Einige Bemerkungen zum Evangelium nach Matthäus (1)

Matthäus 6,33

Die vier Evangelien sind – wie schon oft bemerkt wurde – nicht bloss eine Erzählung und dreifache Wiederholung der wunderbaren Geschichte von den Tagen des Herrn Jesus auf der Erde. Auch darf man die Unterschiede in den viererlei Darstellungen nicht einfach nur dem Umstand zuschreiben, dass sie von verschiedenen Schreibern mit besonderen Gefühlsveranlagungen und Gedankenrichtungen verfasst worden seien, die sich nicht in derselben Weise aller Einzelheiten zu erinnern vermochten.

Es geht um mehr. In Wirklichkeit liegt dieser Verschiedenartigkeit ein tiefer göttlicher Gedanke, eine besondere Absicht zugrunde. Die vier Evangelien als Ganzes sollen uns in die Lage versetzen, die unergründliche Person unseres Herrn Jesus Christus, des Sohnes Gottes, besser zu verstehen. Sein Wesen ist so erhaben und wunderbar, seine Liebe so unaussprechlich gross, seine Herrlichkeit so vielseitig, dass Er unmöglich von einem einzigen Gesichtspunkt aus vollkommen dargestellt werden kann.

Jedes der vier Evangelien ist durch Inspiration des Heiligen Geistes entstanden. Jedes hat einen klaren Zweck und eine bestimmte Eigenart, die jedoch nicht so ausschliesslich sind, dass sich die Gedankenlinien nicht hie und da mit denen der andern Evangelien zu verweben vermöchten. O nein, denn seine Person ist unerforschlich und die Vermischung seiner verschiedenen Charakterzüge ist so unergründlich wie Er selbst, so dass es dem Menschen hier auf der Erde unmöglich ist, in ihre unfassbaren Tiefen völlig einzudringen.

Er kann seine Geschöpfe – unsere Herzen und ihre verborgenen Geheimnisse, unsere innersten Gedanken und all unsere Not – völlig ergründen. Nichts ist vor Ihm verborgen; Er kennt jeden und alles. Aber wir, wie vermöchten wir alles das zu erfassen, was Gott in sich selbst ist? Er ist höher als die Himmel und tiefer als die Tiefe, und wir sind nur «Staub und Asche» (1. Mo 18,27). Er ist zu gross und zu wunderbar für uns. Überhaupt würde uns der Geist Gottes nie veranlassen und der Gefahr aussetzen, in das Innere der Bundeslade hineinzuschauen. Es war unmöglich, in diese Lade, die sich für eine Zeit in der Stiftshütte befand und die nach dem Muster angefertigt worden war, das Mose auf dem Berg Horeb gezeigt wurde, hineinzublicken, ohne ein ernstes Gericht auf sich herabzuziehen (1. Sam 6,19). Wie viel mehr ist das der Fall, wenn es die erhabene Person dessen betrifft, der durch die Bundeslade vorgebildet wurde! Wenn es um Ihn selbst geht, steht uns tiefste Ehrfurcht zu. Er ist im biblischen Sinn die wahre Bundeslade, unendlich vortrefflicher als ihr Vorbild. Er ist eingegangen in das ewige Heiligtum der wahrhaftigen Hütte im Himmel. Er ist höher als die geschaffenen Himmel geworden und hat sich auf den Thron gesetzt, zur Rechten der Majestät in der Höhe. Aber der Dienst des Heiligen Geistes und seine gegenwärtige, gesegnete Aufgabe auf der Erde besteht darin, den Herrn Jesus zu verherrlichen und Ihn uns zu zeigen, uns, die wir durch die Gnade sein durch Blut erkauftes Eigentum geworden sind. Der Geist will uns befähigen, mehr und mehr von den unendlichen Herrlichkeiten Jesu Christi zu sehen, sie zu unterscheiden und zu bewundern. Ohne Zweifel können wir sie in allen seinen Äusserungen, seinen Worten, seinen Wegen und seinen Werken erkennen, dadurch, dass der Geist uns in seine tiefen Gedanken, in seine inneren Gefühle, in seine Freuden, in seine vielerlei Leiden und in sein Mitgefühl einführt. Wir sehen diesen Dienst des Geistes zum Beispiel in den Psalmen, den Propheten und andern Teilen des Wortes. Alles ist dazu angetan, uns zur Betrachtung der Person des Herrn zu führen, damit wir Ihn, die unaussprechliche Gabe Gottes an uns, besser erkennen.

Wie schon oft gesagt worden ist, richtet sich das Matthäus-Evangelium besonders an die Juden. Dieser Schreiber zeigt uns den Messias und König; und die Gestaltung seines Berichtes ist daher in Übereinstimmung mit dieser bestimmten Zielsetzung. Es scheint mir, dass Gottes Vorsehung ihn zu diesem besonderen Dienst zubereitet und abgesondert hat. Er hat einen glänzenden, prächtigen Schreibstil, der geeignet ist, die äusseren, amtlichen und öffentlichen Herrlichkeiten des Königs und seines Reiches hervorzuheben.

Alle Familien der Erde haben einen Anteil an dem Segen, der von Jesus Christus, als dem Sohn Abrahams (1. Mo 12,3) ausfliesst. Darum führt Ihn Matthäus im ersten Vers ein als «Sohn Davids, des Sohnes Abrahams». Er ist also nicht nur der verheissene Messias für die Juden, sondern auch die Quelle der Segnung für alle Nationen.

Matthäus hebt den Fortschritt und die Entwicklung des Guten und des Bösen hervor und zeigt die sichtbaren, religiösen oder weltlichen, gebildeten oder unwissenden Widersacher des Herrn Jesus, seien sie aus den Juden oder aus den Nationen. Die unsichtbaren Mächte aber, die hinter der Szene stehen und göttlicher oder aber teuflischer Art sind, werden mehr in anderen Teilen der Schrift erwähnt, nicht so sehr im Evangelium nach Matthäus.

Ein Muster seines besonderen Schreibstiles finden wir in Kapitel 6,33. Der Satz beginnt mit: «Trachtet aber zuerst …» Oh, sagst du, was ist denn das Wichtigste, nach dem man zuerst trachten soll? Und der Satz fährt fort: «… nach dem Reich …». Oh, ein Reich! Dieses kleine Wort, das die Ergänzung des Tätigkeitswortes trachten ist, lässt dich sofort an Macht zur Aufrichtung von Gesetz und Ordnung denken und an die Verwaltung eines Landes oder einer Nation. Gedanken der Grösse und Herrlichkeit strömen davon aus, Gedanken an Pracht, an Paläste, an Macht, an Autorität, an Gerechtigkeit, an Frieden, an Reichtum, an Wohlfahrt und auch an Freude, die aus diesen Umständen hervorkommt, und das alles in einer Sphäre, in der ein grosser und mächtiger König herrscht.

Was für ein Reich ist es denn, nach dem wir trachten sollen? wirst du fragen. Der Rest des Satzes lautet: «… dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit.» Welch ein erstaunlicher Gedanke! Ein Mensch, der ein Sünder ist, kann er wirklich trachten, kann er wirklich finden, kann er wirklich in ein solches Reich eintreten? Wird er zugelassen und empfangen werden? In welchem Zustand muss er sich zeigen und wie kann er aufgenommen werden?

Wenn er mit einem aufrichtigen Herzen kommt, das seine Sünde und sein Elend fühlt und bekennt, wird er sogar in die Gegenwart des grossen Herrschers selbst zugelassen und aufgenommen werden, in Gnade und Gerechtigkeit. Was, ein Sünder in Gerechtigkeit aufgenommen? Wie kann das sein? – Oh, nicht in seiner eigenen Gerechtigkeit, denn er hat ja keine, es kann nur aufgrund der Gerechtigkeit Gottes selbst geschehen.

Das führt notgedrungen zu dem in seiner moralischen Bedeutung so unfasslichen und wunderbaren Werk am Kreuz, das Jesus im Auftrag Gottes für uns vollbracht hat. Er nahm das gerechte und feierlich ernste Gericht über die Sünde auf sich, so dass Gott in seiner Gerechtigkeit verherrlicht wird, wenn Er den Sünder rechtfertigt und in seine heilige Gegenwart eintreten lässt. Der Sünder seinerseits muss in einfachem Glauben nahen, der sich damit begnügt, allein in diesem wunderbaren Werk zu ruhen und darin unergründliche Gnade und die heilige Antwort zu finden, die all seinen Bedürfnissen entspricht.

Nun lesen wir weiter: «und dies alles wird euch hinzugefügt werden.» Damit sind Nahrung und Kleidung und alle Dinge gemeint, die für unser tägliches Leben hier auf der Erde nötig sind. Das Wichtigste, nach dem wir trachten sollen, ist das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit. Wenn unser Herz nach diesem strebt, wird Gott für alle andern Dinge sorgen. Auf diese Weise macht Er unsere Herzen frei von allem ängstlichen Sorgen und erhebt uns in den gesegneten Bereich, wo sein eigener gesegneter Einfluss, seine Gerechtigkeit, seine Macht, seine treue väterliche Fürsorge unsere tägliche Erfahrung sind, zur Freude unserer Herzen.

Welch weiten Horizont bringt also die Ergänzung dieses einen Satzes vor uns hin! Er ist reich und wunderbar. Dieser herrliche Vers enthält einen der Gedanken, die in der auf «dem Berg» gehaltenen Rede des Königs vorherrschen, worin Er die Grundsätze seines Reiches niedergelegt hat.

Was war doch diese Rede für die aufrichtigen und geübten Seelen jener Tage eine reiche Fundgrube für nützliche Betrachtungen! Sie führte die Menschen zu Ihm selbst. Er selbst und sein Werk war von Gottes Seite her zu einer wunderbaren geöffneten Tür gemacht worden, damit jeder, der an Jesus glauben würde, in diese gesegnete Sphäre eintreten könne. Nachdem sie Leben empfangen, würden sie von der Gerechtigkeit, der Gnade und der Herrlichkeit Gottes Besitz ergreifen, entsprechend dem Mass, in dem sie in ihrer Seele ein Bedürfnis nach diesen Dingen empfanden. Welche grossen Dinge sollte der mit Christus vereinigte Mensch empfangen: Gottes grosses Heil, seine unaussprechliche Gunst und unzählige Vorrechte, Segnungen und Reichtümer!

Im wunderbaren Bericht dieses Evangeliums ist es Emmanuel, der HERR als der Retter, der König selbst, der als hier anwesend geschildert wird. Als König kam Er herab, um in den Pfaden der Gerechtigkeit zu wandeln und um jene, die Ihn erkennen und trotz aller Feindschaft Ihm folgen und Ihn lieben würden, zu Erben des Reiches zu machen. Er wollte die Schatzkammer derer, die Er sich um den Preis seiner eigenen Leiden und seines Sühnetodes erkaufte, mit wirklichen und bleibenden Reichtümern füllen.