Durch die drei Gleichnisse dieses Kapitels zeigt der Herr den Pharisäern, dass Er trotz all ihren Gegenvorwürfen nicht aufhören wollte, seine Gnade zu offenbaren und ihre Selbstgerechtigkeit zu verurteilen.
Der ältere Sohn im «Gleichnis des verlorenen Sohnes» stellt jeden Menschen in seiner Selbstgerechtigkeit dar und namentlich jene religiösen Obersten, die murrten, weil Er in das Haus von Sündern ging, sie aufnahm und am selben Tisch mit ihnen ass. Wir haben vor Gott keine Gerechtigkeit, doch hat Er eine Gerechtigkeit für uns, der im Werk des Herrn Jesus Genüge getan worden ist.
Hat das Gesetz Gottes in seiner ganzen Kraft zum Gewissen geredet, so versteht die Seele sehr wohl, dass sie weit davon entfernt ist, das Gesetz zu erfüllen, denn es sagt: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» Das hat aber kein Mensch getan, ausser dem in Gnaden herabgekommenen Sohn Gottes. Das Gesetz sagt auch: «Du sollst nicht begehren», doch die Lust ist in meinem Herzen. Der Mensch wird durch das Gesetz gerichtet, denn es ist nicht gegeben worden, um zu erretten, sondern um den Zustand eines jeden Kindes Adams zu richten.
Christus aber ist gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist; Er hat das Gesetz erfüllt und für uns gelitten. Als wir Sünder und fern von Gott waren, hat Gott sich uns genaht. Er wurde im Fleisch, in der Person Jesu offenbart, der das Erlösungswerk vollbrachte, damit wir mit Ihm und Ihm ähnlich gemacht seien in Herrlichkeit.
Das Gesetz forderte, dass wir untadelig seien, konnte aber nichts anderes tun, als uns verdammen; Christus jedoch hat den Fluch eines übertretenen Gesetzes getragen, damit der Segen auf uns komme (Gal 3,13-14).
Wir sehen in diesen Gleichnissen die beiden Seiten der Gnade Gottes: Sie sucht und nimmt auf, wer irgend zu ihr kommt. Wird eine Seele zur Buße geführt, so freut sich der Himmel darüber; das ist die Wahrheit, die aus diesen drei Berichten hervorgeht. Es gab auch Freude im Herzen des verlorenen Sohnes, als er die Liebe des Vaters erfuhr, aber davon ist hier nicht die Rede; die Freude Gottes ist es, die uns hier auf so rührende Weise gezeigt wird.
In den beiden ersten Gleichnissen sucht Gott sein verlorenes Schaf und die verlorene Drachme. Da ist Freude im Herzen des Hirten, der sein verirrtes Schaf gefunden hat, Freude im Herzen der Frau, die ihre verlorene Drachme wieder besitzt; sie lädt ihre Freundinnen und Nachbarinnen ein, ihre Freude mit ihnen zu teilen (Lk 15,9)
Im dritten Gleichnis finden wir die gleichen Tatsachen wieder, nur mit mehr Einzelheiten über die Sünden und den Zustand des Verderbens des verlorenen Sohnes – also des Menschen im Allgemeinen – sowie auch die Schilderung seines Empfangs im Vaterhaus. Der Herr beschreibt dessen schrecklichen Zustand der Entwürdigung und des sittlichen Verfalls so eingehend, damit wir alle wüssten, dass der elendeste der Sünder in Gnade angenommen wird. Die Sünde war schon im Herzen des jungen Mannes, als er das Vaterhaus verliess. Einmal auf dem Weg, auf den Satan ihn gezogen hatte, stürzte er sich ins Verderben, indem er in der Befriedigung seiner Begierden sein verlorenes Glück vergeblich wiederzufinden suchte. Der Mensch liebt alles in der Welt, ausser Christus. Man kann in dieser Welt von allem reden; spricht man aber den Namen Christi aus, wird sich sofort die Feindschaft des natürlichen Herzens gegen Ihn offenbaren. Die Menschen schämen sich nicht, sich zu einer falschen Religion oder zu einem Christentum mit vermengten Grundsätzen zu bekennen, fürchteten sich aber vor der Schmach Christi. Wie demütigend ist es doch zu sehen, wie der Mensch Jesus den Rücken zuwendet, um seinen eigenen Willen tun zu können!
Der verlorene Sohn kam in das ferne Land und fand dort Hungersnot. Gott benutzt die Prüfungen, um viele Seelen zum tiefen Bewusstsein ihres Elends zu führen, damit sie endlich auf Ihn, die Quelle aller Gnade, blicken. Bevor aber der Mensch dies tut, versucht er immer wieder, sich mit eigenen Mitteln aus der Sache zu ziehen, in der Hoffnung, sich ohne Gott retten zu können.
Das sehen wir auch bei dem verirrten Sohn des Gleichnisses: Er stellte sich in den Dienst eines «der Bürger jenes Landes» (Vers 15). Wie schrecklich! Er war ganz der Macht Satans verfallen, den es freut, diesen Menschen sich immer weiter entwürdigen zu sehen und der ihn hinschickt, «Schweine zu hüten». Dahin führt jener Unabhängigkeitsdrang, der den gefallenen Menschen kennzeichnet: Er will lieber sich in die Arme Satans werfen, als in Gottes Händen sein!
Auf der letzten Stufe des Elends angelangt, unter der Herrschaft des erbarmungslosen Herrn, den er sich ausgewählt hat, und am Verhungern, kommt er endlich zu sich selbst und wirft einen Blick auf die Vergangenheit. Da fällt ein Lichtstrahl in seine Seele hinein, und er ruft aus: «Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Überfluss an Brot, ich aber komme hier um vor Hunger!» (Vers 17). Er tut Buße, verurteilt sein Sündenleben, anerkennt seine Entwürdigung und sein Elend und sieht, dass er nur noch eine Zuflucht hat: Gott. Zu Ihm will er zurückkehren. Er hat noch nicht die Freude des Heils und der Vergebung geschmeckt, aber er macht sich auf, um zu seinem Vater zu gehen; das ist Bekehrung.
Wenn Gott in einem Herzen wirkt, wird dieses seinen natürlichen Zustand erkennen und dahin geführt, Gottes Güte zu suchen, während es vorher Angst hatte, sich dem Gott zu nahen, den es als Richter betrachtete. Mit dem Empfang der Gnade kommt das Vertrauen in die Liebe Gottes. Der Sohn sagte sich, es werde ihm wohler sein unter dem Dach seines Vaters, wo Brot in Überfluss sei; wenn der Vater ihn empfangen wolle, werde er sich glücklich schätzen, wie ein Tagelöhner behandelt zu werden (Vers 19). Immerhin, er fühlte sich unwürdig, weiterhin Sohn zu heissen; sein Gewissen war voll erwacht, aber das hinderte ihn nicht, sich aufzumachen. Durch die Wirkung der Gnade kehrte er zu seinem Vater zurück, und was fand er? Eine unaussprechliche Liebe, die unendlich mehr tut, als alles, was er erbitten oder erdenken konnte. Gott ist es, der alles tut, was zum Heil und zum ewigen Glück des verlorenen Sünders nötig ist.
Der Sohn war bekehrt, war aber seinem Vater noch nicht begegnet, und es fehlte ihm noch das Bewusstsein von dessen Liebe und Gunst. Erst als der Vater ihn zärtlich geküsst und ihn mit dem besten Kleid bekleidet hatte, hegte er diesbezüglich keinen Zweifel mehr (Verse 20-22).
Gott ist Licht und Liebe. Das Licht offenbart alles Verborgene und dem Willen Gottes Entgegengesetzte; seine Wirkung tritt in der Geschichte des verlorenen Sohnes deutlich zutage. Gott war in der Person Jesu unter den Menschen, um ihnen kundzutun, was sie waren und wie weit sie sich von Ihm entfernt hatten. Weil wir verlorene Sünder waren, ist Er in Gnade gekommen, um uns zu erretten.
«Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und … fiel ihm um seinen Hals und küsste ihn sehr» (Vers 20). Dann legte sein reuiger, gedemütigter Sohn ein Bekenntnis ab von seinem sündigen Zustand. Der Vater aber sandte hin und liess «das beste Kleid» holen (Vers 22). Nach diesem Zeugnis überströmender Gnade bat der Sohn nicht mehr darum, wie ein Tagelöhner behandelt zu werden; jetzt hatte er die Gewissheit, ein Sohn zu sein und als ein solcher von seinem Vater aufgenommen worden zu sein, obschon er in diesem Augenblick noch in Lumpen gehüllt und noch nicht über die Schwelle des Hauses getreten war. Seine Beziehungen zu seinem Vater waren ganz neu, und durch «das beste Kleid», «den Ring» und «die Sandalen» (Vers 22) lernte er die Gedanken des Vaters kennen. Nun liess der Vater im Haus ein Festmahl bereiten, an dem sein Sohn teilnehmen sollte. Er ist voller Freude, dass dieser sein Sohn, der tot war, wieder lebendig geworden, der verloren war, nun gefunden worden ist (Vers 24).
Das Gesetz verurteilt den Menschen ganz und gar, denn so sehr es heilig, gerecht und gut ist (Röm 7,12), so sehr ist der Mensch «unter die Sünde verkauft» (Röm 7,14). Das Christentum aber offenbart uns einen in Menschengestalt erschienenen Heiland, der gekommen ist, um allen denen, die Gott suchen, den Ausdruck seiner Liebe zu bringen. Gott ist zu uns gekommen, als wir noch nicht zu Ihm kommen konnten; denn Er war hinter dem Vorhang verborgen, wie wir es in der Stiftshütte sehen. Kommt Gott in der Person seines Sohnes, so offenbart Er uns seine Liebe. Christus stirbt am Kreuz, der Vorhang zerreisst von oben bis unten, der Zugang zu Gott ist uns durch das vergossene Blut Jesu geöffnet, und alle, die durch Ihn Gott nahen, werden so aufgenommen, wie der reuige «verlorene Sohn» von seinem Vater.
Das ist nicht eine unerfüllte Verheissung, sondern eine positive und gegenwärtige Tatsache: Gott sieht den wiedergeborenen Menschen als in Christus, in den himmlischen Örtern sitzend (Eph 2,6). Der Herr Jesus hat für uns den Kelch des Leidens getrunken; Er wurde ans Kreuz genagelt, von Gott verlassen und dann, nachdem Er Ihn in seinem ganzen Werk vollkommen verherrlicht hatte, zur Rechten des Vaters erhöht. Durch sein vergossenes Blut sind die Sünden aller derer, die an Ihn glauben, für immer getilgt. Indem Gott Christus aus den Toten auferweckte, hat Er das Siegel seiner Befriedigung auf das Werk Christi gedrückt, so dass Er denen, die Jesus im Glauben annehmen, keine Schuld mehr anrechnet. Der Gläubige ist, weil vollkommen gerechtfertigt, in eine Herrlichkeit eingeführt, die alles weit hinter sich lässt, was der verlorene Sohn von seinem Vater zu empfangen hoffte.
Ist der Erlöste einmal von seinen Lumpen befreit und mit dem besten Kleid angetan, dann lernt er erst den Umfang der Gnade kennen. Sobald wir Vergebung geniessen, sind wir in Christus vor Gott. Es ist jetzt keine Verdammnis mehr für die, die in Ihm sind. Da Jesus meine Sünden getragen hat und in die Herrlichkeit erhöht worden ist, rechnet mir Gott keinerlei Schuld mehr an.
Alles kommt von Gott. Er ist es, der uns mit dem besten Kleid bekleidet hat. «Was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben», ist in keines Menschen Herz aufgekommen, «uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist» (1. Kor 2,9-10).
Gott will, dass in unseren Beziehungen zu Ihm volles Vertrauen herrsche: «Weil ihr aber Söhne seid, so hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!» (Gal 4,6). Je mehr der Gläubige seine Unwürdigkeit empfindet, desto mehr wird er sich der Liebe des Vaters zu ihm bewusst. Ist er einmal mit dem besten Kleid angetan, kann er in die himmlischen Örter eingehen; er gehört nicht mehr sich selbst an, sondern Christus lebt in ihm. Es ist seine Pflicht, würdig der neuen Beziehung zu Gott zu wandeln, in der er sich nun befindet; und die Sandalen an den Füssen des verlorenen Sohnes reden von einer neuen Kraft, von der Kraft des Heiligen Geistes, in dem wir vor Gott in Neuheit des Lebens und als Söhne in der Freiheit vor Gott wandeln. «Wer sagt, dass er in ihm bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt ist» (1. Joh 2,6).
Durch das Werk des Heiligen Geistes in uns sind wir in den Genuss der durch das Werk Christi am Kreuz gewirkten Versöhnung und des Friedens mit Gott gekommen. Der Vater liebt uns, wie Er Jesus liebt. Er gebe uns, dass wir verstehen, in welch innige Beziehung wir zu Ihm gebracht worden sind!