6. Gütigkeit
Wenn ein Gläubiger sich im Licht des Wortes Gottes prüft, so wird er mit Schmerz bekennen müssen, dass in ihm, das ist in seinem Fleisch, nichts Gutes wohnt (Röm 7,18). Wir haben auch keine Kraft in uns selbst Heiligkeit oder irgendeine andere Frucht hervorzubringen, die dem ewigen Leben eigen ist. Manche werden bei dieser Feststellung, wie es nicht anders zu erwarten ist, tief niedergeschlagen und rufen aus: «Wer wird uns Gutes schauen lassen?» (Ps 4,7), und wiederum: «Wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?» (Röm 7,24).
Es ist gut für uns, wenn wir im Licht Gottes lernen, dass unser natürlicher Zustand in keiner Weise vor Ihm bestehen kann. Wenn ich aber keine Kraft besitze, gütig zu sein oder das Gute zu wirken, gibt es dann eine andere Kraft, die das Gute in mir hervorbringt? Die Antwort finden wir in unserem Vers: «Die Frucht des Geistes ist … Gütigkeit». Der Dienst des Heiligen Geistes ist, das in mir hervorzubringen, was mir von Natur fehlt: Gütigkeit.
In Barnabas haben wir ein Beispiel dafür, wie diese Frucht des Geistes in einem Menschen hervorgebracht werden kann. Wir lesen von ihm, dass er ein guter Mann und voll Heiligen Geistes und Glaubens war (Apg 11,24). Diese Frucht sollte aber in allen Gläubigen gefunden werden und nicht nur in einem einzelnen.
Gütigkeit ist ein Merkmal jener Natur in uns, die vom Geist Gottes gezeugt worden ist. Wo diese Gütigkeit besteht, wird sie jene «guten Werke, die Gott zuvor bereitet hat, damit wir in ihnen wandeln sollen», hervorbringen (Eph 2,10).
Möchte ich wissen, was Gütigkeit ist? Dann richtet der Heilige Geist meine Aufmerksamkeit auf Christus, auf den Einen, in dem in einer bösen Welt die Gütigkeit Gottes in Vollkommenheit dargestellt wurde, und in dem die Gütigkeit jetzt in vollem Glanz in der Herrlichkeit zur Rechten Gottes geschaut wird. Dieses Anschauen seiner Herrlichkeit wird dazu führen, dass jene Gesinnung, die in Christus Jesus war, in uns Gestalt gewinnt.
Die Gütigkeit drückt sich aus in guten Gedanken und guten Handlungen und in der Abweisung alles Bösen. Ein weiteres Kennzeichen dieser Frucht des Geistes ist die, dass sie nicht müde wird im Gutestun, selbst wenn der Gläubige einsam dasteht und angefeindet wird. Diese Frucht des Geistes wird sich weiterhin zeigen im Gutestun und darin, dass der Gläubige danach trachtet, «alles Wohlgefallen seiner Gütigkeit» zu erfüllen (2. Thes 1,11; siehe auch 1. Thes 5,15).
Gütigkeit und Gutestun sind starke Waffen, um bei den Kindern der Welt den Zaun des Hasses und des Vorurteils zu durchbrechen und anderseits Liebe und Wertschätzung zu gewinnen, «denn für den Gütigen möchte vielleicht jemand zu sterben wagen».
7. Glaube1
Obwohl der Herr auf dem Ölberg den Blicken der Jünger entschwand, als Er in einer Wolke aufgenommen wurde, so blieb Er doch – wenn auch den leiblichen Augen verborgen – weiterhin bei ihnen. Bald wurde durch den innewohnenden Heiligen Geist die Kraft des inneren Schauens gegeben und gefördert, und die Seinen konnten von da an den Herrn schauen, den die Welt nicht sehen kann; denn der Glaube sieht da, wo die Welt blind ist.
«Ich werde euch nicht verwaist zurücklassen, ich komme zu euch» (Joh 14,18), hatte Er den Jüngern gesagt und zwar nachdem Er versprochen hatte, ihnen einen anderen Sachwalter, den Heiligen Geist, zu geben. «Glaubt auch an mich», forderte Er in seiner Abschiedsrede sie jetzt auf. Damit wies Er auf die Notwendigkeit des Glaubens, als einer Frucht des Geistes hin, wodurch sie in den kommenden Tagen seiner Gegenwart bewusst würden.
Die Verheissung des Herrn: «Ich komme zu euch», ist also in unserer Zeit überaus praktisch. Gewiss, wir sehnen uns, den Herrn in einer vertrauteren Weise zu kennen als wie bisher. Auch wir möchten manchmal jene Worte der Griechen in unseren Mund nehmen, die zu Philippus gesagt hatten: «Herr, wir möchten Jesus sehen.» Aber dann werden wir sofort zurechtgewiesen, und es ist, als ob wir eine Stimme hinter uns hörten, die da sagt: «Bin Ich denn nicht bei euch?» Und wenn wir uns – wie Maria im Garten – zurückwenden (Joh 20,14-16), so werden wir uns bewusst, dass wir Ihn nicht zu suchen haben, sondern dass Er neben uns steht. Wir erinnern uns dann auch an seine kostbaren Worte: «Siehe, ich bin bei euch alle Tage» (Mt 28,20).
So haben wir also diese treuen Verheissungen des Herrn und den Heiligen Geist, der bei uns bleibt. Was ist da sonst noch nötig, dass wir seine Gegenwart verwirklichen können? Wir müssen auch «mit Kraft gestärkt werden durch seinen Geist an dem inneren Menschen; dass der Christus durch den Glauben in unseren Herzen wohne» (Eph 3,16.17).
Bei diesem Glauben hier handelt es sich aber nicht um den Glauben zur Vergebung der Sünden, noch um den Glauben, der Berge versetzt, sondern um den Glauben, der die Seele schauen lässt. In diesem Glauben erblicken wir Jesus in nächster Nähe. Auch wenn wir dabei auf schäumenden Wellen wandeln, so wissen wir, dass der Eine, den wir sehen, der Herr ist und nicht ein Gespenst, das uns erschrecken will.
Ein solcher Glaube, der uns das Bewusstsein seiner persönlichen Gegenwart gibt, ist nicht ein intellektueller Glaube, sondern ein Glaube des Herzens, der «durch die Liebe wirkt». Die Liebe des Gläubigen kann nur ruhen in der Gegenwart Gottes und Christi. Was die Liebe vor allem sucht, das findet dieser Glaube.
Wir müssen die Segnungen, die uns zuteilgeworden sind, durch Glauben festhalten. In dieser unwirtlichen Wüste sollten wir den Herrn kennen als den Einen, der mit uns geht. Wir dürfen seinen starken Arm fühlen, seine Worte der Weisheit und der Liebe hören, dürfen Blicke tun in die Herrlichkeit und den Strahlenglanz seiner Person auffangen. Dies alles können wir nur durch das Sehvermögen der Seele tun, das ihr der Geist durch den Glauben gibt.
8. Sanftmut
Während die Sprüche (Spr 8,14-36) die Allmacht und die Allwissenheit der Weisheit entfalten, wird in den Evangelien die «Sanftmut der Weisheit» offenbart. Als die Weisen und Verständigen hier auf der Erde nichts von Ihm wissen wollten, richtete der Herr seine Augen zum Vater im Himmel empor, der allein den Sohn kannte, und sagte: «Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir.» Und bei dieser Gelegenheit war es, dass Er seine liebevolle Einladung an die Mühseligen und Beladenen richtete und hinzufügte: «Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig» (Mt 11,26.29).
Diese Sanftmut war in Ihm mit unermesslicher Gewalt verbunden und war daher eine unerreichbare sittliche Herrlichkeit, die nur im Sohn gesehen wurde. Gerade vorher hatte Er erklärt: «Alles ist mir übergeben von meinem Vater»; und in der Fülle dieser Macht sagte der anbetungswürdige Herr, sich selbst offenbarend, vor seinem Vater und vor allen Menschen: «Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.»
Der Herr Jesus war ohne Mass vom Heiligen Geist erfüllt, und die Sanftmut kam in Ihm in vollkommener Weise zur Entfaltung; gleicherweise ist die Sanftmut ein Bestandteil der Frucht des Geistes in denen, die des Christus sind.
Johannes der Täufer sah am Jordan den Heiligen Geist in Gestalt einer Taube auf den Herrn kommen; und als der Gesalbte des HERRN zu seiner eigenen Stadt hinaufging, tat Er es in Übereinstimmung mit dem prophetischen Worte: «Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig und auf einer Eselin reitend, und zwar auf einem Fohlen, einem Jungen des Lasttiers» (Mt 21,5). Auch in der Stadt Davids sehen wir den König Zions mit Sanftmut gekrönt: «Der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich dem übergab, der gerecht richtet.»
Oh, wie zeigte sich die Sanftmut des Christus vor Annas und Kajaphas, vor Herodes und Pontius Pilatus, vor den Soldaten und den Volksmengen, vor den Menschen und vor Gott! «Ich selbst aber», sagte der Apostel, «ermahne euch durch die Sanftmut und Milde des Christus.» Der Gedanke an seine Sanftmut weckt unsere Bewunderung und Anbetung. Aber wenn die Ermahnung zu uns kommt: «Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war», wie erbärmlich kommen wir uns dann vor! Doch dürfen wir hier lesen: «Die Frucht des Geistes ist … Sanftmut.»
Ja, der Heilige Geist ist das Mittel dazu. Er ist die Kraft, wodurch Christus in uns lebt. Wenn das Wort sagt: «Diese Gesinnung sei in euch», so dürfen wir dieses Wort nicht abschwächen. Doch sollen wir daran denken, dass eine lebendige Kraft in uns ist, die Sanftmut hervorzubringen vermag, sofern wir ihr Raum lassen. Dann kommt die Frucht des Geistes hervor – Sanftmut. Wir werden dann «den Geist der Sanftmut» zur Schau tragen, wie der Apostel ihn in 1. Korinther 4,21 und Galater 6,1 nennt.
Sanftmut ist eine Eigenschaft, die vielleicht mehr in der Haltung als durch Worte zum Ausdruck kommt. Die Sanftmut ist widerstandslos; sie ist vergebend; sie lässt sich nicht durch Beleidigungen und Herausforderungen aus der Fassung bringen. Die Sanftmut ist uns nicht angeboren, sie ist auch nicht eine Sache der Vererbung. Sie wird durch die Ausübung des Glaubens in uns entwickelt und zu einem gewohnheitsmässigen Verhalten in dem Mass, wie der Gläubige im geistlichen Leben Fortschritte macht.
Wenn wir im Gehorsam das Joch des Christus auf uns nehmen, so werden wir sanftmütig und von Herzen demütig; denn wenn zwei miteinander vorangehen, kommt Einmütigkeit zustande.
Die Sanftmut muss wie ein Kleid angezogen werden (Kol 3,12). Sie soll als ein Schmuck getragen werden, der in den Augen Gottes sehr kostbar ist (1. Pet 3,3-4). Die Sanftmut muss das Ziel sein, dem jeder von uns nachstreben soll (1. Tim 6,11), das aber nur im Zusammenhang mit Liebe und Ausharren erreicht wird. Die Sanftmut soll allen Menschen gegenüber zum Ausdruck kommen, nicht allein den guten und milden, sondern auch den verkehrten gegenüber (Tit 3,2).
9. Enthaltsamkeit (Selbstbeherrschung)
Die letzte der genannten neun Tugenden ist die Selbstbeherrschung, was unseren Ohren vielleicht vertrauter klingt als Enthaltsamkeit. Das Ich oder das Fleisch ist es, das sich dem Willen Gottes widersetzt, indem es gegen den Geist begehrt (Gal 5,17), um das zu tun, was wir wollen. Daher muss das eigene Ich in Zucht gehalten werden, damit Christus in uns leben kann (Gal 2,20).
Aber wo der Geist regiert, da wird das eigene Ich in Schach gehalten. Da hat der Wille Gottes den ersten Platz im Leben, und wir werden sagen: «Nicht mein, sondern dein Wille geschehe».
Es ist unbegreiflich, dass die Galater zum Gesetz Moses, als dem Massstab für ihr christliches Leben, zurückkehren wollten. Das Gesetz hatte doch nichts zur Vollendung gebracht! Gott hat doch das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, selber durch Christus und die Kraft des Heiligen Geistes in dem Gläubigen zustande gebracht! Der innere Mensch ist nun unter der heiligen Herrschaft des Geistes, und da, wo sündige Unordnung vorherrschte, ist himmlische Ordnung eingekehrt.
Es war der Geist Gottes, der am Anfang über den Wassern, dem Chaos schwebte (1. Mo 1,2). Er war es auch, der den neuen Menschen mit himmlischen Tugenden ausstattete und ihm als Krönung dieser Tugenden einen unterwürfigen Geist gab, der in voller Übereinstimmung mit dem Willen Gottes ist.
Eine völlig ausgeglichene Gesinnung – die Gesinnung Christi – wurde in Paulus, dem treuen Diener des Herrn, sichtbar, weil der Heilige Geist in ihm einen gewohnheitsmässig unterwürfigen Willen bewirken konnte. Bei ihm sehen wir kein Aufbäumen, keine Klage in den widrigsten Umständen, sondern ein stilles Annehmen aller Formen von Widerwärtigkeiten als weise Fügungen Gottes. Wir entnehmen dies den Worten, die er an die Philipper schrieb: «Ich habe gelernt, worin ich bin, mich zu begnügen. Ich weiss sowohl erniedrigt zu sein, als ich weiss Überfluss zu haben; in jedem und in allem bin ich unterwiesen, sowohl satt zu sein als zu hungern, sowohl Überfluss zu haben als Mangel zu leiden» (Phil 4,11-12).
Die gleiche Frucht war beim Herrn Jesus in vollkommener Weise sichtbar, der im Augenblick, als Ihm die Verwerfung seines Dienstes bevorstand, sagen konnte: «Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir» (Mt 11,26). Es gab keine Unebenheiten in einem solchen Charakter: Er war wie das «Feinmehl» des Speisopfers, ein Hochheiliges dem HERRN.
Die Tugend der Selbstbeherrschung bildet einen passenden Abschluss in der Reihe der neun Tugenden. Es ist wahr, dass keine von ihnen unabhängig ist von den anderen; jede übt ihren besonderen und vervollständigenden Einfluss auf die übrigen aus. Liebe zum Beispiel, die am Anfang der Liste steht, findet ihren völligen Ausdruck nur dann, wenn sie in Verbindung steht mit Freude, Friede usw.; und wie könnte wahre Freude und wahrer Friede gefunden werden in einem lieblosen Herzen? Aber Selbstbeherrschung, die innere Herrschaft des Geistes, ist die Fassung, in die alle übrigen Tugenden eingesetzt sind. Alle kommen auf diese Weise in gleichmässiger Anordnung zur Entfaltung und verbinden sich zu dieser Einheit des geistlichen Charakters, der vom Apostel als «die Frucht (nicht die Früchte) des Geistes» umschrieben wird.
- 1Im Grundtext gleiches Wort wie «Treue». Der Verfasser hat das Wort «Glaube» gewählt.