Zu Beginn des ersten Buches Samuel werden wir unvermittelt mit einer für uns befremdenden Situation konfrontiert, nämlich dass ein Mann unter dem Volk Gottes zwei Frauen hatte, denn: «Elkana hatte zwei Frauen: der Name der einen war Hanna, und der Name der anderen Peninna.» Wie es dazu kam, wird uns nicht mitgeteilt, wohl aber was daraus für die Beteiligten an leidvollen Konsequenzen erwuchs. Zu allem Unglück hatte die Geliebte keine Kinder, nur die andere.
Wieder einmal war die ganze Familie in Silo, damit Elkana Gott Opfer darbringen konnte. «Und ihre Widersacherin – Peninna – kränkte Hanna mit vieler Kränkung, um sie aufzubringen, weil der HERR ihren Mutterleib verschlossen hatte.» Das passierte nicht ein Mal und nicht zwei Mal, sondern «so, wie er das Jahr für Jahr tat, so kränkte sie sie, sooft sie zum Haus des HERRN hinaufzog; und sie weinte und ass nicht.»
Dass Hanna keine Kinder bekam, war nicht ihre Schuld: Gott hatte ihren Mutterleib verschlossen, und sie damit einer Geduldsprobe unterworfen, die sich über Jahre hinziehen sollte. Wie wird sie reagieren?
Dass sie unter diesen Umständen nicht essen mochte, war begreiflich. Zu schwer lastete die Schmach, keine Kinder zu bekommen, und die Ausgrenzung und Anfeindung auf ihrem Gemüt. Aber ihre Reaktion war vorbildlich. Sie gab Peninna weder harte Worte noch liess sie es sie insgeheim fühlen. Nicht einmal ihrem Mann gegenüber mochte sie davon reden. Was hätte sie auch sagen sollen? Wie hätten Worte ihre Situation verändern können? So schwieg sie, jedenfalls vor den Menschen – nicht aber vor Gott!
Sie wandte sich nicht an ihre Nächsten, sondern an den Höchsten, denn nur bei Ihm konnte sie auf Hilfe hoffen, denn «sie war in der Seele verbittert, und sie betete zu dem HERRN und weinte sehr. Und sie tat ein Gelübde und sprach: HERR der Heerscharen, wenn du das Elend deiner Magd ansehen und meiner gedenken und deine Magd nicht vergessen wirst, und wirst deiner Magd einen männlichen Nachkommen geben, so will ich ihn dem HERRN geben alle Tage seines Lebens; und kein Schermesser soll auf sein Haupt kommen».
Es waren keine leeren oder gedankenlose Worte, die sie vor Gott aussprach, sondern aus der Fülle des Herzens redete ihr Mund. Sie verband ihre Bitte mit einem Gelübde: Sie war bereit, auf einen allfälligen Sohn zu verzichten und ihn zeit seines Lebens Gott zu leihen, wenn Gott nur ihre Bitte erhören wollte!
Bevor sie von Gott eine Antwort erhielt, machte sich der Hohepriester Eli bemerkbar, denn «es geschah, als sie lange vor dem HERRN betete, dass Eli ihren Mund beobachtete». Leider täuschte er sich in ihr, denn: «Hanna redete in ihrem Herzen; nur ihre Lippen bewegten sich, aber ihre Stimme wurde nicht gehört; und Eli hielt sie für eine Betrunkene.»
Dementsprechend fiel seine Reaktion aus: «Bis wann willst du dich wie eine Betrunkene gebärden? Tu deinen Wein von dir!» Ein sehr scharfer und dazu völlig ungerechtfertigter Tadel! Wie reagierte Hanna darauf? Gab sie ihm mit gleicher Münze zurück? Schwor sie, sich nie wieder in Silo blicken zu lassen? Nichts von all dem, sondern: «Nein, mein Herr, eine Frau beschwerten Geistes bin ich; weder Wein noch starkes Getränk habe ich getrunken, sondern ich habe meine Seele vor dem HERRN ausgeschüttet. Halte deine Magd nicht für eine Tochter Belials; denn aus der Fülle meines Kummers und meiner Kränkung habe ich bisher geredet.»
Eli hatte sich gründlich geirrt. Anstatt die Not Hannas zu erkennen und ihr Trost und Mut zuzusprechen, wies er sie streng zurecht, und das völlig zu Unrecht! Wie hatte doch dieser Mann den klaren Blick verloren und jedes Unterscheidungsvermögen eingebüßt! Seine eigenen Söhne, Hophni und Pinehas, sie waren Söhne Belials, aber niemals war Hanna eine solche Tochter! Seine Unentschiedenheit gegen das Böse im eigenen Haus hatte seinen Durchblick getrübt. Wie hatte doch er, der Hohepriester Gottes, kläglich versagt und dazu eine verwundete Seele zusätzlich verletzt! Wie konnte er diesen Missgriff wieder gut machen?
Kraft seines Amtes sprach er: «Geh hin in Frieden; und der Gott Israels gewähre deine Bitte, die du von ihm erbeten hast!» Genügte Hanna diese Form von Abbitte? Sollte sie sich damit zufrieden geben? Wie reagierte sie wohl jetzt? «Möge deine Magd Gnade finden in deinen Augen!» Mit dieser Antwort liess sie Eli Gnade finden in ihren Augen.
Welch sittliche Grösse entdecken wir bei dieser durch viele Übungen gereiften Frau! Sie zeigte ein durch und durch geistliches Verhalten: «Eine milde Antwort wendet den Grimm ab!» Sie hatte sich durch Peninnas Kränkungen nicht aufbringen lassen, noch liess sie sich durch den Tadel Elis niederdrücken. Vielmehr ging sie ganz verändert aus der Gegenwart Gottes an ihren Platz zurück. «Die Frau ging ihres Weges und ass, und ihr Angesicht war nicht mehr dasselbe.»
Finden wir in dieser Geschichte nicht etwas von den Wünschen des Bräutigams: «Wache auf, Nordwind, und komm, Südwind: durchwehe meinen Garten, lass träufeln seine Wohlgerüche!»? Können wir den Herrn ebenso froh einladen, wie die Braut: «Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse die ihm köstliche Frucht.»?