Jesus sehen (1)

Hebräer 2,9; Hebräer 3,1; Hebräer 12,1-2

Verschiedene Stellen der Schrift lenken unsere Aufmerksamkeit auf das Vorrecht, das jedem Christen zusteht, Jesus schon jetzt zu sehen, Ihn zu betrachten, die Augen auf Ihn zu richten, seine Herrlichkeit anzuschauen.

Beachten wir, dass in Hebräer 2,9 gesagt wird: «Wir sehen aber Jesus … mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt.» Das ist nicht eine Ermahnung, sondern eine Tatsache, eine Wirklichkeit, ein Vorrecht. Gewiss, all das, «was man sieht» (2. Kor 4,18), übt eine solche Anziehung auf unsere Herzen aus, dass es so nötig ist, uns gegenseitig zu ermahnen, unsere Blicke auf das zu richten, «was man nicht sieht», in erster Linie auf die herrliche Person unseres geliebten Herrn. «Wenn man, wie wir es sind, umgeben ist von Dingen, die die Blicke gefangen nehmen, ist es eine grosse und schwierige Sache, die unsichtbaren Dinge zu verwirklichen und die Augen des Glaubens auf sie zu richten. Der unsichtbare Christus muss unserer Seele so unvergleichlich wirklich werden, dass in seiner Nähe alles, was uns umgibt, seine Wirklichkeit verliert. Dazu ist unbedingt Glaube nötig» (H. Rossier).

Beachten wir auch, dass dieses Vorrecht, Jesus zu sehen, nicht das ausschliessliche Teil des Christen ist, sondern schon den Gläubigen der früheren Haushaltungen zustand, obwohl diese zwar erst eine teilweise Offenbarung der Person Christi, der kommenden Ergebnisse seines Sühnungswerkes und seiner Herrlichkeit hatten. Trotzdem haben wir von einem Mose viel zu lernen, der «auf die Belohnung schaute» und «standhaft aushielt, als sähe er den Unsichtbaren» (Heb 11,27); oder von einem David, der sagen konnte: «Meine Augen sind stets auf den HERRN gerichtet» (Ps 25,15); oder selbst von einem Josaphat, der grosser Not ausrief: «Wir wissen nicht, was wir tun sollen, sondern auf dich sind unsere Augen gerichtet», indem er so die Erfahrung vorausnahm, die der treue Überrest eines Tages machen wird (2. Chr 20,12; Ps 123,2; Sach 12,10).

Für die Gläubigen aller Zeiten kann dieses Schauen Christi nur im Glauben verwirklicht werden. Sogar für jene, die einst das Vorrecht hatten, Ihn mit ihren Augen zu sehen – sei es, dass sie Ihm während seines Lebens hier auf der Erde nachgefolgt sind oder dass sie Augenzeugen seiner Auferstehung waren (Apg 10,39-41; 1. Kor 15,4-8) – ist Christus ein Gegenstand des Glaubens geworden. Dieses geistliche Schauen ist nichtsdestoweniger eine Wirklichkeit, eine kostbare und zuverlässigere Wirklichkeit als wenn sie sich auf die Wahrnehmung unserer Sinne gründete, denn unsere Sinne können uns täuschen, während sich der Glaube auf die unerschütterlichen, unseren Seelen durch den Heiligen Geist mitgeteilten Erklärungen des Wortes Gottes stützt. Der Glaube, der «eine Überzeugung (oder: ein Überführtsein) ist von Dingen, die man nicht sieht» (Heb 11,1), zeigt sich gerade darin, dass er das Herz dazu führt, einem unsichtbaren Christus anzuhangen. Es ist jedoch klar, dass, wenn wir Ihn von Angesicht zu Angesicht schauen werden, der Glaube nicht mehr nötig sein wird.

1. Sehen

«Wir sehen aber Jesus, der ein wenig unter die Engel wegen des Leidens des Todes erniedrigt war, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt» (Heb 2,9).

Jesus ist es, den wir sehen, den Menschen Christus Jesus (1. Tim 2,5), den Sohn des Menschen, der «sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem er in Gleichheit der Menschen geworden ist, und, in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem er gehorsam wurde bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz» (Phil 2,7.8). Das ist aber auch der Name, der über jeden Namen erhoben worden ist und vor dem sich bald jedes Knie der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen beugen wird, indem dann jede Zunge bekennt, dass Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters. Für uns ruft dieser Name Jesus zugleich liebliche Empfindungen der Vertrautheit und der unendlichen Dankbarkeit hervor, weil er der Name unseres «grossen Gottes und Heilandes Jesus Christus» ist (Mt 1,21; Tit 2,10.13).1

Diese Person sehen wir also, denn sie allein ist es, die das Herz des Gläubigen befriedigen kann. Hüten wir uns davor, Petrus nachzuahmen, der «drei Hütten machen» wollte, obwohl Gott wünscht, dass wir «niemanden als Jesus allein» sehen (Mt 17,4.8). Wir sind so leicht geneigt, unserer Einbildung freien Lauf zu lassen, dass es wenig braucht, um unsere Herzen von der Betrachtung Christi abzulenken. Wir kennen auch die Listen, deren Satan sich bediente, um einen Teil der Christenheit zu verleiten, dieses geistliche Schauen Jesu durch die Kunst und durch falsche Belehrung in eine mystische oder intellektuelle Betrachtungsweise umzuwandeln, bei der der Glaube nichts zu sehen hat. Wenn wir, mit Leibern überkleidet, die zur Gleichförmigkeit mit seinem Leib der Herrlichkeit umgestaltet sind, Ihn im Himmel sehen werden, sind unsere Blicke nicht mehr in Gefahr, durch was es auch sei, von der Betrachtung dieser herrlichen Person abgezogen zu werden. Im Gegenteil, alles wird dazu beitragen, aus Christus den ausschliesslichen Mittelpunkt des Lobes der Erlösten zu machen. Möchte dies durch den Glauben bei jedem von uns jetzt schon so sein!

Der Jesus, den wir sehen, ist «mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt». Der Hebräerbrief stellt uns Ihn mehrmals in dieser Herrlichkeit vor, in die Er aufgrund des am Kreuz vollbrachten Werkes eingegangen ist. «Ich habe dich verherrlicht auf der Erde» – konnte Er zum Vater sagen – «das Werk habe ich vollbracht, das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte. Und nun verherrliche du, Vater, mich bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war» (Joh 17,4.5). Dieses Werk, da es «vollbracht ist», muss nicht wiederholt werden, so dass Christus in der Herrlichkeit sitzend gesehen wird. «Nachdem er durch sich selbst die Reinigung von den Sünden bewirkt» hat, hat Er «sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe … Wir haben einen solchen Hohenpriester, der sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones der Majestät in den Himmeln … Er aber, nachdem er ein Schlachtopfer für Sünden dargebracht hat, hat sich auf immerdar gesetzt zur Rechten Gottes … Jesus, … der, die Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes» (Heb 1,3; 8,1; 10,12; 12,2). Das Sitzen Christi zur Rechten Gottes ist einerseits der Beweis seiner vollkommenen Annahme durch Gott, dessen ganzen Willen Er erfüllt hat, und anderseits die Grundlage unserer vollkommenen Sicherheit. Christus hat sich auf immerdar zur Rechten Gottes gesetzt, der Ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt hat, und Er hat auf immerdar die vollkommen gemacht, die geheiligt werden: Er sitzt immer und wir, wir sind immer vollkommen.

Wie könnten wir daher, beim Anblick unseres geliebten Heilandes, die Betrachtung seiner Person von der Betrachtung seiner Herrlichkeit trennen? «Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend» (2. Kor 3,18): Es ist ein verherrlichter Jesus, sitzend zur Rechten Gottes und auf immerdar lebend, den wir sehen, und nicht, wie die römische Kirche Ihn darstellt, ein kleines Kind in den Armen seiner Mutter oder ein gestorbener Jesus am Kreuz. Aber, wiederholen wir es, dies ist ein geistliches Schauen durch den Glauben, und daher befreit von den eitlen Spekulationen des menschlichen Geistes.

2. Betrachten

In Hebräer 3,1 werden wir ermahnt: «Betrachtet den Apostel und Hohenpriester unseres Bekenntnisses, Jesus.» Das ist nicht, wie in Hebräer 2,9, eine Tatsache: «wir sehen Jesus», sondern eine Einladung, Ihn aufmerksam als den Apostel und Hohenpriester unseres Bekenntnisses zu betrachten.2 Als Apostel ist Er der von Gott auf die Erde Gesandte (Joh 20,21), der uns eine grosse Errettung verkündigt hat (Heb 2,3). Jetzt ist Er unser Hoherpriester im Himmel (Heb 4,14; 8,4; 9,12), durch den wir volle Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum, und der Mitleid mit uns hat in unseren Schwachheiten, Hilfe gibt in unseren Prüfungen, sich für uns verwendet und uns wohlbehalten dem Ende unserer Reise entgegenführen wird. Die Mühe lohnt sich, Ihn mit Sorgfalt zu betrachten, um in der Erkenntnis und dem Genuss der Segnungen zu wachsen, die uns in Ihm geschenkt sind.

3. Hinschauen

Das leitet uns dazu, über die in Hebräer 12,1.2 enthaltene Ermahnung zu sinnen: «Deshalb nun, da wir eine so grosse Wolke von Zeugen um uns haben, lasst auch uns … mit Ausharren laufen den vor uns liegenden Wettlauf, hinschauend auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens.»

Der Wettlauf des Glaubens, den wir hier auf der Erde zu durchlaufen berufen sind, ist mit mancherlei Hindernissen übersät, so dass wir manchmal eine gewisse Ermüdung empfinden. Die allmächtige Hilfsquelle, um unsere Energie anzufachen, besteht darin, unsere Blicke auf Jesus zu richten. Weshalb? Weil Er selbst den Wettlauf des Glaubens als Mensch hier auf der Erde ganz und vollkommen durchlaufen hat. Er hat diesen Lauf eröffnet; Er ist dessen Anführer, so wie ein Bergführer, verbunden mit seiner Seilschaft, sorgfältig über sie wacht, während er auf der Route vorangeht, damit, trotz der Hindernisse und Gefahren, niemand unterwegs fällt. Aber Er ist auch der Vollender des Glaubens, denn Er hat selbst das Ziel dieses Laufes erreicht, trotz aller Prüfungen, denen Er darauf begegnet ist und deren grösste das Kreuz war, das Er erduldet hat, ohne auf die Schande zu achten. In der Tat, in Ihm ist der Glaube vollendet worden.

Unsere Blicke auf Jesus zu heften, als dem Anfänger und Vollender des Glaubens, heisst also, Ihn auf seinem Weg hier auf der Erde zu betrachten, aber mehr noch in der Herrlichkeit, dem Ziel des Laufes, dem wir entgegen zu eilen haben, indem wir seinen Spuren folgen. Die Betrachtung unseres göttlichen Vorbildes unter diesem doppelten Charakter ist sehr geeignet, uns zu ermutigen, den vor uns liegenden Wettlauf mit Ausharren zu verfolgen, in der Gewissheit, dass wir dank seines kostbaren Priesterdienstes das herrliche Ziel erreichen werden, an dem Er selbst schon angelangt ist.

  • 1Der Name Jesus wird im Hebräerbrief zwölf Mal erwähnt, wovon dreimal mit der Beifügung «Christus», was uns daran erinnert, dass Jesus als Mensch auch der Gesalbte Gottes, der Messias ist.
  • 2Das griechische Tätigkeitswort, das hier gebraucht wird, katanoeô, enthält den Begriff einer fleissigen, sorgfältigen Beobachtung, die darauf hinzielt, die ganze Wirklichkeit des betrachteten Gegenstandes zu erkennen. Unser Verb «erforschen» drückt in einem gewissen Mass diesen Gedanken aus.