Versöhnung

Nachdem wir uns mit den beiden Begriffen «Sühnung» und «Stellvertretung» beschäftigt haben, wollen wir uns noch etwas eingehender mit diesem Ausdruck befassen.

Obwohl im Deutschen die Worte «Sühnung» und «Versöhnung» sehr ähnlich klingen und man daher geneigt sein könnte, ihre unterschiedliche Bedeutung zu übersehen, zeigen die entsprechenden griechischen Ausdrücke keinerlei Verwandtschaft:

  • für «Sühnung» steht «hilasmos»,
  • für «Versöhnung» steht «katallage» (Zeitwort: «katallasso»).

«Katallasso» wurde ursprünglich für «Geldwechseln» in dem Sinn benutzt, dass die Summe gleichsam eben gemacht und damit beide Seiten zufriedengestellt wurden. Im allgemeineren Gebrauch bedeutet es das Ebnen oder Ordnen der Angelegenheiten zwischen zwei entfremdeten Parteien, das Versöhnen eines Menschen, der einem anderen gegenüber Feind war. «Versöhnen» hat also stets den Sinn von «in Übereinstimmung bringen». Es ist gut, wenn wir uns dies fest einprägen. Dabei sei bemerkt, dass damit nicht allein ein Gesinnungswandel, das Aufgeben einer feindseligen Haltung, sondern die Wiedererlangung einer verloren gegangenen Beziehung verbunden ist. Das sehen wir klar aus dem Gebrauch von «katallasso» in 1. Korinther 7,11: Die Frau sollte nicht nur ihre Gesinnung ändern, sondern die Dinge zwischen ihr und ihrem Mann sollten geebnet und die alten – in diesem Fall ehelichen – Beziehungen wiederhergestellt werden. Sie sollte sich mit ihrem Mann versöhnen.

Was nun unser Verhältnis zu Gott anbetrifft, so war es durch die Sünde gestört: der Mensch wurde der Feind Gottes (Röm 5,10; 8,7; Kol 1,21), indem er sich gegen Ihn empörte und sich von Ihm entfernte (vgl. nur 1. Mose 4,16!). So liegt die Feindschaft ganz und gar auf der Seite des Menschen; und deswegen musste nicht etwa Gott versöhnt werden, sondern wir mussten mit Gott versöhnt werden. Es handelte sich auch nicht um eine gegenseitige Feindschaft: Niemals war Gott der Feind des Menschen, obwohl dieser Ihn nur hasste (Joh 15,24). Das wird noch unterstrichen durch die Ausdrucksweise des Heiligen Geistes: Wenn Er von unserer Versöhnung mit Gott redet, benutzt Er ausschliesslich das Wort «katallasso», niemals «diallasso». Letzteres bedeutet zwar auch «versöhnen», bezeichnet aber die Beseitigung einer gegenseitigen Feindschaft durch gegenseitiges Nachgeben; es kommt nur einmal im Neuen Testament vor: Matthäus 5,24.

Gewiss, auf Gottes Seite war das gerechte Urteil über die Sünde in seinen Geschöpfen. Aber unser teurer Herr Jesus entsprach völlig dieser Gerechtigkeit Gottes durch seinen freiwilligen Opfertod, und das Ergebnis ist nun, dass wir «mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes» (Röm 5,10). So können wir sagen, dass die Versöhnung das gesegnete Ergebnis der Sühnung ist und dass sie diese zur Grundlage hat.

Versöhnung bedeutet mehr als nur Rechtfertigung und neues, göttliches Leben. Es ist das Zurück­ge­bracht­wer­den zu Gott und zur innigen Freude an der Gunst Gottes, an den wie­der­her­ge­stel­lten Beziehungen zu Ihm, die wir durch Untreue verloren hatten. Doch da Gott in seiner Liebe zu uns unergründlich und das vollbrachte Sühnungswerk seines Sohnes von unermesslichem Wert ist, hat es Ihm gefallen, uns nicht nur in unser altes Verhältnis, sondern in solche Beziehungen einzuführen, die der kostbaren Person und Stellung Christi angemessen sind. So können wir nun mit anbetendem Herzen solche wunderbaren Worte vernehmen: «Und euch, die ihr einst entfremdet und Feinde wart nach der Gesinnung in den bösen Werken, hat er aber nun versöhnt in dem Leib seines Fleisches durch den Tod, um euch heilig und untadelig und unsträflich vor sich hinzustellen» (Kol 1,21.22).

Wir sind, selbst was die Natur Gottes betrifft, in völlige Übereinstimmung mit Ihm gebracht:

  • Die alte, rebellische Natur richterlich im Tod Christi beseitigt,
  • den neuen Menschen angezogen,
  • Teilhaber der göttlichen Natur geworden,
  • Christus als unser Leben habend,
  • in Ihm erfunden als Gottes Gerechtigkeit

so stehen wir nun vor Gott, nichts trennt uns mehr von Ihm, es ist nicht eine Frage mehr offen zwischen uns und Ihm, wir sind zurückgebracht zu dem Herzen Gottes, wie Er gesagt hat: «Ich habe euch auf Adlers Flügeln getragen und euch zu mir gebracht» (2. Mo 19,4). Unendliche, göttliche Liebe! Ich kann nun sagen: Ich bin zu Hause bei Gott! Das, Geliebte, ist Versöhnung – die Frucht davon, dass Gott den, der Sünde nicht kannte, «für uns zur Sünde gemacht hat».

Nun redet die Heilige Schrift in dreierlei Hinsicht von Versöhnung:

  1. von der Versöhnung der Gläubigen (Röm 5,10; Kol 1,21 ff.; 2. Kor 5,18);
  2. von der Versöhnung der Welt (2. Kor 5,19; Röm 11,15);
  3. von der Versöhnung aller Dinge (Kol 1,20).

Dabei ist es sehr wichtig, die jeweiligen vom Geist Gottes benutzten Zeitformen zu beachten.

Die Versöhnung der Gläubigen

Wenn von der Versöhnung der Gläubigen die Rede ist, von der allein wir bisher gesprochen haben, steht immer der Aorist – eine Zeitform, die das Zustandegekommensein eines Zustandes bzw. die Einmaligkeit einer Handlung und deren Vollendung bezeichnet:

  • Wir sind versöhnt worden,
  • Er hat uns versöhnt,
  • wir haben die Versöhnung empfangen.

Für den Gläubigen ist die Versöhnung ein fester Besitz, eine vollendete Tatsache.

Anders ist es mit dem Schriftwort, mit dem wir uns jetzt noch ein wenig beschäftigen wollen: «Gott war in Christus, (die1 ) Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend und in uns das Wort der Versöhnung niedergelegt habend» (2. Kor 5,19). Dadurch, dass Luther diese Stelle sehr mangelhaft wiedergegeben hat,2 ist sie oft zur Verteidigung verderblicher Irrtümer benützt worden, als wäre die ganze Welt schon versöhnt.3

Doch beachten wir zunächst, dass es nicht heisst: «Gott ist in Christus», sondern «war in Christus». Unser Vers redet nämlich nicht vom Tod, sondern vom Leben Christi hier auf der Erde und davon, dass der Dienst der Apostel die Stelle des persönlichen Dienstes des Herrn einnahm, als dieser, verworfen von den Menschen, den Sühnungstod erduldet hatte (Vers 21). Der Herr Jesus war nicht gekommen, um zu richten, sondern «damit die Welt durch ihn errettet werde» (Joh 3,17). Er wollte die Welt zu Gott und zu der Ordnung und zu dem Segen Gottes zurückführen; so kam Er, im Geist der Gnade, bereit, ihnen ihre Übertretungen nicht zuzurechnen. Sieh nur, mit welch unendlicher Gnade Er der Frau am Jakobsbrunnen, der Sünderin in Lukas 7 oder der Ehebrecherin in Johannes 8 begegnete; wie Er mit den Zöllnern und Sündern verkehrte, so dass Er ihr Freund genannt wurde; wie Er mit den Samaritern sprach und bei ihnen verweilte; wie Er umherging, «wohltuend und alle heilend, die von dem Teufel überwältigt waren»! (Apg 10,38).

Doch nahm der Mensch den versöhnenden Dienst des Herrn Jesus an? Die Kreuzigung des Sohnes Gottes war die eindeutige und einzige Antwort, die er auf die Gnade Gottes fand, ein letzter Beweis auch von der Unheilbarkeit des gefallenen Menschen.

Aber die Gnade Gottes erwies sich als überreichlicher gegenüber der überströmenden Sünde des Menschen. Da nun sein Sohn hinausgeworfen worden war und Er nicht länger in dieser Welt weilte, legte Gott das Wort der Versöhnung in auserwählten Gefässen nieder, die nun anstelle von Christus mit dieser Botschaft an die Welt gesandt wurden: «Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!» Dieses Evangelium darf heute noch gepredigt werden. Gott sei Dank dafür!

Die Versöhnung der Welt

Was den Ausdruck «Versöhnung (der) Welt» in Römer 11,15 betrifft, so können wir uns nach dem, was bereits gesagt wurde, kurz fassen. Israel hatte – im Gegensatz zu den Nationen – in geordneten Beziehungen zu Gott gestanden. Durch die Verwerfung des zu ihnen gesandten Messias wurde das Volk als solches beiseite gesetzt, verstossen, und Gott wandte sich in seiner anbetungswürdigen Gnade denen zu, die bislang dem Bürgerrecht Israels entfremdet und Fremdlinge betreffs der Bündnisse der Verheissung waren, die «keine Hoffnung habend, und ohne Gott in der Welt» waren. Er trat in eine gewisse Beziehung zur Welt, indem Er nun alle Menschen zur Buße ruft und ihnen das Heil in Christus anbietet. In gewisser Weise haben nun alle, die durch die Gnade das Angebot Gottes annehmen durften, aus dem «Unglauben dieser» Nutzen ziehen dürfen. Es sei noch ergänzend darauf hingewiesen, dass der Ausdruck in Römer 11,32 «damit er alle begnadige» durchaus nicht besagt, dass alle errettet werden. «Alle» meint: «nicht nur die Heiden und nicht nur Israel, sondern Nationen und Israel». «Begnadige» ist eigentlich «Barmherzigkeit erweise».4 Aufgrund des Opfers Christi erweist Gott in der gegenwärtigen Zeit den Nationen Barmherzigkeit, an einem künftigen Tag seinem irdischen Volke Israel.

Die Versöhnung aller Dinge

Es bleibt noch übrig, kurz auf den dritten Punkt – die Versöhnung aller Dinge – einzugehen. Davon lesen wir in Kolosser 1,19.20: «Denn es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle, in ihm zu wohnen und durch ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen – indem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes –, durch ihn, es seien die Dinge auf der Erde oder die Dinge in den Himmeln». Diese Versöhnung ist noch zukünftig und wird die ganze Schöpfung, das ganze Universum betreffen; aber beachte: Gott sagt ausdrücklich alle «Dinge», nicht alle «Wesen» oder «Personen». Durch den Fall Satans und des Menschen ist die Schöpfung in Mitleidenschaft gezogen worden (vgl. Röm 8,19-22), sie ist nicht mehr in ihrer rechtmässigen Ordnung und Beziehung zu Gott. Die Himmel sind verunreinigt durch die Gegenwart Satans und seiner Engel, die ganze Schöpfung seufzt. Dieser Zustand der Dinge wird sich grundlegend ändern, wenn die «Zeit der Wiederherstellung aller Dinge» (Apg 3,21) gekommen sein wird. Aufgrund seines Blutes – dies ist der kostbare Kaufpreis! – wird der Herr Jesus bei seiner Wiederkunft alle Dinge versöhnen: Er wird die ganze Szene im Himmel und auf der Erde in Übereinstimmung mit Gott bringen und sie in ihre wahre Beziehung und Ordnung zu Gott zurückführen. Herrlicher Triumph der Gnade!

Aber, so mag jemand fragen, schliesst die Versöhnung aller Dinge nicht auch Satan und die gefallenen Engel ein? Wird nicht in Kolosser 1,16 klar gezeigt, was die Heilige Schrift unter dem Ausdruck «alle Dinge» versteht: Throne, Herrschaften, Fürstentümer, Gewalten? Nun, Letzteres kann nur bejaht werden, während die Schlussfolgerung in der ersten Frage entschieden verneint werden muss, und das aus mindestens zwei Gründen:

  1. Der 16. Vers redet (ebenso wie der 20. Vers und Apostelgeschichte 3,21) von Dingen: die Throne, Herrschaften, Fürstentümer, Gewalten sind von Gott geschaffene Systeme und Machtordnungen (nicht Persönlichkeiten), die mit Gott in Übereinstimmung gebracht werden.
  2. Wenn es um die Anerkennung der absoluten Autorität des Herrn Jesus geht, erwähnt die Schrift die «Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen» (Phil 2,10) – mit Letzteren die gefallenen Engel, die Dämonen wie auch die Verlorenen bezeichnend (vgl. auch den Ausdruck «unter der Finsternis verwahrt» in Judas 6); wenn es sich dagegen um die Versöhnung aller Dinge handelt, redet Gottes Wort nur von den Dingen in den Himmeln und den Dingen auf der Erde (Kol 1,16.20). Für die Unterirdischen gibt es keine Versöhnung! In der Hölle gibt es keine Neugeburt, keine Buße, keinen Glauben!

Möge sich doch niemand hierüber täuschen und gar um den Preis seiner Seele irren! Noch ist Zeit und Gelegenheit, das Gnadenangebot Gottes in Buße und Glauben anzunehmen und zu der Zahl derer hinzugefügt zu werden, von denen es heisst: «Und euch … hat er aber nun versöhnt». «Versöhnt» – es ist ein gewaltiger Gedanke!

Lasst uns – am Schluss angekommen, die drei grossen Hauptgedanken noch einmal kurz zusammenfassen:

  1. Sühnung: Der Weg zu Gott ist gebahnt – jeder Sünder kann nun zu Ihm kommen.
  2. Stellvertretung: Der Herr Jesus hat nur die Sünden der Seinen getragen, nur für sie war Er stellvertretend im Gericht Gottes.
  3. Versöhnung: Der Gläubige ist schon in seinen Beziehungen zu Gott wiederhergestellt; der Zustand der Dinge wird es noch werden.
  • 1Es ist bezeichnend, dass vor «Welt» weder hier noch in Römer 11,15 im Urtext der Artikel steht. Es geht hier also nicht um eine vollendete Tatsache, was durch den Gebrauch des Artikels angedeutet worden wäre, sondern um die Bezeichnung dessen, was charakteristisch ist, um die Tragweite seiner Gegenwart in Christus.
  • 2«Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu» (Luther 2017). Es ist einfach unerklärlich, wie die Übersetzer den bedeutsamen Wechsel der Partizipien – dazu noch bei Gebrauch ein- und desselben Wortes «katallasso» – übersehen konnten: In Vers 18 «uns versöhnt habend» (Aorist) in Vers 19 «Welt versöhnend» (Präsens). Das eine zeigt einen abgeschlossenen Zustand in Bezug auf «uns», die Gläubigen; das andere den Charakter seiner Gegenwart hier auf der Erde in Bezug auf die «Welt».
  • 3Wäre dies so, warum eigentlich noch die Ermahnung an die Menschen dieser Welt in Vers 20: «Lasst euch versöhnen mit Gott!»? Sie sind eben nicht versöhnt! Deswegen gibt Gott in seiner Gnade auch heute noch den Dienst der Versöhnung (Vers 18).
  • 4Vergleiche J. N. D. New Translation: «Shew mercy to all»