Man kann die Gnade Gottes mit einem Strom vergleichen, der von den Bergen herabfliesst und trotz der zahlreichen Hindernisse, denen er begegnet, seinen Lauf fortsetzt. Die Kraft des Stromes zeugt vom Überfluss und vom Reichtum der Quelle. Da er fortwährend gespiesen wird, nimmt er, je weiter er vordringt, an Stärke zu. Er breitet sich überall aus und erfrischt die Gegenden, die er bewässert.
Der Gläubige kann im Blick auf Gott, seinen Vater, sagen: «Alle meine Quellen sind in Dir.» Der belebende Strom der Gnade, die seine Seele erreicht und durchfliesst, entspringt dem Herzen Gottes selbst, «denn Gott ist Liebe», und «wo die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überreichlicher geworden» (1. Joh 4,8; Röm 5,20). Diese ewige Quelle, der Strom der Gnade, der das Heil bringt, hat nicht aufgehört, durch eine Welt der Sünde und des Elends zu fliessen, seit der gottentfremdete und verlorene Mensch ihn auf sich herabgezogen hat. Die Gnade war immer da; das Blut eines unschuldigen Opfers öffnete ihr den Weg, damit dieser Strom in Gerechtigkeit fliessen kann: «damit, wie die Sünde geherrscht hat im Tod, so auch die Gnade herrsche durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn» (Röm 5,21). Das Auge des Glaubens wird die wahre Gnade Gottes immer eng verbunden sehen mit dem Blut Jesu.
Aber welch vielseitigem Widerstand ist die Gnade begegnet! Wie oft musste sie ihren Lauf für eine Weile unterbrechen, um dann mit Gewalt in einen anderen Kanal abzubiegen! Die Natur der Gnade Gottes ist dem Egoismus des Menschen ganz entgegengesetzt. Dieser ärgert sich über Gott und hasst seinen Bruder, weil die herrlichsten Gunstbezeugungen des Himmels selbst dem unwürdigsten Menschenkind zuteilwerden. So ergrimmte Kain und tötete Abel; und der ältere Bruder des «verlorenen Sohnes» wurde zornig und wollte nicht in das Haus eintreten, wo die Gnade regierte. So ist es immer gewesen. Die Natur des Menschen liebt diese Gnade nicht. Er sucht sich von ihr wegzuwenden und sich ihrer zu entledigen. Gelingt es ihm nicht, sucht er die Reinheit des himmlischen Stromes zu verderben, indem er ihn mit eigenen Gefühlen und Werken mischt. Zu allen Zeiten hat die Gnade vonseiten jedes Menschenherzens entschiedenen Widerstand gefunden. Aber die Tiefe, der Reichtum und die Kraft der Liebe Gottes ist so gross, dass nichts ihren Lauf aufhalten kann, bis sie auch die entferntesten Nationen besucht, erfrischt und gesegnet hat.
In der Begebenheit, von der in Lukas 14,15-24 die Rede ist, sagte einer von denen, die mit zu Tische lagen: «Glückselig, wer Brot essen wird im Reich Gottes!» Sogleich erklärt der Herr, dass das Abendmahl schon bereitet sei, dass die Gnade alles vorbereitet habe, und Gott den Menschen einlade, zu kommen und von dem Brot des Himmels zu essen:
«Ein gewisser Mensch machte ein grosses Gastmahl und lud viele ein. Und er sandte seinen Knecht zur Stunde des Gastmahls aus, um den Geladenen zu sagen: Kommt, denn schon ist alles bereit.» Diese Botschaft wurde solchen gebracht, die schon vorher eingeladen worden waren. Aber jetzt sollten sie eintreten, denn die Stunde war gekommen, und alles war bereit. Aber ach, alle ohne Ausnahme fingen an, sich zu entschuldigen! Zwar sagte niemand von ihnen ausdrücklich: «Ich will nicht kommen» aber jeder brachte seine eigene Entschuldigung vor. Ist es nicht heute noch so, wenn die Menschen die Einladung der reichen und freien Gnade Gottes erhalten? Wenige sagen offen: Ich will nichts zu tun haben mit Christus, noch mit seinem Heil. Aber wie viele vernachlässigen oder verachten es und ziehen die Vergnügungen und Eitelkeiten der Welt vor!
Gott hat mit dieser Welt von Anfang an in Gnade gehandelt, und hat die gerettet, die sein Wort aufnahmen. Aber die volle Offenbarung seiner Gnade war dem Kommen Christi vorbehalten. Er wohnte unter uns «voller Gnade und Wahrheit» – «die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden» (Joh 1,14.17). «Gott war in Christus, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend» (2. Kor 5,19). «Die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen» (Tit 2,11).
Der Herr redet in unserem Gleichnis von drei Klassen von Personen, denen dieser Strom der Gnade begegnete:
1. Er spricht von solchen, die mit ihren eigenen irdischen Interessen beschäftigt sind und wenig Geschmack finden an einem himmlischen Fest. Ein Feld, einige Paare Ochsen, eine Frau – sind für sie mehr wert als die Reichtümer, die die Gnade bereithält. Diese an sich guten und rechtmässigen Dinge füllen ihre Herzen in einer Weise aus, dass sie die himmlischen Dinge verschmähen. Das ist ihr ewiges Verderben; denn schliesslich erklärt der Hausherr in der ernstesten Weise, «dass keiner jener Männer, die geladen waren, mein Gastmahl schmecken wird.» Sie werden nicht verdammt, weil sie diese irdischen Dinge besitzen und sich damit beschäftigen, sondern weil sie sich nicht um die Reichtümer kümmern, die die Gnade ihnen geben will. – Aber wenn die Gnade von diesen verschmäht wird, breitet sie sich über andere aus.
2. Die zweite Klasse, die der Hausherr einlädt, sind die Armen und die Krüppel in den Strassen und Gassen der Stadt. Solche Leute sind geneigt, die ihnen von andern erwiesene Güte wertzuschätzen. Wenn wir dazu gelangt sind, unser Elend und unsere völlige Unfähigkeit zu sehen und zu spüren, so wie sie uns hier im Bild vorgestellt sind, wird die Güte, die uns anbietet, alle unsere Bedürfnisse zu befriedigen, willkommen sein und von uns geschätzt werden.
Aber welch ein Bild zeichnet hier der Herr vom geistlichen Zustand des Menschen: arm, verkrüppelt, lahm, blind! Ohne Hände um zu arbeiten, ohne Füsse um zu gehen und ohne Augen um zu sehen! Welch ein Elend! Was vermag einem solchen Zustand der Dinge zu begegnen, wenn nicht die reine Gnade Gottes, im Evangelium seines Sohnes?
An dem einen oder andern Ort einen Saal zu öffnen und anzukünden, dass das Evangelium verkündigt werde, ist gut. Aber wenn die Gnade handelt, tut sie noch viel mehr, denn sie kennt die tiefen Bedürfnisse der Seelen. Sie sucht die ganze Umgebung ab, durchstreift die Strassen und Gassen der Stadt, um jene zu entdecken, die in geistlicher Beziehung alles entbehren. Sie lädt ein und bittet inständig, dahin zu kommen, wo die gute Botschaft verkündigt wird. Aber sie tut es mit dem einzigen Zweck, dass Menschen zu Christus kommen, damit das Haus des Herrn bald voll werde und sie für immer darin bleiben.
«Geh schnell hinaus auf die Strassen und Gassen der Stadt», so lautet der dringende Auftrag des Herrn.
3. Die dritte Klasse ist in der Ferne zerstreut. Man muss sie auf den Wegen und an den Zäunen suchen. Die Nationen sind, verglichen mit der Stadt Jerusalem, diesem irdischen Zentrum aller Wege Gottes, die entfernten Orte der Erde. Aber die Gnade kommt zu ihnen, indem sie voll Energie und Kraft in der ganzen Welt weite Wege zurücklegt und bei jedem Schritt vielerlei Hindernisse überwinden muss. Ihre Quelle ist das, was in Gott selbst ist.
Zwei Dinge scheinen die Szene der Arbeit des Evangeliums zu kennzeichnen, bevor der festliche Himmelssaal gefüllt ist und die Türe geschlossen wird:
1. Die Langmut des Herrn und sein geduldiges Ausharren in der Wirksamkeit seiner Gnade. Zu der ersten Klasse sandte Er seinen Knecht zur Zeit des Abendmahls, um den Geladenen zu sagen:
«Kommt, denn schon ist alles bereit.» Betreffs der zweiten Klasse sagte Er: «Geh schnell hinaus… und bring die Armen herein.» Hinsichtlich der dritten Klasse aber gibt Er die Anweisung: «Geh hinaus auf die Wege … und nötige sie hereinzukommen»
2. Die Energie des Knechtes, der die Gedanken seines Meisters erfasst hat. Er kann von einer Rundreise der Verkündigung oder Verbreitung der guten Botschaft zurückkommen und sagen: «Herr, es ist geschehen, was du befohlen hast, und es ist noch Raum», und dann ebenso frei und durch Christi Liebe getrieben, wie vorher, von neuem hingehen, um noch einige andere zu finden, die errettet werden und das Haus füllen sollen. Glückselig der Knecht, der in der ihm vom Herrn anvertrauten Aufgabe im Geist seines Meisters vorangeht! Die überströmende Gnade, die er verkünden darf, befähigt ihn gleichzeitig dazu.
Wie soll ich der Mahnung: «nötige sie hereinzukommen» entsprechen? – Wenn ich auf meinem Weg einem Freund begegne, den ich gerne zu mir einladen möchte, so sage ich nicht nur zu ihm: «Komm einmal zu uns!» Nein, ich bitte ihn inständig und lasse ihn das lebhafte Interesse meines Herzens für ihn spüren, so dass er sich angezogen fühlt und kommt. So sollte auch unser Verhalten gegenüber den Menschen, mit denen uns der Herr in Verbindung bringt, von echter Liebe und Anteilnahme reden, so dass sie angezogen werden und zu dem «hereinkommen», der sie unendlich mehr liebt, als wir es tun.
So will der reiche und unermüdliche Strom der Gnade Gottes weiterfliessen und sich ausbreiten, bis er die äussersten Grenzen des Ratschlusses der göttlichen Liebe erreicht und aus den Nationen der Erde genügend Seelen gesammelt hat, um sein Haus zu füllen, das ebenso gross ist wie das Herz Gottes. Möge der himmlische Meister seine Knechte, die Er jetzt auf dem Feld des Evangeliums braucht (und wer von uns Gläubigen gehört nicht dazu?), so lenken und führen, dass uns durch die Kraft des Heiligen Geistes der wahre Sinn der Belehrung des Herrn aufgeht, so dass viele Menschen, die uns umgeben, durch unseren Dienst der Liebe ihre Herzen für den Strom der Gnade öffnen.