Sühnung

Obwohl die drei Begriffe Sühnung, Stellvertretung, Versöhnung eng miteinander verbunden sind, so hat doch jeder von ihnen eine unterschiedliche, besondere Bedeutung. Wenn die Schrift von Sühnung redet, meint sie eben nicht Stellvertretung; wenn sie von Versöhnung spricht, meint sie nicht Sühnung. Die Verwechslung dieser Wahrheiten führt zu einer unklaren Verkündigung des Evangeliums, ja, sie bildet den Nährboden für mancherlei Irrlehren. Wir beabsichtigen daher, die Bedeutung der drei Stücke der Reihe nach zu beleuchten.

Diesmal beschäftigen wir uns mit dem Begriff Sühnung. Es ist irrig anzunehmen, dass es so etwas wie eine Beschwichtigung des Zorns Gottes nicht gebe. Das griechische Wort «hilasmos» = «Sühne» oder «Sühnung» hat jedoch genau diesen Sinn. Wenn auch Gott nicht der Feind des Menschen ist – wie wir weiter unten sehen werden, ist es gerade umgekehrt – wenn Er auch keinen Hass gegenüber dem sündigen Menschen kennt, so zürnt Er doch über das Böse (vgl. Röm 1,18; 9,22; Joh 3,36). Er wäre nicht Gott, liesse Ihn das Böse gleichgültig. Er muss die Sünde richten gemäss dem, was Er in seinem Wesen ist – Licht und gar keine Finsternis in Ihm (1. Joh 1,5). Wohl ist Er auch Liebe (1. Joh 4,8) – und so meinen manche, dass da, wo Liebe ist, nicht zugleich auch Zorn sein könne. Doch kann etwa ein liebevoller Vater seinem Kind nicht gerechterweise auch zürnen? Zorn – nicht Verärgerung! – über das Böse ist ein Charakterzug sittlicher Kraft (vgl. Mk 3,5).

Die Ehre und die Majestät Gottes ist vor den Augen der ganzen Schöpfung durch ein verantwortliches, sittliches Geschöpf – den Menschen – beleidigt worden. Das verlangt eine angemessene Sühne, wenn je ein Mensch zu Gott kommen soll. Sühnung ist für Schuld, für Sünden. Hier konnte Gott nicht einfach ein Machtwort sprechen, wie sich das manche so vorstellen, konnte nicht einfach einen Erlass zur Sündenvergebung ergehen lassen. Da müsste Er ja aufhören, heilig und gerecht zu sein. Zudem, wenn im Universum nur bekannt würde, dass die Übertretung göttlicher Gebote ohne richterliche Folgen bliebe und dass es letztlich nur an Gott liege, die Sünden zu vergeben – würde die Welt nicht in ein sittliches Chaos stürzen? Das Geschöpf würde erkennen, dass die Gesetze des Schöpfers nicht das sind, was sie zu sein vorgeben; man kann sie ruhig übertreten. Wenn aber die Gesetze Gottes so fragwürdig, so schwankend sind, wie ist es dann mit seinen Verheissungen? Gott würde seinen Thron aufgeben müssen, und es gäbe im Universum keine sittliche Stabilität mehr! – Doch nein! Weil Gott gerecht ist, kann Er nicht in derart leichtfertiger Weise mit der Sünde umgehen: Er muss sie bestrafen. Nicht ein Jota wird vom Gesetz vergehen, bis alles erfüllt ist, und der Mensch wird selbst von jedem unnützen Wort am Tag des Gerichts Rechenschaft ablegen müssen (Mt 5,18; 12,36).

Wenn wir uns bisher mit der Notwendigkeit der Sühnung beschäftigt haben, so wollen wir uns jetzt kurz ihrem Ursprung zuwenden. Und hier blicken wir unvermittelt in das Herz Gottes und sehen seine unendliche Liebe vor uns. Nicht wir wollten zu Gott kommen, sondern Er hat nach uns Ausschau gehalten. Und wenn wir nicht zu Ihm kommen konnten, so kam Er zu uns. Anbetungswürdige Liebe, die solch einen Weg fand! «Hierin ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als Sühnung für unsere Sünden» (1. Joh 4,10)

Hier nun zeigt uns Gott die Person seiner Ratschlüsse, den einen Mittler, der das Sühnopfer gestellt hat: Gott, der Sohn, im Fleisch gekommen. Mit Ihm handelte Gott, wie die Sünde es verdiente; Er hat Ihn, der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht. Wer kann ermessen, was das für Ihn war? Es waren nicht seine Leiden vonseiten der Menschen um der Gerechtigkeit willen, die Sühnung für unsere Sünden taten, nicht die Geisselhiebe, nicht die Nägel, nicht Spott und Hohn, obwohl Er dies alles vollkommen fühlte. Aber als die Stunden der Finsternis sein Haupt umhüllten, als Er den Kelch des Zorns Gottes trank, als Er in seiner Seele empfand, dass Er als Mensch von Gott, seinem Gott, verlassen war – da litt Er unsäglich, litt zur Sühnung unserer Sünden. Kein Geschöpf – auch kein Engelfürst – hätte den Zorn Gottes gegen die Sünde tragen können; aber weil der Herr Jesus Gott und Mensch war, konnte Er es; und weil sein Beweggrund Liebe war, tat Er es. Oh, das Kreuz von Golgatha! Es ist der ewige Zeuge davon, was Gott ist gegenüber der Sünde, ein Zeuge auch von dem, was den erwartet, der ohne Christus einst Gott im Gericht begegnen muss.

Doch die Herrlichkeit der Person Christi verleiht seinem Sühnungswerk einen unendlichen Wert in den Augen Gottes, und unermesslich sind die Ergebnisse der vollbrachten Sühnung für uns: der Weg zu Gott ist gebahnt! Wir finden den Gedanken der Sühnung so schön am grossen Versöhnungstag im ersten Bock dargestellt, der das Los für den HERRN erhielt (3. Mo 16). Aaron schlachtete ihn und sprengte das Blut auf und vor den Sühndeckel und an den Altar. Das Blut wurde Gott dargebracht, dessen heilige Gegenwart durch die Sünde beleidigt worden war. Doch nun konnte Gott gleichsam sagen: «Sehe ich das Blut, so werde ich an euch vorübergehen» (2. Mo 12,13). Das Blut wurde Gott dargebracht, nicht den Menschen. So ruht nun auch der Friede meines Gewissens nicht auf meiner, sondern auf Gottes vollkommener Wertschätzung des Blutes Christi. Unser teurer Herr hat Gott hinsichtlich der Sünde vollkommen verherrlicht, hat Ihm Gelegenheit gegeben zu zeigen, was Er über die Sünde denkt, hat seine heiligen Ansprüche gegenüber dem sündigen Menschen als völlig zu Recht anerkannt, indem Er selbst den Lohn der Sünde, den Tod und das Getrenntsein von Gott erduldete (den Tod nicht nur als Trennung von Seele und Leib, nicht nur als ein Hingehen der Seele zum Paradies, sondern als Strafe, als Gericht Gottes über die Sünde). Ja noch mehr, Er hat nicht nur die Majestät, die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes, sondern auch seine Liebe in vollkommener Weise enthüllt.

Da nun das Blut Christi gleichsam auf dem Sühndeckel vor den Augen Gottes ist, kann Gott in Gnaden alle Menschen einladen, zu Ihm zu kommen und sich mit Ihm versöhnen zu lassen (2. Kor 5,20). Gott will, «dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen» (1. Tim 2,4; vgl. auch 2. Pet 3,9), und deswegen «gebietet er jetzt den Menschen, dass sie alle überall Buße tun sollen» (Apg 17,30).

Von diesem Gesichtspunkt der Sühnung aus ist der Herr Jesus für alle gestorben (2. Kor 5,15; Heb 2,9), heilbringend für alle Menschen erschienen (Tit 2,11) und ist «die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt» (1. Joh 2,2).1

Wir können jetzt jedem Sünder in der ganzen Welt sagen, dass er angenommen wird, wenn er zu Gott kommt. «Wen dürstet, der komme; wer will, nehme das Wasser des Lebens umsonst» (Off 22,17). Herrliche Botschaft, die nun nicht nur einem einzigen auserwählten Volk, sondern allen Menschen gilt! (Joh 12,32). Freilich, der Mensch ist verantwortlich, zu kommen; und nur durch den Glauben an sein Blut (Röm 3,25) hat er persönlich einen Nutzen von Christus als Sühnmittel. Wer nicht glaubt, geht verloren, ist schon gerichtet, und auf ihm bleibt der Zorn Gottes (Joh 3,16.18.36). Wie ernst ist das!

Es bleibt noch übrig, in diesem Zusammenhang auf zwei weitere Schriftstellen hinzuweisen, die oft falsch verstanden werden: «Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt» (Joh 1,29) und «Jetzt aber ist er einmal in der Vollendung der Zeitalter offenbart worden zur Abschaffung der Sünde durch sein Opfer» (Heb 9,26). Beide Stellen reden nicht von der Schuld, den Sünden, sondern von der Sünde als tätigem Prinzip und von einem geänderten Zustand der Dinge vor Gott. Das Opfer Christi als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken bildet die ewig gültige Grundlage dafür, dass einmal die Sünde vollkommen vor den Augen Gottes weggetan sein wird. Das wird zweifellos erst auf der neuen Erde und in den neuen Himmeln sein, aber in Bezug auf den Gläubigen ist es heute schon wahr.

Doch einmal wird der ewige Tag der Ruhe Gottes anbrechen, nachdem Satan und seine Engel und alle unbußfertigen Sünder gerichtet und für immer in den Feuersee geworfen worden sind (Off 20,15; 21,8). Dann, wenn Er alles neu gemacht haben wird (Off 21,5), wird die Gerechtigkeit Himmel und Erde bewohnen (2. Pet 3,13), und die Sünde und ihre Folgen auf immer aus ihnen entfernt sein. Und die Beziehungen Gottes mit den Menschen – auch mit denen auf der neuen Erde – werden in Ewigkeit auf dem vollbrachten Sühnungswerk Christi ruhen.

  • 1Es heisst nicht, «für die Sünden der ganzen Welt». Das könnte den Gedanken nahelegen, dass die Sünden der ganzen Welt vergeben würden, doch davon ist weder hier noch an irgendeiner anderen Stelle der Heiligen Schrift die Rede. Auch nicht in Johannes 3,17. «Damit … die Welt durch ihn errettet werde» zeigt die Absicht, nicht das Ergebnis der Sendung des Sohnes.