen habe. Und in Psalm 119, der ja vornehmlich von Ihm als dem Sohn des Menschen spricht, wird uns in vielen Versen das Geheimnis des ungestörten Wachstums seiner Weisheit gezeigt. Es sei nur an die Verse 97 – 100 erinnert: «Wie liebe ich dein Gesetz! Es ist mein Sinnen den ganzen Tag. – Weiser als meine Feinde macht mich dein Gebot, denn immer ist es bei mir. – Verständiger bin ich als alle meine Lehrer, denn deine Zeugnisse sind mein Sinnen. – Mehr Einsicht habe ich als die Alten, denn deine Vorschriften habe ich bewahrt.» Dass Er also schon mit zwölf Jahren ein solch unübertreffliches Mass an göttlicher Weisheit besass, hatte seinen Grund darin, dass Gottes Wort sein beständiges Sinnen war.

Oberflächlich betrachtet mag uns das Verhalten des Knaben Jesu unkindlich erscheinen. Gewiss, es war anders als das aller andern Kinder; aber war Er darin nicht gerade ein vollkommenes Vorbild für Jung und Alt? Vergessen wir nicht, diese Weisheit, in der Er so aussergewöhnliche Fortschritte machte, bestand nicht nur in der Erkenntnis der Gedanken und Wege, des Willens und Ratschlusses Gottes. Eine solche Erkenntnis allein könnte uns aufblähen (1. Kor 8,1.2). Für sein Herz aber war sie die Richtlinie für sein ganzes Leben und seinen späteren Dienst. So nur konnte Er seinen Vorsatz völlig verwirklichen: Gott, seinen Vater, auf der Erde in allem durch Gehorsam zu verherrli­chen (Joh 17,4).

Seine Eltern haben Ihn damals auch in diesem Stück noch nicht verstanden. Das war die Ursache, dass sie seinetwegen in Not gerieten und seine Mutter dann zu Ihm sprach: «Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.» Seine einfache Antwort lautete nur: «Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?» Er war nicht am unrichtigen Platz gewesen. Er durfte voraussetzen, dass sie Ihn da suchten, wo Gott Ihn jetzt hatte haben wollen. Er blieb zurück, weil Er Fragen hatte, und unter diesen Lehrern, die das Gesetz und die Propheten kannten, die Möglichkeit bestand, dass sie Ihm beantwortet werden konnten. Zu Hause hatte Er keine Gelegenheit, das Wort Gottes zu lesen. Die kostbaren Buchrollen waren Ihm nur hier im Tempel oder in der Synagoge zu Nazareth zugänglich (Kap. 4,17). – Beachten wir die angemessene Haltung des Zwölfjährigen: Er suchte die Alten nicht zu belehren vielmehr hörte Er ihnen zu, befragte sie und gab ihnen Antworten.

«Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth.» Sein Leben im Haus des Zimmermanns fand nun noch eine lange Fortsetzung, bis Er «ungefähr dreissig Jahre alt» wurde und seinen Dienst begann. Er selbst scheint bis dahin den Beruf des Vaters ausgeübt zu haben; denn die Nazarener nannten Ihn selbst «den Zimmermann». Im Lauf der Jahre hatte Gott dem Joseph und der Maria vier Söhne und auch Töchter geschenkt (Mk 6,3), und Jesus hatte als Knabe und Jüngling Anteil am Leben der Familie. Und in dieser Zeit war es, dass «Er zunahm an Weisheit und an Grösse bei Gott und Menschen».

«Und er war ihnen untertan.» Von wem wird das gesagt? Von dem, der in Gestalt Gottes war, aber sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm. Von dem, der in Gleichheit der Menschen geworden ist, und in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem Er gehorsam wurde.

Wem war Er untertan? Ganz bescheidenen Eltern, die Er auch als Mensch an Weisheit weit übertraf, Eltern, die in ihrem Leben, in ihren Entscheidungen und ihrer Erziehungsweise fehlbar waren, wenn sie auch in Gottesfurcht vorangingen. Wie sehr spricht das zu unseren Herzen!

Er hat vollkommen vorgelebt, was in Epheser 6,1.2 auch heute zu allen Kindern gesagt ist: «Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern im Herrn, denn das ist recht. ‹Ehre deinen Vater und deine Mutter›, welches das erste Gebot mit Verheissung ist.» Der Knabe Jesus wusste, dass Er durch seinen Gehorsam nicht nur die Eltern erfreute, sondern auch Gott, den Herrn, der dieses Gebot gegeben hat.

Wie traurig sieht es in dieser Beziehung in der «zivilisierten» Welt und besonders in der Christenheit aus! Nicht nur sind in vielen Familien die Kinder «den Eltern ungehorsam» (2. Tim 3,2), auch von den Erwachsenen wollen so manche keiner Obrigkeit mehr unterworfen sein und keine Autorität mehr anerkennen. Wie verheerend sind die Folgen einer solchen Haltung für die Familien und für die ganze menschliche Gesellschaft!

Möchten doch wir alle, die dem Herrn Jesus angehören, uns in keiner Weise vom Geist dieser Welt beeinflussen lassen, sondern in allem das Beispiel nachahmen, das Er uns hinterlassen hat und das Gott so wohlgefällig war!