4. Langmut (Gelassenheit des Gemüts)
Langmut ist jene Haltung von Geist und Seele, die standhaft und klaglos die vielen Belastungen des christlichen Lebens zu ertragen vermag.
Wie die übrige Frucht des Geistes, die im Galaterbrief erwähnt wird, steht die Langmut in Gegensatz zu den Gesetzeswerken. Bei dem Gesetz der Gerechtigkeit ging es um «Auge um Auge und Zahn um Zahn». Aber der Herr Jesus war sanftmütig und von Herzen demütig, und Er möchte, dass die Seinen die gleiche Gesinnung zur Schau tragen. Wenn der vom Geist geleitete Gläubige auf den rechten Backen geschlagen wird, so erweckt dies in ihm keine Erbitterung gegenüber dem Fehlbaren. Das Herz eines Gläubigen, das in der Gelassenheit geübt ist, lässt sich durch die erlittene Herausforderung nicht erzürnen, sondern ist vielmehr bereit, eine Wiederholung des Unrechtes entgegenzunehmen.
Diese Gesinnung der Langmut war in dem Lamm, «das stumm ist vor seinen Scherern», vollkommen. Er zeichnete sich dadurch aus, dass Er «gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte» (1. Pet 2,23). Und jeder Jünger ist berufen, zu sein wie der Meister.
Eine gesetzliche Gesinnung, die in Gegensatz steht zur Gesinnung Christi, regte sich in Abisai, als Simei den flüchtenden David verfluchte. Abisai sagte: «Warum soll dieser tote Hund meinem Herrn, dem König, fluchen? Lass mich doch hinübergehen und ihm den Kopf wegnehmen!» Aber es war die Langmut, die den verfolgten König veranlasste, dem aufgebrachten Kriegshelden zu antworten: «Lasst ihn, dass er fluche; denn der HERR hat es ihn geheissen. Vielleicht wird der HERR mein Elend ansehen und der HERR mir Gutes erstatten dafür, dass mir geflucht wird an diesem Tag» (2. Sam 16,11.12).
Langmut ist die Selbstzucht, die einen Christen davon abhält, sich durch seine natürlichen Gemütswallungen zu zornigen Worten und zu Vergeltungsmassnahmen hinreissen zu lassen. Es ist die sanfte Wirksamkeit der neuen Natur, und nicht so sehr die strenge Unterdrückung der alten, die dies verhütet. Langmut ist das Gegenteil von jenem häufigen Übel, das wir als «Kurzschlusshandlung» kennen. Paulus war langmütig gegenüber Alexander, dem Schmied, der ihm viel Böses erzeigte, aber er war es bestimmt nicht gegen Ananias, dem Hohenpriester (2. Tim 4,14; Apg 23,2-5).
Die Langmut ist gleich einer feingehärteten Stahlklinge, die gebogen werden kann, ohne zu zerbrechen. Aber um diese Härtung des Stahles zu erreichen, musste er vom glühenden Ofen ins Wasser getaucht werden. So müssen auch wir, um Langmut ausüben zu lernen, durch Höhen und Tiefen geführt werden (2. Kor 6,4-10). Sowohl Gesänge als auch Tränen werden diesem Zweck dienen.
Langmut ist das Merkmal dieses Zeitalters der Gnade. Der Ausdruck wird angewandt auf die gegenwärtige Geduld Gottes gegenüber einer sündigen Welt, die sein Gnadenangebot abweist sowie auf sein Zögern in der Ausführung des Gerichts, das sich schon in den Tagen Noahs zeigte (Röm 2,4; 9,22; 2. Pet 3,9.15).
Die Langmut wird uns befähigen, in den verschiedenen Proben, denen wir ausgesetzt sind, standzuhalten. Verleumdung, Leiden, Krankheit, Enttäuschung durch Freunde, Familienschwierigkeiten, falsche Brüder und tausenderlei Ärgernisse, die über uns alle kommen, sind viel leichter zu ertragen, wenn wir die Gesinnung des Christus haben und im Geist leben. «Die Liebe ist langmütig, ist gütig» (1. Kor 13,4).
5. Freundlichkeit1
Stephanus war ein Mann voll Heiligen Geistes, und als er wegen seines Zeugnisses für Christus als Übertreter vor das jüdische Synedrium gestellt wurde, wird von ihm gesagt, dass alle, die im Synedrium sassen, unverwandt auf ihn schauten und sein Angesicht sahen wie eines Engels Angesicht (Apg 6,15). In jener Ratsversammlung wurden die Werke des Fleisches offenbar; aber trotz der Feindseligkeit jener Männer konnte keiner leugnen, dass auf dem Angesicht von Stephanus etwas Himmlisches lag.
Weil Stephanus voll Heiligen Geistes war, konnte dieser göttliche Bewohner seine schöne Frucht ungehindert in ihm wirken; sie zeigte sich bei ihm vor allem auch in der «Freundlichkeit», in der fünften Tugend, die wir in Galater 5,22 finden. Als seine Augen die Herrlichkeit Gottes sahen und den Herrn Jesus erblickten, der zur Rechten Gottes stand, waren auch seine Lippen bis zuletzt voller Freundlichkeit. «Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu», war sein letztes Zeugnis im Blick auf seine Mörder. Jedes Gefühl von Hass, Zorn und Streit war aus dem Herzen des Stephanus verbannt und wurde durch die Freundlichkeit der Vergebung und der Fürbitte ersetzt. Das war das liebliche Kennzeichen, das der Heilige Geist in einem Menschen bewirken konnte, in dem Er freien Lauf hatte.
Wie so manche anderen menschlichen Ausdrücke ist das Wort «Freundlichkeit» durch seinen Gebrauch in der Heiligen Schrift bereichert und geadelt worden. Die Freundlichkeit Gottes ist darin offenbart worden. Sie kennzeichnet das gegenwärtige Tun Gottes in Gnade. Im jetzigen Tag der Gnade ist «die Güte und die Menschenliebe unseres Heiland-Gottes erschienen» (Tit 3,4).
Die Freundlichkeit bringt die Gnade Gottes in einer gewinnenden Weise zum Ausdruck, und dies einer Welt gegenüber, die im Bösen liegt. Ihre Verkündigung hat einen freudigen Klang, sie ist eine frohe Botschaft. Und dieser liebliche Zug der Gnade in Christus und im Evangelium wird durch den Geist auch in denen hervorgebracht, in welchen Er durch die Liebe wirkt (1. Kor 13,4). Diese Freundlichkeit oder Güte war das Merkmal der Apostel nach 2. Korinther 6,6.
Wenn wir uns vom Geist leiten lassen, werden wir nach Gelegenheiten Ausschau halten, wo wir Leidenden, Trauernden und Fehlbaren Gutes tun können. Der Zug des Geistes wird in uns immer bewirken, dass wir das Wohl der Versammlung und der Welt im Auge haben.
Die geistgewirkte Freundlichkeit wird uns dazu führen, auch einem schwierigen Bruder Gutes zu tun, der wie ein Igel jedem, der ihn anrührt, seine stachligen Borsten zeigt. Oder manchmal ist es ein freundlicher Blick, ein warmer Händedruck, ein liebes Wort, das eine verbitterte Seele umzustimmen vermag.
Die geistgewirkte Freundlichkeit ist immer bereit, eine milde Antwort zu geben, die den Zorn abwendet: Sie wird bittere Worte vermeiden, die Unmut und Streitigkeit hervorrufen.
- 1Gestützt auf die englische Übersetzung, die unser Wort Freundlichkeit mit «Gentleness» wiedergibt, versteht der Verfasser unter dieser geistlichen Tugend eher «Milde» oder «Güte».