Wie unermesslich gross ist doch das Vorrecht, das heute den Kindern Gottes geschenkt ist, Gott als ihren Vater zu kennen! In den Jahrtausenden, von denen im Alten Testament die Rede ist, waren die Gläubigen unter den Menschen noch nicht so mit Ihm verbunden. Wie kannten sie Ihn denn?
Den Patriarchen gab sich Gott als «der Allmächtige» kund. So offenbarte Er sich Abram, und in diesem Namen segnete Isaak den Jakob, und Jakob den Joseph (1. Mo 17,1; 28,3; 49,25).
Zu seinem irdischen Volk, das Er sich zu einem Zeugnis in dieser Welt aus den Nationen auserwählt hatte, stand Gott in einer besonderen Beziehung. Er stellte sich Ihm als «HERR» oder «Jahwe» (der Ewigseiende) vor und auch als der «Ich bin, der ich bin» (2. Mo 3,14), um es durch diesen Namen an seine unwandelbare Treue zu erinnern. Aber die Kinder Israel standen noch nicht in der Vaterbeziehung zu Gott, in die Christus Jesus die Kinder Gottes gebracht hat. Wohl durften die Gläubigen unter dem Volk den HERRN, ihren Schöpfer, «wie einen Vater» erfahren. David preist Ihn im 103. Psalm wegen all seiner Wohltaten und sagt: «Barmherzig und gnädig ist der HERR, langsam zum Zorn und gross an Güte … So hoch die Himmel über der Erde sind, ist gewaltig seine Güte über denen, die ihn fürchten … Wie ein Vater sich über die Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HERR über die, die ihn fürchten» (Vers 13).
Zu wem redete der Herr Jesus zuerst vom Vater?
In der Fülle der Zeit sandte Gott seinen Sohn, Jesus Christus, auf die Erde. Er sollte «sein Volk erretten von ihren Sünden» (Mt 1,21). Welch ein gewaltiges Ereignis mit unendlichen Folgen! Durch Ihn wurde nun die Dreieinheit Gottes offenbar. Als Ihn Johannes im Jordan taufte, sah er den Geist Gottes wie eine Taube auf Ihn herabfahren, und eine Stimme kam aus den Himmeln, die sprach: «Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe» (Mt 3,17). Damit war den Menschen die Möglichkeit gegeben, in Jesus, dem eingeborenen Sohn des Vaters, nicht nur Gott zu sehen, sondern durch Ihn auch den Namen oder die Person des Vaters zu erkennen.
Aber der Grossteil des Volkes hat Christus nicht angenommen, sondern verworfen und gekreuzigt. Sie sahen in Ihm nicht die «Ausstrahlung der Herrlichkeit Gottes und den Abdruck seines Wesens» (Heb 1,3). Christus konnte ihnen den Vater nicht offenbaren (Mt 11,27). Sie leugneten den Sohn und hatten daher auch den Vater nicht (1. Joh 2,23).
Die Jünger hingegen folgten dem Herrn Jesus nach und glaubten an Ihn. Ihnen konnte Er Gott als Vater kundmachen und ihr Leben mit Ihm in Verbindung bringen, wenn Er sie auch erst später, nach vollbrachtem Erlösungswerk, beim Vater als seine Kinder einführen konnte (Joh 20,17). Der Sohn kannte keine grössere Wonne als die, mit dem Vater beschäftigt zu sein, Ihm zu leben, Ihm zu dienen und Ihn zu verherrlichen. Auch seine Jünger wollte Er zu einem solchen Leben leiten und ihnen helfen, in der Liebe und Fürsorge des Vaters starken Trost zu finden, wie Er selbst ihn allezeit und völlig genoss.
Wenn wir jetzt einige Worte vom «Vater» anführen, die der Herr an seine Jünger richtete, so lasst uns bedenken, dass sie hier den gläubigen Überrest aus Israel darstellen, der einst unter seinem eigenen Volk grosse Drangsal erdulden muss. Den Jüngern wurden die Grundsätze des Reiches der Himmel auf der Erde vorgestellt (Matthäus 5 – 7), in Voraussetzung der Verwerfung des Königs. Dieses kommende Reich auf dieser Erde sollte erst in Erscheinung treten, nachdem die «Versammlung» – die der Herr nach dem Herabkommen des Heiligen Geistes zu bauen anfing – entrückt sein würde. Moralisch waren die Jünger jetzt noch in Beziehung zu Israel und sollten unter dem Volk ein Zeugnis der Gesinnung sein, in der der Israelit in das Reich eingehen konnte.
«Euer Vater, der in den Himmeln ist»
Den Jüngern, in denen der Herr Jesus in der Bergpredigt (Matthäus 5 – 7) zum Voraus Vertreter solcher sieht, die als «Sanftmütige» das Land Israel erben werden, macht Er herrliche Aussagen über ihren «Vater, der in den Himmeln ist». Gott wird dem gläubigen jüdischen Überrest in aller kommenden Not als Vater beistehen, schon bevor der verherrlichte Christus in Macht vom Himmel gekommen sein wird.
«Euer Vater» – wird Er uns Christen, die wir sogar seine Kinder sein dürfen, durch diese Worte Christi nicht noch vertrauter und lernen wir dadurch nicht, Ihm in dieser Welt noch besser wohlzugefallen?
«Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters werdet, der in den Himmeln ist (Mt 5,44.45).
Die Jünger, zu denen diese Worte gesprochen wurden, kannten die Satzung des Gesetzes: «Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.» Das war ein Grundsatz der Gerechtigkeit, wonach jeder die genaue Strafe für das Böse empfing, das er getan hatte. Wie aber würde nun Gott, der Vater, gegenüber seinen Feinden handeln? Er hat den «Sohn seiner Liebe» zu uns gesandt, und «Christus ist, da wir noch kraftlos waren, zur bestimmten Zeit für Gottlose gestorben … Gott erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist … Da wir Feinde waren, wurden wir mit Gott versöhnt durch den Tod seines Sohnes» (Röm 5,6-10).
Allzu bekannte Verse, die nicht mehr so viel Eindruck machen? Sie erhalten sogleich wieder ihren vollen Glanz, wenn auch wir sie in unserem kleinen Mass zu verwirklichen suchen: Werden wir als Zeugen Jesu angefeindet? Oh, da merken wir, dass wir göttliche Kraft benötigen, um solche Feinde zu lieben und die zu segnen, die uns fluchen. Wenn wir denen wohltun, die uns hassen, und für die beten, die uns beleidigen und verfolgen, dann erweisen auch wir uns als «Söhne unseres Vaters, der in den Himmeln ist». Wenn wir die Worte Jesu nicht nur hören, sondern in dieser Weise tun, dann ist dies wie ein «praktischer Einführungskurs», in dem wir den Vater in seinem herrlichen Wesen gründlich kennenlernen können. Und wir sollen «vollkommen sein, wie unser himmlischer Vater vollkommen ist» (Mt 5,48).
«Euer Vater weiss, was ihr nötig habt, ehe ihr ihn bittet» (Mt 6,8).
Wie der jüdische Überrest in den Zeiten der Verfolgung in grosse Not kommen und für seine irdischen Bedürfnisse zu seinem himmlischen Vater rufen wird, so können heute auch Christen in eine ähnliche Notlage geraten, die man sich hierzulande, in Tagen der Wohlfahrt, kaum vorstellen kann. Wie tröstlich ist es da zu wissen, dass ein Vater in den Himmeln ist, der um alle Bedürfnisse der Seinen weiss, ehe sie Ihn bitten. Wie redet das von seinem grossen Interesse für jeden, der Christus im Glauben aufgenommen hat und Ihm, trotz allem Widerstand der Ungläubigen, in Treue nachfolgt. Das Auge des himmlischen Vaters ist ununterbrochen auf ihn gerichtet. Der Gläubige darf wissen: «Könnte auch eine Frau ihren Säugling vergessen? … Sollten sogar diese vergessen, ich werde dich nicht vergessen» (Jes 49,15). Gleichwohl neigen wir Gläubige dazu, im Gegensatz zur unvernünftigen Kreatur, in einer Weise für unser Leben besorgt zu sein, die den Vater verunehrt; wir stellen damit seine Fürsorge infrage. Darum sagt der Herr: «Seht hin auf die Vögel des Himmels, dass sie nicht säen noch ernten, noch in Scheunen sammeln, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr nicht viel vorzüglicher als sie?» (Mt 6,26). Später fügt Er noch hinzu: «Werden nicht zwei Sperlinge (um eine kleine Münze) verkauft? Und doch fällt nicht einer von ihnen auf die Erde ohne euren Vater; an euch aber sind selbst die Haare des Hauptes alle gezählt» (Mt 10,29.30).
Ist diese Beschreibung der liebevollen Sorge des himmlischen Vaters, selbst um die kleinsten Dinge der Seinen, nicht eine grosse Ermunterung für sie, Ihm alles anzuvertrauen und nicht selber besorgt zu sein? Nicht nur den Bedürfnissen des gesunden oder kranken Leibes, sondern auch allen Schwierigkeiten des Glaubenspfades in einer gottfeindlichen Welt will Er in seiner Weisheit, Macht und Liebe entsprechen.
Aber, obwohl unser Vater weiss, was die Seinen benötigen, so will Er doch «denen Gutes geben, die ihn bitten» (7,11). Die eigenen Nöte und die der anderen, wie auch die Bedürfnisse des Werkes des Herrn, sind das Mittel, um die Herzen fortwährend in seine Nähe zu ziehen. Das gemeinsame Gebet, wie auch das Gebet des einzelnen, hinter geschlossener Tür, ist Ihm wohlgefällig. «Dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird es dir vergelten» (6,6).
Unser Herr will nicht, dass wir beim Beten «plappern» (6,7-13). Im sogenannten «Vaterunser» hat Er seinen Jüngern ein Verzeichnis von Gebetsgegenständen gegeben, die besonders den Umständen des jüdischen Überrestes in den Tagen der Drangsal angepasst sind. Wie viele bekennende Christen wiederholen dieses Gebet und sagen immer wieder: «Unser Vater», obwohl sie weder in der Stellung jener Jünger sind noch in Kindesbeziehung zu Gott stehen. Kinder Gottes haben das Vorrecht, frei vom Herzen weg zu ihrem Vater zu reden, jedoch in Übereinstimmung mit den Belehrungen der Heiligen Schrift.