Wir können aber nicht Jesus sehen, unsere Blicke auf Ihn richten und die Segnungen geniessen, die diesem Vorrecht entspringen, als nur, wenn wir gewisse sittliche Bedingungen erfüllen. Da gibt es zwei, bei denen wir ein wenig stillstehen möchten: die erste – die Heiligkeit, die zweite – die Gemeinschaft.
1. Heiligkeit
«Jagt … der Heiligkeit nach, ohne die niemand den Herrn schauen wird» (Heb 12,14). Diese praktische Heiligkeit zeigt sich einerseits in einem Wandel der Absonderung für Gott von allem Bösen und anderseits im Gehorsam gegenüber seinem Willen in allen Dingen. «Sondert euch ab, spricht der Herr, und rührt Unreines nicht an, und ich werde euch aufnehmen» (2. Kor 6,17). Wenn diese Heiligkeit im Leben eines Gläubigen fehlt, sieht er den Herrn nicht mehr, er hört auf, Ihn zu geniessen, sein Sehvermögen verdunkelt sich so sehr, dass er von einer geistlichen Kurzsichtigkeit befallen wird, dem Vorboten einer totalen Blindheit, von der der Apostel Petrus redet (2. Pet 1,9).
Das Beispiel Moses ist in dieser Beziehung reich an Belehrung. Weil er sich geweigert hatte, die zeitlichen Vorteile zu geniessen, die aus seiner Stellung am Hof des Pharaos hervorgingen, wie auch den damit verbundenen Genuss, sah er den Unsichtbaren. Seine Haltung der Absage offenbarte sich gegenüber «allem, was in der Welt ist«: Die Lust des Fleisches (der Genuss der Sünde), die Lust der Augen (die Schätze Ägyptens), der Hochmut des Lebens (Sohn der Tochter Pharaos zu heissen) – (Heb 11,24-27; 1. Joh 2,16).
Die Heiligkeit, der wir nachzujagen berufen sind, hat nicht nur Auswirkungen für das gegenwärtige Leben, sondern ist auch mit dem Ziel des Glaubens verbunden: mit der Hoffnung der Herrlichkeit. «Glückselig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen» (Mt 5,8). Gott vermag uns ohne Straucheln zu bewahren, bis Er uns vor seiner Herrlichkeit untadelig darstellt mit Frohlocken (Judas 24; siehe auch 1. Thes 5,23.24). Zudem bringt die lebendige Erwartung der Wiederkehr des Herrn in uns den Wunsch hervor, der Heiligkeit nachzujagen: «Jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst, wie er rein ist» (1. Joh 3,3).
Wir können den vor uns liegenden Wettlauf, hinschauend auf Jesus, nur mit Ausharren laufen, wenn wir jede Bürde und die leicht umstrickende Sünde ablegen (Heb 12,1.2). Als der Herr die Zwölf aussandte, um das Evangelium des Reiches zu predigen, gebot Er ihnen, nichts auf den Weg mitzunehmen, als nur ihre Sandalen und einen Stab, indem Er ausdrücklich hinzufügte: «kein Brot, keine Tasche, kein Geld» (Mk 6,8). Wie viele Gläubige lassen sich durch verschiedene Beschäftigungen beschweren, die eine «Bürde» darstellen, deren Gewicht sie am Laufen hindert und auch daran, ihre Augen auf den Herrn zu richten: die Sorgen dieser Zeit oder die weltlichen Begierden, mit einem Wort, alles, was im Herzen den Platz einnimmt, der Christus gehört, und die Blicke von seiner Person abzieht, die allein fähig ist, uns von der Knechtschaft der sichtbaren Dinge zu befreien. «Niemand, der Kriegsdienste tut, verwickelt sich in die Beschäftigungen des Lebens, damit er dem gefalle, der ihn angeworben hat» (2. Tim 2,4). Der Wunsch, dem Herrn zu gefallen, der aus einer wahren Liebe für Ihn entsteht, kann uns allein von dieser hindernden Bürde der «Beschäftigungen des Lebens» befreien.
Man kann ebenso wenig laufen, wenn man sich von der «leicht umstrickenden Sünde» aufhalten lässt. Man muss sie ablegen. Wenn Christus wirklich der Anziehungspunkt unserer Zuneigungen und unserer beharrlichen Betrachtung ist, wie könnten wir da in unseren Wegen Böses dulden? «Jeder, der in ihm bleibt, sündigt nicht; jeder, der sündigt, hat ihn nicht gesehen noch ihn erkannt» (1. Joh 3,6). Wie sehr rühren diese ernsten Worte an unsere Gewissen! Möchten wir doch hinsichtlich der Sünde in einer heiligen Wachsamkeit bewahrt bleiben!
2. Gemeinschaft
Mit der praktischen Heiligung ist die Gemeinschaft mit dem Herrn verbunden. In der Tat, wie kann der Gläubige Jesus sehen, wenn er versäumt, eine dauernde Gemeinschaft mit Ihm aufrecht zu halten? Das Fehlen der Gemeinschaft zieht notwendigerweise einen Wandel des Eigenwillens, der Entfernung vom Herrn und der Sünde nach sich. Möge uns Gott vor einem solchen Wege bewahren! Möge Er uns geben, über die Aufrechterhaltung einer Gemeinschaft der Gedanken und der Zuneigungen mit dem Vater und mit dem Sohn zu wachen, damit der Heilige Geist unsere Augen von allem abwende, was uns das Schauen unseres Geliebten rauben könnte, und Er selbst unsere Herzen gänzlich anziehe und beschäftige! Hat Er nicht verheissen: «Wer mich liebt, wird von meinem Vater geliebt werden; und ich werde ihn lieben und mich selbst ihm offenbaren» (Joh 14,21)? Was Gott vor allem schätzt, ist die Liebe, die wir seinem Sohn entgegenbringen, denn dann sind wir in Gemeinschaft mit Ihm über das, was seinem Herzen am kostbarsten ist. Indem Er uns den Sohn offenbarte, hat Er uns gegeben, auch unsererseits unsere Wonne in Ihm zu finden, nämlich in allen Vollkommenheiten, offenbart in seiner Person, in seinem Wandel hier auf der Erde und in seinem Sühnungswerk. In dem Mass, wie wir diese Gemeinschaft der Liebe mit dem Herrn verwirklichen, macht Er sich uns kund und sehen wir Ihn mit den Augen unserer Seele. Je wirklicher unsere Liebe für Ihn ist, desto klarer wird unser Schauen seiner glorreichen Person sein und desto grösser auch unser Genuss seiner Gemeinschaft. Der Herr wird sich immer zu denen halten, die sich zu Ihm stellen. «Bleibt in mir, und ich in euch. Wie die Rebe nicht von sich selbst aus Frucht bringen kann, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt viel Frucht, denn ausser mir könnt ihr nichts tun» (Joh 15,4.5).
Mehrere Stellen der Psalmen drücken den Wunsch des Psalmisten aus, die Gemeinschaft mit dem Herrn zu suchen, um Ihn zu sehen. So sagt David in Psalm 27,4: «Eins habe ich von dem HERRN erbeten, danach will ich trachten: zu wohnen im Haus des HERRN alle Tage meines Lebens (Ausdruck vollkommener Gemeinschaft), um anzuschauen die Lieblichkeit des HERRN und nach Ihm zu forschen in seinem Tempel» (um Ihn besser zu erkennen. Siehe auch Psalm 63,2.3; 42,3 und 84,2.3.11). Die Verheissung des Herrn: «Ich liebe, die mich lieben; und die mich früh suchen, werden mich finden» (Spr 8,17) ist gültig für alle Zeiten.
3. Die Ergebnisse
Betrachten wir jetzt die Folgen dieses Schauens der Person des Herrn Jesus im Leben und im Wandel des Gläubigen.
Wenn wir Christus als auferstandenen Menschen im Himmel erkennen und unsere Blicke auf Ihn richten, werden unsere Gedanken und unsere Zuneigungen mit der herrlichen Stellung, die Er einnimmt, übereinstimmen. Wir werden alle Dinge so sehen, wie Er selbst sie sieht. Das wird uns im Besonderen ein gesundes Urteil geben im Blick auf die sichtbaren Dinge und auf unsere Stellung gegenüber dieser Welt. Sind die Augen unserer Seele auf Ihn gerichtet, so bestimmt nicht mehr auf die Nichtigkeiten dieser Erde: wir werden suchen, was droben ist, weil der Christus dort sitzt, zur Rechten Gottes; wir werden auf das sinnen, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist; denn wir sind gestorben, und unser Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott (Kol 3,1-3). Wir werden durch unseren Wandel und unser Zeugnis zeigen, dass unser Bürgertum in den Himmeln ist, wo sich unser Herr befindet, der unser Leben, unsere Hoffnung ist. Es wird offenbar werden, dass wir nicht mehr der alten Schöpfung angehören, sondern der neuen, jener Schöpfung Gottes, wovon Christus der Anfang ist (Off 3,14; 2. Kor 5,17).
Mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden wir verwandelt nach demselben Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist (2. Kor 3,18). Wir beklagen oft, so wenig zu verwirklichen, was der Apostel Paulus von sich selbst sagte: «Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20). Ist dieses Versagen nicht der Tatsache zuzuschreiben, dass wir im Betrachten der Herrlichkeit des Herrn nachlässig sind und so diese Verwandlung in sein Bild nur schwach erleben? Die nötigen Hilfsquellen stehen doch zu unserer Verfügung:
- das Wort, durch das wir uns von Christus nähren, in der Gnade und in der Erkenntnis seiner Person wachsen können;
- das Gebet;
- der hohepriesterliche Dienst Christi, der immerdar lebt, um sich für die zu verwenden, die durch Ihn Gott nahen;
- der Dienst des Heiligen Geistes, der von dem nimmt, was Christi ist und es uns mitteilt.
Möge der Herr uns die Gnade gewähren, seine Herrlichkeit zu betrachten, damit wir immer mehr in sein Bild verwandelt werden und die Verheissung von Psalm 34,6 verwirklichen: «Sie blickten auf ihn und wurden erheitert.»
Erheitert durch das Licht, das von unserem Geliebten ausstrahlt, sind wir durch den Glauben tatsächlich jetzt schon. Wie viel mehr aber werden wir es sein, wenn wir, in seine Gegenwart eingeführt, Ihn von Angesicht zu Angesicht schauen werden! Diese Hoffnung verleiht unserem Vorrecht, Jesus schon heute zu sehen, Ihn anzuschauen, seine Herrlichkeit zu betrachten, einen unschätzbaren Wert, weil sie aus diesem Schauen, so unvollkommen es von uns aus sein mag, einen Vorgeschmack von dem macht, was wir in der Ewigkeit beim Herrn geniessen werden.
- «Seine Knechte werden ihm dienen, und sie werden sein Angesicht sehen; und sein Name wird an ihren Stirnen sein (Off 22,3.4).
- Deine Augen werden den König schauen in seiner Schönheit, sehen werden sie ein weithin offenes Land (Jes 33,17).
- Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels, undeutlich, dann aber von Angesicht zu Angesicht (1. Kor 13,12).
- Wir wissen, dass wir, wenn es offenbar werden wird, ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist» (1. Joh 3,2).
Manche Gläubige der alten Heilszeit haben, belehrt durch den Geist Gottes, in den Grenzen der Offenbarung, die sie davon besassen, ebenfalls von dieser Hoffnung Zeugnis gegeben, Christus in seiner Herrlichkeit zu schauen – einer tausendjährigen Herrlichkeit allerdings – und Gott in Ihm zu sehen. So ein Abraham, von dem der Herr Jesus selbst zu den ungläubigen Juden sagte: «Abraham, euer Vater, frohlockte, dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich» (Joh 8,56). Der Patriarch schaute durch den Glauben auf den Tag, da Christus herrschen würde, ein Tag, an dem er als Auferstandener teilhaben würde, «denn er erwartete die Stadt, die Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist» (Heb 11,10). So ein Hiob, der ebenfalls seinen Glauben an die Auferstehung bezeugte, mit dem Schauen Gottes – in Christus – das damit verbunden ist: «Ich werde aus meinem Fleisch Gott anschauen, den ich selbst mir anschauen und den meine Augen sehen werden, und kein anderer» (Hiob 19,26.27). So auch David, der frohlockt: «Ich werde dein Angesicht schauen in Gerechtigkeit, werde gesättigt werden, wenn ich erwache, mit deinem Bild … Ich werde wohnen im Haus des HERRN auf immerdar» (Ps 17,15; 23,6).
So werden wir also während der Ewigkeit keinen anderen Anziehungspunkt der Betrachtung haben als den, auf den wir unsere Blicke jetzt schon zu richten ermahnt werden. Der Unterschied wird sich einzig in dem Mass unseres Genusses zeigen: Hier sehen wir Ihn durch Glauben; dann sehen wir Ihn von Angesicht zu Angesicht; hier auf der Erde ist unser Schauen beeinträchtigt durch die Schwachheit, die unserem menschlichen Zustand anhaftet, während wir droben Ihm gleichförmig sein werden, was uns erlauben wird, Ihn mit den Augen unseres verherrlichten Leibes so zu sehen, wie Er ist, und nicht mehr undeutlich, wie mittels eines Spiegels; hier auf der Erde schwächen viele Dinge unsere Betrachtung des Geliebten, während wir dann, beim «Erwachen», gesättigt werden mit seinem Bild.