Stellvertretung

Es ist ein bemerkenswerter Unterschied zwischen Sühnung – mit welchem Begriff wir uns das letzte Mal beschäftigt haben – und Stellvertretung. Sühnung redet von Zugang zu Gott, weil dadurch dem heiligen Charakter Gottes entsprochen wurde; Stellvertretung redet von positiver, persönlicher Schuld, die ein anderer an meiner Stelle auf sich nahm. Das Wort «Stellvertretung» finden wir direkt nicht in Gottes Wort, aber die Wahrheit als solche wird klar bezeugt. Schon Abraham opferte einen Widder «anstatt seines Sohnes» (1. Mo 22,13). Und mussten zur Bekleidung des ersten Menschenpaares nicht auch andere sterben?

Doch wenden wir uns noch einmal dem grossen Sühnungstag in 3. Mose 16 zu. Wir haben schon gesehen, wie in Verbindung mit der Opferung des ersten Bockes Sühnung geschah für Aaron und sein Haus,1 für das durch die Unreinheiten des Volkes befleckte Heiligtum und den verunreinigten Altar. Aber in dem lebendigen, zweiten Bock (Verse 20 ff.), auf den das Los Asasel (d.h. Abwendung) gefallen war, finden wir den Gedanken der Stellvertretung für begangene Sünden. Aaron legte unter Bekennen all der Ungerechtigkeiten die Sünden des Volkes auf den Kopf des Bockes. Durch einen bereitstehenden Mann wurde der Bock in die Wüste geführt; so wurden gleichsam die Sünden in ein entferntes, ödes Land gebracht – ein treffendes Vorbild vom stellvertretenden Opfer Christi und dessen Folgen für uns, die Glaubenden. «So weit der Osten ist vom Westen, hat er von uns entfernt unsere Übertretungen» (Ps 103,12); «alle meine Sünden hast du hinter deinen Rücken geworfen» (Jes 38,17); «ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken» (Heb 10,17).

Gewiss, die zwei Böcke sind ein Christus! Aber wir haben zwei verschiedene Seiten seines Opfers:

  • die eine zu Gott gewandt und
  • die des Tragens unserer Sünden.

Dabei müssen wir beachten, dass die Schrift niemals davon redet, dass der Herr Jesus die Sünden aller «getragen» habe. Wäre es so, würden schliesslich alle errettet werden! Wenn es daher um die Seite der Stellvertretung, um das Tragen der Sünden geht, spricht sie nur von den Sünden «vieler» und von «unseren» Sünden: «Er aber hat die Sünden vieler getragen …» (Jes 53,12); «… nachdem er einmal geopfert worden ist, um vieler Sünden zu tragen» (Heb 9,28); «der selbst unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat» (1. Pet 2,24); «und sein Leben zu geben als Lösegeld für2 viele» (Mk 10,45; Mt 20,28).

Der Unterschied zwischen Tragweite und Anwendung des Werkes Christi wird auch aus Römer 5,18 und 19 deutlich: Durch eine Gerechtigkeit kam die freie Gabe «hin zu» allen, «gegen» alle (griechisch: «eis», die Richtung anzeigend), nicht «auf» alle (griechisch: «epi»). In Vers 18 haben wir also die Tragweite des Handelns Adams und des Herrn in ihrer Universalität. Deshalb finden wir hier das Wörtchen «alle». Doch wenn es eine Sache der Anwendung ist und die tatsächliche Wirksamkeit in Betracht kommt, redet Gott von «den vielen» (Vers 19), die jeweils mit ihrem Haupt verbunden sind. So wie die Folgen des Ungehorsams Adams nicht auf ihn allein beschränkt blieben, sondern sich auf «die vielen»3 erstreckte, «so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen in die Stellung von Gerechten gesetzt werden». An dieser Stelle geht es überhaupt nicht um die persönliche Verantwortlichkeit des Menschen, auch nicht darum, wie man gerechtfertigt wird, sondern um die Tatsache der Zugehörigkeit der vielen zu dem einen oder anderen Haupt:

  • zu Adam, dem Haupt der menschlichen Familie der Sünder oder
  • zu Christus, dem Haupt der Familie Gottes, der neuen Schöpfung.

Gewiss wäre über diese Verse noch viel zu sagen. Uns ging es hier nur darum, zu zeigen, dass eben nicht «alle» errettet werden, wie es die Allversöhnung lehrt, sondern dass sich die Heilige Schrift einer äusserst präzisen Sprache bedient, um uns gerade vor diesem Irrtum zu bewahren.

  • 1Wenn Aaron und sein Haus zusammen genannt werden, so sehen wir darin Christus, der unseren Platz einnimmt, der sich mit unseren Sünden eins macht und von ihnen sagt: «meine Ungerechtigkeiten …»
  • 2Griechisch: «anti» «anstatt», «anstelle von», im Gegensatz zu «hyper» «für», «im Blick auf» in 1. Tim 2,6. Dieser bedeutungsvolle Wechsel der Präpositionen zeigt, dass das stellvertretende Opfer Christi wohl im Blick auf alle geschah, tatsächlich aber nur den vielen zugerechnet wird, die sich den Bedingungen Gottes unterworfen haben.
  • 3Nicht nur auf «viele». Durch die Benutzung des Artikels vor «vielen» weist Gott gleichsam auf all die vielen Menschen hin, die, nach Adam kommend, durch ihn in die Stellung von Sündern gesetzt worden sind. Im absoluten Sinne sind dies natürlich alle Menschen. Da aber Gott in dieser Analogie auf die tatsächlichen Folgen des Werkes Christi zu sprechen kommen will, spricht Er jetzt nicht mehr von «allen», sondern von «den vielen».