Allgemeine Gedanken über die Psalmen
Christus in den Psalmen
Die Psalmen wurden von gläubigen Männern wie David, Asaph und den Söhnen Korahs geschrieben, und zwar als sie sich in schwierigen und notvollen Umständen befanden. Seit 3000 Jahren schöpfen gottesfürchtige Menschen Kraft aus diesem Teil der Bibel. Dennoch ist der Hauptgedanke der Psalmen, uns Jesus Christus vorzustellen. Das überrascht uns vielleicht ein wenig. Doch Er ist das grosse Thema der Heiligen Schrift.
Der Sohn Gottes war zur Zeit des Alten Testaments noch nicht offenbart und noch nicht als Mensch in die Welt gekommen. Darum weisen die Psalmen prophetisch auf diesen Einen hin, der vor 2000 Jahren auf die Erde kam, um am Kreuz von Golgatha zu sterben. Wie Petrus es in seinem ersten Brief mitteilt, reden sie von den Leiden, die auf Christus kommen sollten, und von den Herrlichkeiten danach (1. Pet 1,11). Die Psalmen zeigen uns besonders die Empfindungen Jesu in den Leiden und Nöten, durch die Er als Mensch gegangen ist. Die Evangelien beschreiben mehr den Weg unseres Heilands von der Krippe bis zum Kreuz, sowie seine Auferstehung und Himmelfahrt. Es wird uns dort berichtet, was Er erlebt und gesprochen hat. Aber in den Psalmen finden wir sein Herz, d.h. das, was Er auf seinem Lebensweg und am Kreuz empfunden hat.
Es gibt in den Psalmen Abschnitte wie z.B. Psalm 22, die von den sühnenden Leiden unseres Herrn am Kreuz auf Golgatha sprechen. Diese hat nur Er durchgemacht, und zwar um uns zu erretten. Andere Psalmen hingegen beschreiben seine Leiden in seinem Menschsein. Er hat gelitten, damit Er jetzt Mitleid mit uns, den Glaubenden, haben kann, wenn auch wir durch schwierige Tage gehen. Gott verheisst uns nicht ein einfaches Leben. Oft gleicht es einem dunklen Tal. Doch wir erfahren die Hilfe und Ermunterung unseres Herrn, wenn wir sehen, dass Er selbst durch schwere Umstände gegangen ist. Weil Er die gleichen Erfahrungen gemacht hat, versteht Er uns.
Der gläubige Überrest Israels in der Zukunft
Die Psalmen weisen zudem prophetisch auf eine noch zukünftige Zeit hin. Wir erwarten den Herrn Jesus zur Entrückung. Das ist unsere christliche Hoffnung. Er wird kommen und alle, die in der Zeit der Gnade an Ihn geglaubt haben, mit den Glaubenden des Alten Testaments in die Herrlichkeit des Himmels entrücken. Diese werden nicht ohne uns vollkommen gemacht (Heb 11,40). Danach wird das Evangelium des Reiches verkündigt, d.h. die Menschen werden zur Buße aufgerufen, um bereit zu sein, ins Reich des kommenden Königs einzugehen. Diese Verkündigung richtet sich besonders an das Volk Israel. Doch sie geht auch zu allen Nationen aus. Ein kleiner Teil der Menschen wird dieser Botschaft glauben, seine Sünden bekennen und auf den angekündigten Messias warten. Diese Gläubigen werden durch Verfolgung und unvorstellbare Leiden zu gehen haben. Diese Drangsalszeit wird insgesamt sieben Jahre dauern – der Prophet Daniel spricht von der 70. Jahrwoche –, in der die gläubigen Juden verfolgt werden. Sie erfahren in erster Linie von ihren eigenen Landsleuten – vom Antichristen und seinen Anhängern – Widerstand, Hass und Leiden. Sie werden aber auch von den Nachbarvölkern verfolgt und bedrängt werden. In dieser Not schreien sie zu Gott. Diese zukünftige Zeit ist auch ein Thema der Psalmen.
Die Anwendung auf uns Christen
Wir dürfen die Psalmen aber auch auf uns, die in der Gnadenzeit glauben, anwenden. Doch es gibt einen grossen Unterschied zwischen uns und den Glaubenden des Alten Testaments. Als sie die Psalmen schrieben und lasen, kannten sie das Erlösungswerk des Herrn Jesus noch nicht. Wir jedoch blicken auf ein vollbrachtes Werk am Kreuz auf Golgatha zurück. Das lässt uns die Psalmen besser verstehen – denn die Schriften des Neuen Testaments geben uns Verständnis über die Schriften des Alten Testaments.
Dazu ein Beispiel: In Psalm 44,23 klagen die Söhne Korahs: «Doch um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag, wie Schlachtschafe sind wir geachtet.» Sie sind in einer ausweglosen Situation und vergleichen sich mit Schlachtschafen, die keinen Moment wissen, wann sie getötet werden. In Vers 24 sagen sie dann: «Erwache! Warum schläfst du, Herr? Wache auf! Verwirf uns nicht auf ewig!» So haben die Gläubigen des Alten Testaments reagiert.
Auch wir können ähnliche Umstände erleben. Darum zitiert Paulus diese Stelle in Römer 8,36: «Wie geschrieben steht: Deinetwegen werden wir getötet den ganzen Tag; wie Schlachtschafe sind wir gerechnet worden.» Doch dann folgt die Reaktion der Erlösten der Zeit der Gnade in Vers 37. Sie lautet anders als die der Söhne Korahs: «Aber in diesem allen sind wir mehr als Überwinder durch den, der uns geliebt hat.» Wenn der Apostel von der Liebe des Herrn Jesus in der Vergangenheitsform spricht, dann meint er die Liebe, die sich im Sterben am Kreuz offenbart hat. Wir kennen die Liebe des Christus, offenbart auf Golgatha, und können deshalb den Schwierigkeiten des Lebens ganz anders begegnen als die alttestamentlich Gläubigen. Um die Psalmen besser zu verstehen und auf uns anwenden zu können, ist es also wichtig, das Licht des Neuen Testaments auf sie zu werfen.
Einleitung zu den Psalmen 61 – 63
Es gibt fünf Psalmbücher. Das erste spricht prophetisch von der ersten Hälfte der sieben Drangsalsjahre. Zu diesem Zeitpunkt wird der glaubende Überrest in Israel gebildet. Sie leben noch in Jerusalem und im Land Israel. Das zweite Buch der Psalmen (ab Psalm 42) zeigt uns die zweite Hälfte dieser Drangsalszeit. Sie ist gekennzeichnet durch eine schlimme Verfolgung der Treuen in Israel. Sie müssen aus Jerusalem, Judäa und Israel in die Nachbarländer fliehen. Davon sprechen auch die Psalmen 61 – 63, mit denen wir uns genauer beschäftigen wollen.
Oft stellen drei Psalmen einen zusammenhängenden Gedanken vor. So bilden auch die Psalmen 61 – 63 eine Reihe. Psalm 61 zeigt uns das Gebet des Glaubenden zu Gott, in Psalm 62 finden wir das Vertrauen des Glaubenden in Gott und Psalm 63 redet von der Gemeinschaft des Glaubenden mit Gott.
Alle drei wurden von David geschrieben, wahrscheinlich als er auf der Flucht entweder vor König Saul oder vor seinem Sohn Absalom war. Im zweiten Fall musste er, von seinem eigenen Sohn verfolgt, aus Jerusalem fliehen. Stellen wir uns einmal vor: Ein Vater muss vor seinem Sohn um sein Leben bangen und die Flucht ergreifen! Aus dieser Bedrängnis heraus hat David diese Psalmen geschrieben. Er zeigt uns darin, was er in dieser notvollen Zeit, in den vielleicht dunkelsten Tagen seines Lebens, von seinem Sohn erfahren hat. Er beschreibt nicht so sehr die Umstände, sondern die Not seines Herzens, seine Schmerzen und seine Bedrücktheit. Noch viel mehr aber spricht er von seinem wunderbaren Gott, mit dem er in Verbindung steht. Wenn David von Ihm spricht, finden wir in diesen Psalmen häufig: Du, Dir, Dein. So hat er bei Ihm Hilfe gefunden und Kraft geschöpft. Auch wir dürfen lernen, in notvollen Umständen von uns weg auf Gott zu blicken.
Psalm 61: Das Gebet des Glaubenden zu Gott
Das Gebet
In vielen Psalmen gibt der erste Vers nach der Überschrift das Thema an. So auch hier: «Höre, Gott, mein Schreien, horche auf mein Gebet!» (V. 2). Der grosse Leitgedanke dieses Psalms ist also das Gebet des Glaubenden zu Gott. Not lehrt beten. Das haben wir alle selbst schon erfahren. Vielleicht lernten wir bereits in jungen Jahren, zu Gott zu beten. Doch wir beginnen erst zu Ihm zu schreien, wenn wir in schwierigen Umständen sind und uns selbst nicht mehr helfen können. Wenn wir unsere Knie im Gebet vor unserem Gott beugen, dann drücken wir zweierlei aus: 1) Ich kann es nicht; 2) Gott kann alles.
Beispiele von Betern in der Bibel
Sowohl in den Tagen des Alten Testaments als auch zur Zeit des Neuen haben glaubende Menschen zu Gott gerufen:
- Die Patriarchen hatten ihre Altäre, wo sie vor Gott erschienen, um mit Ihm zu reden.
- Der Jünger Johannes, der sich an die Brust des Herrn Jesus lehnte, stellte Ihm eine Frage. Das war ein Gebet.
- Petrus hat in Apostelgeschichte 4 zusammen mit den übrigen Aposteln gebetet. Da bewegte sich die Stätte, wo sie versammelt waren.
- Auf dem Weg nach Damaskus begegnete Saulus von Tarsus dem verherrlichten Herrn und wurde zu Boden geworfen. In dieser Stunde bekehrte er sich. Kurz darauf sandte der Herr den Jünger Ananias mit den Worten zu Saulus: «Siehe, er betet!» (Apg 9,11). Es gehört zum Charakter des Glaubenden, dass er betet.
Auch der Herr Jesus hat gebetet: «Es geschah aber in diesen Tagen, dass er auf den Berg hinausging, um zu beten; und er verharrte die Nacht im Gebet zu Gott» (Lukas 6,12). Eine ganze Anzahl von Stellen in den Evangelien zeigen uns, dass Er zu Gott betete. Das Reden mit Gott hatte einen festen Platz im täglichen Ablauf seines Lebens. Doch es gibt zwei besondere Begebenheiten, in denen unser Herr betete:
- Wir finden Ihn in Gethsemane, wo es heisst, dass Er anfing, bestürzt und beängstigt zu werden, niederkniete und betete. Es ist für uns sehr tröstlich, dass der Herr Jesus Furcht kannte. Doch in seiner Angst rief Er zu seinem Gott.
- Als Er am Kreuz hing, betete Er ebenfalls aus der tiefsten Not seiner Seele: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?»
Machen uns diese Beispiele und besonders die Gebetshaltung unseres Herrn nicht Mut, vermehrt die Gegenwart Gottes im Gebet zu suchen? Sollten wir nicht in allen Schwierigkeiten des Lebens zu Dem rufen, der zu erhören vermag?
Der Fels, das Fundament des Glaubens
«Vom Ende der Erde rufe ich zu dir, wenn mein Herz verschmachtet; du wirst mich auf einen Felsen leiten, der mir zu hoch ist» (V. 3). Dieser Vers zeigt uns, dass der treue Überrest des Volkes Israel aus dem Land vertrieben sein wird. Sie leiden dann sehr, weil sie durch Verfolgung die Heimat verlassen müssen, um an einem fremden Ort ihr Dasein zu fristen. Sie werden den Eindruck haben, sich am Ende der Erde zu befinden – vertrieben und verachtet.
Wenn wir unseren Herrn vor den Menschen treu bekennen, werden wir auch bis zu einem gewissen Grad erfahren, dass die Welt uns nicht will und uns verachtet. Das ist nicht leicht für uns. Wenn die Menschen schlecht oder verächtlich über uns reden, trifft uns dies innerlich. Auch der Herr Jesus hat diesen Widerstand erfahren, als Er über diese Erde schritt. Matthäus berichtet sehr eindrücklich, wie Er zuletzt verworfen wurde: «Sie führten ihn weg, um ihn zu kreuzigen.» Wie muss dies das Herz unseres Heilands getroffen haben!
Doch in dieser Verfolgung und Verachtung gibt es ein Fundament für den Glaubenden – einen Felsen. Dieser Fels ist die Zusage Gottes für uns in seinem Wort. Das wird uns in Lukas 6 erklärt. Da vergleicht der Herr jemand, der zu Ihm kommt, sein Wort hört und tut, mit einem klugen Mann, der ein Haus baut, indem er gräbt und vertieft und den Grund auf den Felsen legt. So ist die Zusage Gottes für die Seinen auch in schwierigen Tagen das Fundament: Er verlässt uns nicht und bringt uns aus der Schwierigkeit heraus – das ist ganz sicher. Spätestens am Tag der Entrückung wird der Herr Jesus das bei allen Erlösten der Gnadenzeit tun. Dann werden wir aus allen Schwierigkeiten heraus in die Herrlichkeit des Himmels entrückt. Das versichert uns das Wort Gottes. Ist das nicht der Fels, auf dem wir jederzeit Halt bekommen können?
Diesen Felsen kannte auch der Herr Jesus. Er hatte die Zusicherung Gottes, dass dieser nicht zulassen würde, dass sein Frommer die Verwesung sehe (Ps 16,10). So hat Gott Ihn auferweckt und zu seiner Rechten gesetzt. Das hat Ihn – menschlich gesprochen – durch alle Leiden des Kreuzes hindurchgetragen. Der Schreiber des Hebräer-Briefs macht das in Kapitel 12,2 klar: «Der … für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldete.»
Dieser Vers wird manchmal falsch verstanden. Die vor ihm liegende Freude ist nicht die Tatsache, dass Er eine Braut bekommen wird. Das ist natürlich auch eine Freude. Doch davon spricht Matthäus 13,44-46. Dort geht es um uns, die Glaubenden, dargestellt durch den Schatz im Acker und die kostbare Perle. Für uns hat Er alles verkauft, was Er hatte. In uns sieht Er voller Freude die Frucht der Mühsal seiner Seele. Doch der Vers in Hebräer 12 erklärt uns, dass Er nach vollbrachtem Werk auferstehen und als Mensch in die strahlende Herrlichkeit der Gegenwart Gottes eingehen würde. Das war die Zusicherung Gottes an unseren Herrn. Auch wir dürfen uns in allen Problemen durch die Zusagen der Nähe und Hilfe des Herrn in seinem Wort auf den Felsen leiten lassen.
Aber dieser Fels ist für unseren Verstand zu hoch. Doch unser Glaube ergreift die Verheissungen Gottes und hält daran fest, wenn wir sie auch mit unserem Verstand manchmal nicht erfassen können. Oft wissen wir nicht, wie Gott uns aus der Schwierigkeit herausführt, in der wir gerade stecken. Nirgends sehen wir seine Rettung, aber wir stützen uns im Glauben auf Gottes Wort. Das ist die Bedeutung der Aussage: «Du wirst mich auf einen Felsen leiten, der mir zu hoch ist.»
Zwei Blickrichtungen des Glaubens
Vers 4 zeigt uns den Glaubensblick in die Vergangenheit und Vers 5 den vertrauensvollen Ausblick in die Zukunft. Wenn wir durch dunkle Tage gehen, dann lenkt der Herr unsere Blicke in diese beiden Richtungen.
a) Wie Gott uns geholfen hat
«Denn du bist mir eine Zuflucht gewesen, ein starker Turm, vor dem Feind» (V. 4). Das ist die erfahrene Hilfe Gottes in der Vergangenheit. Er möchte uns in den Schwierigkeiten daran erinnern, wie oft wir in einer Not seine Rettung schon erfahren haben. Können wir nicht alle auf solche Erfahrungen zurückblicken?
Es ist natürlich ein Unterschied, in einer Not zu sein oder auf eine vergangene Not zurückzublicken. In 2. Korinther 1 spricht Paulus von dem, was er in Ephesus erlebt hat. Zuerst blickt er in den Versen 3-7 auf jene Tage zurück und sagt: «Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Erbarmungen und Gott allen Trostes, der uns tröstet in all unserer Bedrängnis.» So hat er seinen Gott erfahren. Doch in Vers 8 redet er von seinen Empfindungen, als er mitten in den Schwierigkeiten steckte: «Wir wurden übermässig beschwert, über Vermögen, so dass wir sogar am Leben verzweifelten.» Wenn er ein halbes Jahr zuvor im ersten Korinther-Brief geschrieben hat, dass Gott nicht über Vermögen versucht, sondern mit der Versuchung auch den Ausgang schaffen wird, so hatte er später in der Not in Ephesus den Eindruck gehabt, dass er über Vermögen versucht wurde. Das war seine Erfahrung in den Schwierigkeiten, als er keinen Ausweg mehr sah und sogar am Leben verzweifelte.
In unserem Psalm hat David erlebt, dass Gott stärker ist als jeder Feind. Der Glaubende hat es mit drei verschiedenen Feinden zu tun: mit Satan, mit der Welt und mit der in ihm wohnenden Sünde. Wir dürfen sie nicht unterschätzen. Doch Gott ist unser starker Turm. Wenn wir bei Ihm Zuflucht suchen, werden wir im praktischen Leben seine tägliche Bewahrung erfahren. Satan ist der Feind Gottes und der Widersacher der Gläubigen. Er ist stark und listig. Aber wir sind mit Dem verbunden, der den Feind überwunden hat.
b) Wohin Gott uns bringen wird
Vers 5 zeigt uns den Glaubensblick nach vorn: «Ich werde ewig in deinem Zelt weilen.» Was auch immer geschieht, Gott wird uns ans Ziel bringen. Was uns, die Glaubenden der Gnadenzeit, betrifft, so werden wir in das Haus des Vaters eingehen. Unser Vers spricht eigentlich nicht davon, aber im Licht des Neuen Testaments dürfen wir ihn darauf anwenden. Unser Heiland hat uns eine klare und sichere Zusage über das Haus des Vaters gemacht. Auf die Frage von Thomas in Johannes 14 sagte Er: «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater als nur durch mich» (V. 6).
Obwohl durch diesen Vers sicher Menschen zum Glauben an Jesus Christus gefunden haben, ist die Auslegung dieses Verses nicht evangelistisch. Er erklärt uns, dass der Herr Jesus der Weg zum Haus des Vaters ist. Weil Er selbst als der Auferstandene in den Himmel gegangen und als erster Mensch in das Haus des Vaters eingetreten ist, hat Er uns den Weg zum Vater geöffnet. Er ist auch die Wahrheit über den Vater. Er hat Ihn offenbart. Darum können wir nur durch Ihn etwas über den Vater wissen. Er ist auch das Leben und hat uns dieses ewige Leben mitgeteilt, damit wir befähigt sind, im Haus des Vaters glücklich zu sein. Dort ist die Heimat des ewigen Lebens. Weil wir dieses ewige Leben besitzen, ist unsere Zukunft im Haus des Vaters. «Ich werde ewig in deinem Zelt weilen.» So wie der Herr die Gedanken der bestürzten Jünger zur ewigen Heimat droben richtete, so ist auch für uns der Blick nach vorn und nach oben der stärkste Trost in allen Schwierigkeiten.
Aber wir haben schon hier auf der Erde eine Heimat. Davon spricht der zweite Teil von Vers 5: «Ich werde (oder will) Zuflucht nehmen zu dem Schutz deiner Flügel. – Sela.» Der Glaubende findet eine gegenwärtige Geborgenheit in der Gemeinschaft mit Gott. Das ist schon ein Hinweis auf Psalm 63. Der Erlöste hat eine zukünftige ewige Heimat im Haus des Vaters. Doch er darf schon heute jederzeit die wunderbare Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus geniessen. Kennen wir Momente, da wir hinter einer verschlossenen Tür mit dem Herrn allein waren? Das ist Heimat für den Glaubenden, das ist Zuflucht unter dem Schutz seiner Flügel.
Der Vorsatz des Betenden
«Denn du, Gott, hast auf meine Gelübde gehört, hast mir das Erbteil derer gegeben, die deinen Namen fürchten» (V. 6). Hier äussert David in seinem Gebet ein Gelübde oder einen Vorsatz. Das Beispiel von Hanna erklärt uns, was damit gemeint ist. In 1. Samuel 1,10.11 heisst es: «Hanna war in der Seele verbittert, und sie betete zu dem HERRN und weinte sehr. Und sie tat ein Gelübde und sprach: HERR der Heerscharen, wenn du das Elend deiner Magd ansehen und meiner gedenken und deine Magd nicht vergessen wirst, und wirst deiner Magd einen männlichen Nachkommen geben, so will ich ihn dem HERRN geben alle Tage seines Lebens; und kein Schermesser soll auf sein Haupt kommen.» Das ist ein Gebet und ein Gelübde einer gottesfürchtigen Frau. Sie betete um etwas, was sie dann dem HERRN zurückgeben wollte.
Es ist wichtig und ernst, dass wir nicht beten, wie Jakobus es sagt: «Ihr bittet und empfangt nichts, weil ihr übel bittet, damit ihr es in euren Begierden vergeudet» (Jak 4,3). Sind unsere Gebete nicht manchmal so? Wir bitten um etwas, damit wir unsere egoistischen Gedanken verwirklichen können. Dann müssen wir uns nicht wundern, wenn solche Gebete nicht erhört werden. Ein Beispiel finden wir beim älteren Sohn in Lukas 15. Er klagt seinen Vater mit den Worten an: «Mir hast du niemals ein Böcklein gegeben, damit ich mit meinen Freunden fröhlich wäre.» Er wollte ohne den Vater mit seinen Freunden fröhlich sein und seinen Egoismus ausleben. Darum hatte der Vater ihm nie ein Böcklein gegeben. So hat David nicht gebetet. Er verbindet seine Bitte mit einem Gelübde. Wenn seine Bitte erhört wird, will er weiter seine Kraft und seine Zeit für seinen Gott gebrauchen. Gott liebt solche Gebete, und Er wird sie erhören!
Der zweite Teil von Vers 6 ist nicht so einfach zu erklären. Vielleicht können wir sagen, dass ein gottesfürchtiges Leben ein reich gesegnetes und glückliches ist. Waren nicht die Zeiten, in denen wir in Gottesfurcht und Abhängigkeit von Gott gelebt haben, die glücklichsten Tage unseres Lebens? Es gibt ja unterschiedliche Zeiten. Wenn wir auf unser Leben zurückblicken, kennen wir Tage, in denen wir etwas vom Herrn empfangen haben. Doch wir haben auch die Erfahrung gemacht, die ein Liederdichter ausdrückte: «Wenn wir uns von Ihm abwenden, wird es finster um uns her.» Aber in der Nähe des Herrn, in einem gottesfürchtigen Leben werden wir das Erbteil empfangen. Dann sind wir glückliche und gesegnete Menschen.
Gott erhört das Gebet des Königs
«Du wirst Tage hinzufügen zu den Tagen des Königs; seine Jahre werden sein wie Geschlechter und Geschlechter» (V. 7). Der erste Teil dieses Verses hat sich im Leben Davids erfüllt. Auf der Flucht vor Absalom sagt der König in 2. Samuel 15,25 zu Zadok: «Wenn ich Gnade finde in den Augen des HERRN, so wird er mich zurückbringen und mich die Lade Gottes und seine Wohnung sehen lassen.» Gott hat diesen Wunsch erhört, David nach Jerusalem zurückkehren lassen und seinem Königtum noch eine Zeit hinzugefügt.
Aber dieser Vers spricht noch deutlicher vom Herrn Jesus. Er ist als Mensch im Alter von ungefähr 33 Jahren auf dem Zenit seines Lebens gekreuzigt worden. Es ist ein Unterschied, ob ein Mensch im Alter stirbt oder jung, wenn er auf dem Höhepunkt der Kraft seines Lebens steht. In Psalm 102,25 klagt Jesus Christus prophetisch: «Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage!» Es bedeutete für unseren Heiland tiefe Leiden, in der Vollkraft seines Lebens getötet zu werden. Doch es folgt die Antwort Gottes: «Von Geschlecht zu Geschlecht sind deine Jahre.» Gott hat seinen Frommen auferweckt und Ihm Tage hinzugefügt. Als der Auferstandene hat der Herr Jesus noch 40 Tage auf der Erde gelebt, und Er bleibt in Ewigkeit Mensch, wie uns dies Vers 8 zeigt.
Christus bleibt ewig Mensch
«Er wird in Ewigkeit bleiben vor dem Angesicht Gottes. Bestelle Güte und Wahrheit, dass sie ihn behüten!» (V. 8). Die ewige Menschheit unseres Erlösers ist eine wichtige Wahrheit. Er ist Mensch geworden, als Mensch gestorben und auferstanden, um ewig als Mensch zu leben. Einerseits war seine Menschheit die Voraussetzung, um für uns sterben zu können und in seinem Tod das Erlösungswerk zu vollbringen. Anderseits ist Er auch Mensch geworden, um uns den unsichtbaren Gott als Vater zu offenbaren. Das ist das Thema des Johannes-Evangeliums. Der eingeborene Sohn, der im Schoss des Vaters ist, hat Ihn kundgemacht, indem Er auf die Erde kam. Doch Er wird uns auch in alle Ewigkeit den Vater zeigen, denn wir werden im Himmel Gott, den Vater, im Angesicht Christi sehen. Davon spricht der Herr Jesus in Johannes 17,26: «Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun.» Das erste tat Er hier auf der Erde, und das zweite ist seine himmlische ewige Aufgabe als Mensch. Darum heisst es in unserem Vers, dass Er in Ewigkeit vor dem Angesicht Gottes bleiben wird.
Weiter spricht der Psalmist von Güte und Wahrheit. Wenn der Herr Jesus in Herrlichkeit wiederkommen wird, wird Er dem glaubenden Überrest aus Israel Güte entgegenbringen und gegenüber den Gottlosen die Wahrheit offenbaren. Auf dem Höhepunkt der Leiden dieses Überrests in der Drangsalszeit wird der Messias mit Macht und grosser Herrlichkeit erscheinen und sich zu den Verfolgten stellen. Durch das Gericht über die Gottlosen wird Er die Glaubenden aus aller Bedrängnis befreien. Das wird für diese Treuen Güte sein, und für die Gottlosen wird dann die Stunde der Wahrheit kommen. Das gerechte Gericht wird alle treffen, die sich gegen Gott und sein irdisches Volk gestellt haben.
In der Befreiung des jüdischen Überrests besteht ein wesentlicher Unterschied zu den Glaubenden der Gnadenzeit. Uns erlöst Er aus den Schwierigkeiten, indem Er uns aus dieser Welt herausnimmt und in den Himmel entrückt. In 2. Korinther 5,2 sagt der Apostel, dass wir in unserem irdischen Haus – das ist unser Körper – seufzen und uns sehnen, mit unserer Behausung, die aus dem Himmel ist, überkleidet zu werden. Wir sehnen uns nach dem Augenblick der Entrückung, da unser Heiland uns aus den Umständen herausholt, uns mit dem neuen Leib überkleidet und in die Herrlichkeit bringt. Den glaubenden Überrest aus Israel aber wird Er befreien, indem Er das Gericht über die Gottlosen bringt, die sie bedrängt haben.
Ewige Anbetung und ewiger Dienst
Vers 9 spricht vom Tausendjährigen Reich: «So werde ich deinen Namen besingen auf ewig, indem ich meine Gelübde bezahle Tag für Tag.» Ewig bedeutet hier die ganzen 1000 Jahre der Friedensherrschaft. So werden die Treuen aus Israel besonders zu Beginn und auch während der ganzen Zeit dieses Reiches auf die Befreiung, die sie erfahren haben, zurückblicken. Dann werden sie den Namen des HERRN, der sie errettet hat, besingen und, befreit von jeder Schwachheit, sich ganz seinem Dienst weihen.
In übertragenem Sinn ist das auch von uns wahr. Wenn wir in der Herrlichkeit angekommen sein werden, werden wir die Wege, die Gott hier mit uns gegangen ist, anbetend bewundern. Der Patriarch Jakob ist ein Beispiel dafür. In hohem Alter dreht er sich noch einmal um und blickt auf sein ganzes Leben, auf seinen langen Weg zurück. Das Haupt ist gebeugt über der Spitze seines Stabes. Er sieht seinen Eigenwillen und seine eigenen Wege, er erkennt auch die ganze Ernte davon. Es gibt in der Bibel keinen Glaubensmann wie Jakob, von dem so deutlich gezeigt wird, dass ein Mensch ernten muss, was er gesät hat. Einst hat er z.B. seinen Vater mit einem Ziegenböckchen betrogen. Später wurde er von seinen Söhnen ebenfalls mit einem Ziegenböckchen hintergangen.
Doch wenn Jakob zurückblickt, sieht er auch die Gnade. Gott hat ihn nicht aufgegeben, sondern ihn bis ans Ziel geführt. So neigt er sich über seinen Stab und betet an über die Wege Gottes mit ihm. Auch wir werden im Himmel auf die Tage unseres Lebens zurückblicken. Dann werden wir erkennen, dass vieles, vielleicht mehr als wir denken, Eigenwille und Egoismus war. Anbetend werden wir unseren Heiland bewundern, der uns in seiner wunderbaren Barmherzigkeit trotzdem nicht aufgegeben hat.
Zudem werden wir in der Zukunft eine Aufgabe erfüllen, d.h. unsere Gelübde bezahlen. In Offenbarung 21 wird uns dies anhand der himmlischen Stadt Jerusalem gezeigt – ein Bild aller Erlösten der Gnadenzeit. Dort heisst es in Vers 11: «Und sie hatte die Herrlichkeit Gottes. Ihr Lichtglanz war gleich einem sehr wertvollen Stein, wie ein kristallheller Jaspisstein.» Wir werden also auch im Tausendjährigen Reich vom Himmel her ein Zeugnis für Gott sein. Schon jetzt sind wir beauftragt, auf der Erde den unsichtbaren Gott zu vertreten. Dieses Zeugnis wird häufig durch die Schwachheit unseres Körpers und leider auch durch die Sünde verhüllt. Aber in der Zukunft wird unser Dienst frei von Schwachheit und Sünde sein, um gemeinsam Tag für Tag die herrliche Grösse unseres Gottes auszustrahlen.
Schluss
Dieser Psalm ermuntert uns, vermehrt zu beten, denn wir haben es mit einem gütigen und allmächtigen Gott zu tun. Lasst uns mit Freimütigkeit in guten und schweren Tagen sein Angesicht im Gebet suchen!