Der Herr ist in allen Dingen das Vorbild für den Gläubigen. (Siehe 1. Pet 2,21; Phil 2,5). Auch in Johannes 13 wird uns in Ihm ein Beispiel von höchster Wichtigkeit zur Nachahmung vor die Augen gestellt. Wie befolgen wir es? Bestimmt sehr schwach und in vielen Fällen leider überhaupt nicht. Die Folgen dieser Nachlässigkeit gegenüber ungerichteten Sünden machen sich in unserem persönlichen oder gemeinsamen Wandel durch äusserste Schwachheit bemerkbar.
Das christliche Leben kann nur in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn gedeihen. Daraus geht die «Gemeinschaft untereinander» hervor (1. Joh 1,3.4.7).
Gemeinschaft bedeutet: ein gemeinsames Teil haben. Durch das Werk Christi sind wir zu diesem Teil gelangt. Es hat die Sünde weggenommen, die den Menschen von Gott trennte und hat den Gläubigen ins Licht versetzt, wie Gott selbst in dem Licht ist. Als solche, die dahin versetzt sind, haben wir Gemeinschaft mit Gott: Wir teilen seine Gedanken über seinen geliebten Sohn; über dessen Werk und seine gegenwärtigen und ewigen Ergebnisse; über das Gute, über das Böse, über den Menschen, über die Welt – mit einem Wort, wir teilen seine Gedanken im Blick auf alle Dinge. Aus dieser wunderbaren Gemeinschaft entspringt für den Gläubigen ein den Gedanken Gottes entsprechender Wandel und eine «völlige Freude», die schon hier auf der Erde, in Erwartung der Herrlichkeit, sein Teil ist.
Diese Gemeinschaft wie auch die Freude und die Glückseligkeit, die daraus hervorfliessen, wird in dem Augenblick, wo wir sündigen – und wäre es auch nur in Gedanken – unterbrochen, weil Gott auch nicht mit der kleinsten Sünde in Gemeinschaft sein kann.
Als der Herr im Begriff war, die Seinen zu verlassen, wollte Er ihnen durch das Bild der Fusswaschung zeigen, was Er vom Himmel her für sie tun würde, um sie wieder in die Gemeinschaft zurückzubringen, jedes Mal, wenn sie das Unglück haben sollten, sie zu verlieren. Die Fusswaschung ist ein Sinnbild von der Anwendung des Wortes Gottes durch den Herrn auf Herz und Gewissen der Seinen, damit die im Wandel begangene Sünde, wie auch die Ursachen, die dazu geführt haben, im Licht Gottes gerichtet werden. Unter der Wirkung des Wortes beginnt die Gemeinschaft zwischen der Seele und Gott im Blick auf das Böse wiederhergestellt zu werden. Man beurteilt jetzt die Verfehlung wie Gott sie beurteilt; man bekennt sie unter Beugung des Herzens und findet so in jeder Beziehung sowohl die verlorene Gemeinschaft wieder als auch die Freude, die daraus hervorkommt. Ohne dieses Eingreifen des Herrn würde ein solches Werk nie geschehen. In Sünde gefallen, würden wir nicht hingehen, um sie dem zu bekennen, der «treu und gerecht» ist, «uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit» (1. Joh 1,9).
Durch das Sinnbild der Fusswaschung hat uns der Herr aber nicht nur gezeigt, was Er nach seiner Erhöhung in die Herrlichkeit in seiner unendlichen Liebe für uns sein und für uns tun würde, damit wir jetzt droben «ein Teil mit Ihm» hätten. Er hat uns auch ein Beispiel hinterlassen, das wir befolgen sollen. Er will, dass wir in den Bemühungen um das Wohl seiner Erlösten Gemeinschaft mit Ihm haben und es nicht ertragen können, unsere Brüder ausserhalb dieser Gemeinschaft stehen zu sehen. Er will uns in diesem Werk der Liebe mit sich vereinigen, einem Werk, das unsere Brüder, (wie es auch bei uns selbst immer wieder nötig ist), unter die Wirkung des Wortes bringt und sie im Wandel reinigt.
«Als er ihnen nun die Füsse gewaschen und seine Oberkleider genommen hatte, legte er sich wieder zu Tisch und sprach zu ihnen: Versteht ihr, was ich euch getan habe? Ihr nennt mich Lehrer und Herr, und ihr sagt es zu Recht, denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und der Lehrer, euch die Füsse gewaschen habe, so seid auch ihr schuldig, einander die Füsse zu waschen. Denn ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit, wie ich euch getan habe, auch ihr tut. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ein Knecht ist nicht grösser als sein Herr, noch ein Gesandter grösser als der, der ihn gesandt hat. Wenn ihr dies wisst, glückselig seid ihr, wenn ihr es tut» (Joh 13,12-17).
Wie sollte es uns niederbeugen, wenn wir feststellen müssen, in welch geringem Mass wir unseren Lehrer und Herrn in diesem nachahmen! Wenn sich eine Veranlassung dazu zeigt, tun wir es meist mit einer solchen Unvollkommenheit, dass die Resultate gleich null sind.
Unsere Nachlässigkeit in der Ausübung dieses wichtigen Dienstes hat in der Hauptsache zwei Gründe:
- Der erste ist darin zu suchen, dass uns die Liebe, die Triebfeder jeder gottgemässen Tätigkeit, in einem grossen Mass fehlt.
- Der zweite besteht darin, dass wir selbst sehr wenig wissen, was Gemeinschaft mit dem Herrn bedeutet.
Wären wir gewohnheitsmässig in Gemeinschaft mit Ihm, zeigte sich unsere Liebe für Ihn und für die Seinen viel aktiver und unermüdlicher. Wenn wir einander liebten, nach dem Wort: «Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebet, damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebet» (Joh 13,34), vermöchten wir den Gedanken nicht zu ertragen, dass ein Einziger unter uns vom Genuss einer solchen Gemeinschaft ausgeschlossen sein soll. Wir täten unser Möglichstes, um – entsprechend dem Beispiel des Herrn – unserem Bruder zu helfen, das verlorene Glück sobald wie möglich wieder zu finden, ist es doch die grösste Glückseligkeit, die die Seele hier auf der Erde geniessen kann. Wenn wir für uns selbst nicht oder nur wenig wissen, was diese Gemeinschaft bedeutet, wie können wir da ermessen, was unseren Geschwistern fehlt, wenn sie sie verloren haben? Und wie sollte es uns da möglich sein, ihnen zu helfen, sie wiederzufinden? Infolge dieser Unfähigkeit breitet sich der Mangel an Gemeinschaft aus; das Böse macht Fortschritte; man gewöhnt sich daran; es bringt traurige Früchte hervor; es beherrscht das Tun und Lassen, ohne dass das Innere wirklich darüber beunruhigt ist. Wenn wir uns schliesslich aufraffen, um uns damit zu beschäftigen, geschieht es dann wirklich, weil wir den Gedanken nicht ertragen, dass unser Bruder und unsere Schwester ihr «Teil» mit dem Herrn nicht verwirklichen können?
Wahre Liebe zu unseren Geschwistern machte uns wachsam, nicht, um bei ihnen Fehler zu finden, sondern um zu erkennen, ob in ihrem Wandel etwas ist, was ihnen die Gemeinschaft mit dem Herrn raubt. Wir warteten nicht, bis ein ernster Fall eintritt, sondern vermöchten vorher schon zu erkennen, ob unser Bruder einen «Toten», ein «Gebein» oder ein «Grab» berührt hat, und machten ihn auf das in diesen Bildern angedeutete Böse, an das wir uns so leicht gewöhnen, aufmerksam.1 Wir liessen uns nicht durch Erwägungen abhalten, die nichts anderes bezwecken, als die uns unangenehm scheinende Aufgabe zu umgehen, die Empfindlichkeit unserer Brüder zu schonen oder die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen nicht zu stören. Die gottgemässe Liebe höbe uns über Erwägungen sozialer Art hinweg, und wir setzten uns in aller Demut zu den Füssen derer nieder, die diesen Dienstes nötig haben, welche Stellung sie auch einnehmen mögen. Die Liebe kennt nur das Bedürfnis, glücklich zu machen; sie scheut keine Mühe, um dem Herrn zu gehorchen und zum Nutzen der Geschwister tätig zu sein. Sie wird uns dazu führen, Wahrheit, Gnade und Entschlossenheit zu vereinigen, mit Sorgfalt die geeigneten Stellen des Wortes Gottes auszuwählen und anzuwenden, ohne den Betreffenden unnötigerweise zu verletzen. Man hat schon gesagt: «Selbst wenn die Füsse unseres Nächsten sehr schmutzig wären, nähmen wir kein kochendes Wasser, um sie zu reinigen. Bei der Ausführung einer solchen geistlichen «Waschung» sollen wir uns – dem Beispiel unseres Lehrers und Herrn folgend – zu den Füssen des Bruders niederbeugen und uns nicht über ihn erheben, um ihm «den Kopf zu waschen».
Wenn es je nötig ist, den Bruder höher zu achten als uns selbst, so gewiss dann, wenn wir uns mit ihm beschäftigen, um ihm zur Wiederherstellung zu verhelfen. Dass er gefehlt und dadurch die Würde seiner Berufung selber missachtet hat, ist kein Grund, ihn weniger zu achten. Wir sollen ihn in der Stellung und in der Würde betrachten, in die das Werk Christi ihn versetzt hat, und ihn nicht wegen seines Zustandes gering einschätzen. Angespornt durch das Beispiel unseres Lehrers und Herrn, werden wir in Liebe den bescheidensten Dienst eines Sklaven des Altertums ausüben, der darin bestand, die Füsse der Reisenden beim Eintritt in das Haus seines Herrn zu waschen. Wir aber geben uns diesem Dienst hin, damit unsere Brüder in einen unvergleichlich herrlicheren Palast eintreten können, an den Ort, wo die Gegenwart Gottes in der Freude seiner Gemeinschaft verwirklicht wird.
Die Liebe zu allen Heiligen soll uns antreiben, wie es bei den Ephesern und Kolossern der Fall war, viel füreinander zu beten; denn das ist auch die Tätigkeit unseres Hohenpriesters und Sachwalters vor Gott, der immer wieder damit beschäftigt ist, unsere Füsse zu waschen. Dabei werden uns aus Gott Energie, Gnade und alle reinen Beweggründe zufliessen, um dem göttlichen Beispiel entsprechend handeln zu können. So nur werden wir die nötige Gnade empfangen, um den Aufgaben zu entsprechen, die eines dem andern gegenüber zu erfüllen hat.
Wir haben für uns selbst grösste Wachsamkeit nötig und ein Wandeln im Selbstgericht, damit bei uns nichts eintreten kann, was unsere Gemeinschaft unterbricht. Auf diese Weise nur werden wir beurteilen können, ob und wie unser Bruder dieses Vorrecht praktisch verloren hat. Wenn wir uns selbst in der Gegenwart Gottes befinden, werden wir demütig bleiben und die Füsse unseres Bruders in Liebe zu waschen vermögen. Die Haltung des Herrn gegenüber seiner Versammlung, die Er geliebt und für die Er sich selbst hingegeben hat, «damit er sie heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser durch das Wort», wird dann auch unsere Haltung sein.
Lasst uns einander lieben, wie der Herr uns liebt, und darin für Ihn und die Seinen immer tätiger sein, bis wir alle miteinander zur ewigen Ruhe der Liebe gelangen! Erinnern wir uns auch daran, dass die Glückseligen, von denen der Herr im 17. Vers redet, jene sind, die diese Dinge tun und nicht jene, die sie nur wissen. Auch Jakobus sagt: «Wer nun weiss, Gutes zu tun, und tut es nicht, dem ist es Sünde» (Jak 4,17).