Beim Vergleich des Propheten Maleachi mit dem Brief des Judas finden wir manche Ähnlichkeiten, aber auch verschiedene Gegensätze. Beide Schreiber zeichnen ein Bild des Ruins, des Verderbens und des Abfalls von Gott. Beim ersteren handelt es sich um den Verfall des Judentums, beim letzteren um den des Christentums.
Der Prophet Maleachi
spricht zu Beginn seines Buches mit eindrücklichen Worten von der Quelle des Segens Israels und von der Ursache seines Niedergangs. «Ich habe euch geliebt, spricht der HERR.» Die Liebe Gottes zu seinem irdischen Volk erklärt sowohl die vergangene Herrlichkeit Israels als auch die noch herrlichere Zukunft dieses Volkes. – Auf der andern Seite zeigen die Worte der damaligen Juden: «Worin hast du uns geliebt?», wie tief sie gesunken waren. Eine solche Frage zu stellen, nach allem, was der Herr von den Tagen Moses an bis zur Zeit Salomos getan hatte, beweist ein absolut unempfindliches, ja, gefühlloses Herz gegenüber der Liebe Gottes. – Wir müssen daher nicht erstaunt sein, wenn Gott daraufhin sagt: «Wenn ich denn Vater bin, wo ist meine Ehre? und wenn ich Herr bin, wo ist meine Furcht? spricht der HERR der Heerscharen zu euch, ihr Priester, die ihr meinen Namen verachtet und doch sprecht: ‹Womit haben wir deinen Namen verachtet?›» Sie waren unempfindlich sowohl gegenüber der Liebe des Herrn als auch im Blick auf ihre bösen Wege. Nur ein verhärtetes Herz kann solche Fragen stellen. Und dies angesichts einer tausendjährigen Geschichte, die einerseits von unvergleichlicher Gnade, Barmherzigkeit und Geduld Gottes geprägt ist, und anderseits von Anfang bis zum Ende ein Dokument ihrer Untreue, Torheit und Sünde darstellt.
In Kapitel 1,7-13 hören wir, was der betrübte und verunehrte Gott Israels weiter zu sagen hat. Es sind ernste Worte, die uns ein trauriges Bild des moralischen Zustands von Israel geben. Der öffentliche Gottesdienst war einem schändlichen Zustand verfallen. Der Altar war entweiht und sein Dienst verächtlich gemacht worden. Die Priester gingen dem schnöden Mammon nach. Für das Volk als Ganzes war der Gottesdienst zu einer Mühe, zu einer leeren Form, zu einer stumpfsinnigen, herzlosen Routine geworden. Anstatt auf Gott war das Herz auf den Gewinn ausgerichtet. Das Lahme und Kranke, das man nicht gewagt hätte, dem Statthalter zu geben, schien für den Altar Gottes gut genug zu sein.
Gott sei Dank, es gibt noch eine andere Seite des Bildes. Es sind die wenigen Ausnahmen: Menschen, die sich anders verhielten als die Masse des Volkes. Neben all dem Verderben, der Herzenskälte, dem Stolz und der inneren Leere ist es herzerfrischend zu lesen: «Da unterredeten sich miteinander, die den HERRN fürchten, und der HERR merkte auf und hörte; und ein Gedenkbuch wurde vor ihm geschrieben für die, die den HERRN fürchten und die seinen Namen achten.»
Wie kostbar ist diese kurze Mitteilung! Welche Freude, sich mit diesem Überrest inmitten des moralischen Verfalls zu beschäftigen! Wir lesen nichts von Anmassung, nichts von einem Versuch, etwas auf die Beine zu stellen. Wir hören auch nichts von einer Anstrengung, den früheren Zustand – vor dem Verfall – wiederherzustellen. Es wird auch keine Kraft vorgetäuscht. Vielmehr wird die Schwachheit empfunden und der Blick auf den Herrn gerichtet. Das ist das Geheimnis wahrer Kraft.
Wir brauchen vor dem Bewusstsein unserer Schwachheit keine Angst zu haben. Wir sollten uns vielmehr vor einer vorgetäuschten Kraft fürchten und davor zurückschrecken. Die Regel für das Volk Gottes lautet stets: «Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.» Wir sollten uns immer auf Gott stützen und mit Ihm rechnen. Es spielt keine Rolle, in welchem Zustand sich die bekennende Masse befindet, der einzelne Gläubige kann jederzeit die Gemeinschaft mit Gott geniessen. Männer wie Daniel, Mordokai, Esra, Nehemia, Josia, Hesekiel und viele andere, die mit Gott wandelten, beweisen dies.
Wir sehen auch, wie manchmal einzelne sich der grossen Vorrechte ihrer Zeit erfreuten, während sie inmitten des Verfalls lebten. So wurde in den Tagen Josias das Passah gefeiert, wie es seit den Tagen Samuels nicht mehr geschehen war (2. Chr 35,18). Der schwache Überrest, der aus Babylon zurückgekehrt war, feierte das Laubhüttenfest, ein Vorrecht, das seit den Tagen Josuas nicht mehr wahrgenommen worden war (Neh 8,17). Und Mordokai errang ohne einen einzigen Schwertstreich einen gleich herrlichen Sieg über Amalek wie ihn Josua in der Wüste errungen hatte (Est 6,11.12; 2. Mo 17).
Was können wir daraus lernen? Dass der demütige und gehorsame Gläubige trotz des Versagens und des Verfalls im Volk Gottes persönliche Gemeinschaft mit Gott pflegen und geniessen kann.
So war es zur Zeit Maleachis. Alles befand sich in hoffnungslosem Verfall. Doch dies hinderte jene nicht, die den Herrn liebten und fürchteten, zusammenzukommen, um sich über Ihn zu unterhalten und seinen Namen zu achten. Es ist wahr, dass jener schwache Überrest nicht zu vergleichen war mit der grossen Menge, die sich zur Zeit Salomos von Dan bis Beerseba versammelte. Aber er genoss die Gegenwart des Herrn ebenso real, wenn auch weniger spektakulär. Wir lesen nichts von einem «Gedenkbuch» in den Tagen Salomos, oder dass der Herr gehört und aufgemerkt hätte. Vielleicht kann man sagen, dass dies damals nicht nötig gewesen sei. Wir wollen dies dahin gestellt lassen und einfach die Gnade betrachten, die in Maleachis Tagen über jener Schar leuchtete. Sicher freute sich das Herz des Herrn über die Hingabe dieser Wenigen genauso wie über die vielen Opfer, als Salomo den Tempel einweihte. Vor dem Hintergrund des herzlosen Formalismus des Volkes strahlt ihre Liebe zum Herrn umso heller.
Im Brief des Judas
ist das Bild des Abfalls von Gott noch erschreckender. Ja, wenn das Beste verdorben wird, dann ist das Verderben am schlimmsten. So zeichnet Judas ein noch dunkleres Bild, als der Prophet Maleachi. Es ist die Aufzeichnung des völligen Versagens und Ruins des Menschen unter den höchsten und reichsten Vorrechten, die es überhaupt gibt.
Zu Beginn seines ernsten Briefes sagt uns Judas, was eigentlich auf seinem Herzen lag: Er wollte uns «über unser gemeinsames Heil schreiben». Das wäre eine wesentlich schönere Aufgabe gewesen. Er hätte gern von dem gesprochen, was alles zum herrlichen Begriff «Errettung» gehört. Doch er «war genötigt», sich einem weniger angenehmen Thema zuzuwenden, um unsere Herzen gegen die steigende Flut von Irrtümern und Bösem, die die Fundamente des Christentums bedrohen, zu stärken. «Geliebte, während ich allen Fleiss anwandte, euch über unser gemeinsames Heil zu schreiben, war ich genötigt, euch zu schreiben und zu ermahnen, für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen.» Alles Lebenswichtige und Fundamentale stand auf dem Spiel. Es ging darum, ernsthaft für das Glaubensgut zu kämpfen. «Denn gewisse Menschen haben sich nebeneingeschlichen, die schon längst zu diesem Gericht zuvor aufgezeichnet waren, Gottlose, die die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung verkehren und unseren alleinigen Gebieter und Herrn Jesus Christus verleugnen.»
Das ist viel schlimmer als alles, was wir bei Maleachi finden. Dort ging es um das Gesetz (Mal 3,22). Aber bei Judas geht es nicht um die Frage, das Gesetz zu vergessen, sondern darum, die reine und kostbare Gnade Gottes in Ausschweifung zu verkehren und den Herrschaftsanspruch des Herrn Jesus zu verleugnen. Daher will der Schreiber, anstatt über das Heil Gottes nachzudenken, uns gegen das Böse und die Gottlosigkeit der Menschen stärken (V. 5.6).
Das alles ist sehr ernst. Doch wir wollen nicht bei den dunklen Stellen stehen bleiben, sondern das liebliche Bild vorstellen, das in jenem Endzeit-Brief von den treuen Gläubigen skizziert wird. Dem Überrest, den wir in Maleachi gefunden haben, entsprechen im Judas-Brief jene, die der Heilige Geist als «Geliebte» anredet. Diese sind «in Gott, dem Vater, geliebte und in Jesus Christus bewahrte Berufene». Sie werden ernsthaft vor den verschiedenen Arten von Irrtümern und Bösem gewarnt, die sich damals schon zeigten, aber seither ein erschreckendes Ausmass angenommen haben. An diese Treuen wendet sich Judas, wenn er sie am Ende seines Briefes in Gnade ermahnt: «Ihr aber, Geliebte, euch selbst erbauend auf euren allerheiligsten Glauben, betend im Heiligen Geist, erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes, indem ihr die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus erwartet zum ewigen Leben.»
Hier haben wir göttliche Sicherheit angesichts der dunklen und schrecklichen Form des Abfallens, die Folgendes umfasst: den Weg Kains, den Irrtum Bileams, den Widerspruch Korahs, die Murrenden und mit ihrem Los Unzufriedenen, die stolzen Worte, die wilden Meereswogen, die Irrsterne, die um des Vorteils willen Personen bewundern. Die «Geliebten» aber sollen «sich selbst erbauen auf ihren allerheiligsten Glauben».
Wir beklagen oft unseren Mangel an Gaben und Kraft und das Fehlen von Hirten und Lehrern. Können wir erwarten, viele Gaben und Kraft zu haben? Haben wir so etwas verdient? Ach, wir haben versagt und gesündigt und kommen zu kurz. Lasst uns dies einsehen und bekennen und uns auf den lebendigen Gott werfen, der ein Herz, das Ihm vertraut, nie enttäuscht.
Denken wir an die ergreifende Rede von Paulus an die Ältesten von Ephesus in Apostelgeschichte 20. Wem befiehlt er uns angesichts des Ablebens der Apostel an? Steht dort irgendein Wort über Nachfolger der Apostel? Nein, wir hören nur von «reissenden Wölfen» oder von Männern, die aus den Christen selbst aufstehen werden, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen hinter sich her. Worin bestehen da die Hilfsquellen des treuen Gläubigen? «Nun befehle ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das vermag, aufzuerbauen und das Erbe zu geben unter allen Geheiligten.»
Welch eine herrliche Hilfsquelle! Kein Wort über begabte Männer – die wir an ihrem Platz sicher schätzen. Wir wollen dem Herrn für alle Gaben danken, die Er seiner Versammlung heute noch gibt, und sie wertschätzen. Und doch ist es gut zu wissen, dass der scheidende Apostel uns nicht begabten Männern, sondern Gott und dem Wort seiner Gnade anbefohlen hat. Daraus folgt, dass wir, und mögen wir noch so schwach sein, zu Gott aufblicken und uns auf Ihn stützen sollen. Niemals verlässt Er die, die auf Ihn vertrauen. Wenn wir demütig und in kindlichem Vertrauen auf Ihn blicken, gibt es nichts, was den Segen für unsere Seelen begrenzen könnte.
Hier liegt das Geheimnis wahren Segens und geistlicher Kraft: Demut in der Gesinnung und einfältiges Vertrauen. Wir dürfen uns einerseits keine Kraft anmassen, aber anderseits auch nicht die Güte und Treue unseres Gottes begrenzen. Er kann Gaben zur Auferbauung der Seinen schenken. Vielleicht würde Er mehr geben, wenn wir nicht so oft die Dinge selbst in die Hand nähmen. Wenn wir den Heiligen Geist durch unseren Unglauben dämpfen, müssen wir uns dann über die Leere, die Verwüstung und die Verwirrung wundern? Christus genügt. Aber man muss Ihm vertrauen und Ihn wirken lassen. Wir müssen dem Heiligen Geist Raum geben, damit Er uns die Kostbarkeit, die Fülle und Allgenugsamkeit von Christus vorstellen kann.
Doch gerade darin versagen wir. Wir versuchen unsere Schwachheit zu verbergen, anstatt sie anzuerkennen. Wir versuchen unsere Nacktheit mit dem zuzudecken, was von uns selbst kommt, anstatt im Blick auf alle unsere Bedürfnisse einfältig und völlig auf Christus zu vertrauen. Wir werden müde im demütigen und geduldigen Warten auf Ihn und handeln dann selbst, indem wir uns den Anschein von Kraft geben. Das ist unsere Torheit und führt zu Verlust.
Es ist der ausgezeichnetste Weg, den Judas den Geliebten vorstellt: «Euch selbst erbauend auf euren allerheiligsten Glauben.» Diese Worte legen die Verantwortung auf alle Christen, sich zusammenzufinden, anstatt sich zu trennen und zu zerstreuen. Wir sollen einander in Liebe helfen, entsprechend dem uns geschenkten Mass der Gnade. Nicht auf Menschen sehen, nicht über den Mangel an Gaben murren, sondern jeder das tun, was wir zum gemeinsamen Wohl und Nutzen aller beitragen können.
Wir werden zu vier Tätigkeiten ermahnt: erbauen, beten, erhalten, erwarten. Ja, hier können sich alle beteiligen. Es gibt auf der ganzen Welt keinen einzigen Christen, der nicht einen oder alle diese Punkte verwirklichen könnte. Wir können uns selbst erbauen in unserem allerheiligsten Glauben, wir können im Heiligen Geist beten, wir können uns in der Liebe Gottes erhalten. Und während wir dies tun, dürfen wir die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus erwarten.
Wer sind diese Geliebten? Auf wen trifft diese Bezeichnung zu? Auf alle, die durch den Glauben an Christus in diese Stellung vor Gott gebracht worden sind.
Die Verantwortung der treuen Gläubigen endet an dieser Stelle noch nicht. Sie sollen nicht nur an sich denken, sondern bereit sein, anderen zu helfen. «Die einen, die streiten, weist zurecht, die anderen aber rettet mit Furcht, sie aus dem Feuer reissend, indem ihr auch das vom Fleisch befleckte Kleid hasst.» Wer sind die einen, und wer die anderen? Da und dort gibt es kostbare Seelen, die in der Christenheit zerstreut sind. Auf die einen gilt es, voll Mitgefühl zu blicken, andere müssen mit göttlicher Furcht gerettet werden, indem man sorgfältig darauf bedacht ist, nicht selbst in die Unreinheit hineingezogen zu werden.
Es ist ein fataler Fehler zu denken, um Leute aus dem Feuer zu reissen, müsse man mitten ins Feuer gehen. Der beste Weg, um Menschen aus einer bösen Stellung zu befreien, ist, sich selbst völlig aus dieser verkehrten Position herauszuhalten. Wie kann ich jemand aus dem Morast herausziehen? Sicher nicht dadurch, dass ich selbst in den Morast hineingehe, sondern indem ich auf festem Grund stehe, von dem aus ich ihm eine helfende Hand entgegenstrecken kann. Wenn wir Menschen helfen wollen, die im Verderben der Christenheit verstrickt sind, dann müssen wir zuerst selbst eine klare eindeutige Haltung der Absonderung einnehmen. Und dann sollen wir ein Herz haben, das zu allen, die den kostbaren Namen Jesu tragen, von zarter und brennender Liebe überfliesst.
Zum Schluss noch den wunderbaren Lobpreis, mit dem Judas seinen ernsten und gewichtigen Brief schliesst: «Dem aber, der euch ohne Straucheln zu bewahren und vor seiner Herrlichkeit untadelig darzustellen vermag mit Frohlocken, dem alleinigen Gott, unserem Heiland, durch Jesus Christus, unseren Herrn, sei Herrlichkeit, Majestät, Macht und Gewalt vor aller Zeit und jetzt und in alle Ewigkeit! Amen.» Wir finden in diesem Brief sehr viel über «fallen»: Israel ist gefallen, Engel sind gefallen, Städte sind gefallen. Aber Gott sei Dank, gibt es Einen, der uns ohne Straucheln zu bewahren vermag, so dass wir nicht fallen. Seiner heiligen Bewahrung sind wir anvertraut.