3. Christus, die Quelle der Liebe
Das ist einer der herzbewegendsten und erhabensten Gegenstände. Einerseits werden unsere Herzen dadurch daran erinnert, dass unser geliebter Heiland das Werk der Erlösung aus Liebe zu uns vollbracht hat. Anderseits werden wir, wenn wir darüber nachsinnen, dazu geführt, die gegenwärtigen und zukünftigen Segnungen zu betrachten, die dieser unaussprechlichen Quelle der Liebe entspringen. Nichts ist kostbarer, als «die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus» zu erkennen. Ohne diese Erkenntnis, die unseren Seelen durch das Wort und durch den Heiligen Geist mitgeteilt wird, können wir sie nicht geniessen. Gewiss, unsere Erkenntnis und unser Genuss der Liebe Christi werden Stückwerk bleiben, solange wir in unserem Leib der Schwachheit sind. Mit Recht singen wir: «Wer kann dies Lieben voll erfassen?» Aber in einem anderen Lied geben wir auch der Gewissheit Ausdruck, dass es im Himmel ganz anders sein wird:
- «Wie tief und weit vor uns
wird das Geheimnis liegen
der Liebe und der Gnad,
die wir dann ganz verstehn»!
Doch haben wir das unermessliche Vorrecht, uns hier auf der Erde schon an der Quelle der Liebe zu erquicken, «auf dem Weg aus dem Bach zu trinken». Getränkt an dieser Quelle, sind unsere Herzen nicht nur erfrischt und gestärkt, sondern es werden in unserem Leben auch gesegnete Früchte daraus hervorgehen.
Die Liebe Christi in der Vergangenheit
Dort hat sie ihren erhabenen Ausdruck gefunden. Der eingeborene Sohn hat die Herrlichkeit des Himmels verlassen, ist Mensch geworden und in eine Welt herabgekommen, wo Satan, die Sünde, der Tod herrschen. Da begegnete Er dem Hass der Menschen, als Antwort auf alle Beweise seiner Liebe und seiner Macht ihnen gegenüber. Sein Weg endete am Kreuz, wo Er die Schmähungen seiner Feinde ertrug und das Verlassensein von seinem Gott, weil Er zur Sünde gemacht worden war. Er sühnte unsere Sünden durch sein Blut und ging in den Tod ein, Er, der Fürst des Lebens, der vollkommene Mensch, um Gott zu verherrlichen, um uns vor seinem gerechten Gericht zu bewahren und aus uns geliebte Kinder und Anbeter zu machen.
Die Liebe Christi erstrahlt am Kreuz in einem umso helleren Glanz, als sie sich dort gegenüber Gottlosen, Sündern und Feinden entfaltete (Röm 5,6-10). Daher erfüllt die Betrachtung einer solchen Liebe unsere Herzen mit Anbetung. Wir huldigen Ihm in unseren Seelen und sagen immer wieder: «Dem, der uns liebt, und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blut … Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.»
Die Liebe Christi in der Gegenwart
Diese Liebe ist unveränderlich, denn «Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit». Das Wort sagt von Jesus: «Da er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans Ende.» Die Liebe, die Ihn ans Kreuz führte, ist dieselbe wie die, die Er in Ausübung seines priesterlichen Dienstes den Seinen erzeigt: Er hat Mitleid mit ihren Schwachheiten, verwendet sich für sie, befiehlt sie Gott an und wäscht ihre Füsse. Er ist der gute Hirte, der jedes seiner Schafe kennt. Seine Augen sind allezeit auf sie gerichtet; Er erkennt ihre Bedürfnisse, ihre Schwierigkeiten, ihre Prüfungen; seine Liebe und seine Macht entfalten sich unaufhörlich zu ihren Gunsten, während sie die Wüste durchschreiten. Daher können wir in voller Gewissheit des Glaubens sagen: «Wer wird uns scheiden von der Liebe Christi?»
Die Liebe Christi in der Ewigkeit
Im Augenblick, als Er im Begriff war, die Seinen zu verlassen, sagte der Herr Jesus zu ihnen: «Wenn ich hingehe …, so komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, damit, wo ich bin, auch ihr seiet» (Joh 14,3). Im Gebet, das Er darauf an seinen Vater richtete, brachte Er aufs Neue seinen Wunsch zum Ausdruck, die Seinen bei sich zu haben: «Vater, ich will, dass die, die du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin, damit sie meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast» (Joh 17,24). Dieser wiederholte Wunsch zeugt von seiner Liebe für seine Erlösten. Weil Er sie liebt, will Er sie während der Ewigkeit bei sich haben, in seiner eigenen Herrlichkeit. In der Tat, wie könnte Er die Wonne des Hauses seines Vaters geniessen, wenn seine Erlösten nicht auch dort wären? Sein Herz sehnt den Augenblick herbei, in dem Er sie dort einführen kann, um sie Gott als die Kinder darzustellen, die Gott Ihm gegeben hat.
Solcher Art ist die Liebe Christi für uns. Er wird in seiner Liebe erst ruhen, wenn Er die Frucht der Mühsal seiner Seele im Himmel versammelt sieht. «Wenn alle Stürme ihr Ende gefunden haben, wird der Glanz der Herrlichkeit, für die der Herr uns zubereitet, ohne Wolken erstrahlen, und diese Herrlichkeit ist Er selbst. Oh, wie kostbar ist die Liebe, die Liebe Jesu, die uns in seine Herrlichkeit einführen wird, damit wir für immer bei ihm seien!» (J. N. Darby).
Haben wir an dieser Quelle der Liebe getrunken, werden wir es am Herzen haben, unsere Liebe zu Christus in einem Wandel des Gehorsams und der Hingabe in seinem Dienst zu bezeugen. «Wenn ihr mich liebt, so haltet meine Gebote.» Aber der Herr will auch, dass wir seine Liebe allen Menschen gegenüber widerstrahlen, besonders gegen die Kinder Gottes: «Damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebet … Dies ist mein Gebot, dass ihr einander liebet, wie ich euch geliebt habe» (Joh 13,34; 15,12). Wenn wir wirklich von der Liebe Christi gedrängt sind, werden wir nicht mehr für uns selbst leben, sondern dem, der für uns gestorben und auferweckt worden ist. So werden wir in der Liebe wandeln, ja, in der Liebe gewurzelt und gegründet sein (Eph 5,2; 3,17).
Unser Anhangen an der Person des Herrn wird auch unseren Wunsch, Ihn zu sehen, brennend machen; denn ein liebendes Herz, das von dem geliebten Wesen getrennt ist, wird es voller Sehnsucht herbeiwünschen. «Wann werde ich so glücklich sein, deine unaussprechlichen Schönheiten zu sehen?» schreibt Augustinus in seinen «Betrachtungen». «Wann kommst du, mein einziger Trost, du, auf den ich unaufhörlich voller Ungeduld warte? Wann werde ich dich sehen, einziger Gegenstand meiner Wünsche und meiner Freude?» Möge der Herr in jedem von uns die Erwartung seiner Wiederkehr stärken, damit wir so «das Bekenntnis der Hoffnung unbeweglich festhalten» (Heb 10,23). Die Fülle des Herzens muss den Mund zum Reden bringen. Bezeugen heisst so viel wie bestärkt werden. Wenn die Liebe Christi unsere Herzen erfüllt, werden wir uns nach dem Himmel sehnen und Ihm mit dem Geist und der Braut zurufen: «Amen, komm, Herr Jesus!»
4. Christus, die Quelle der Gnade
Die Gnade ist die in Christus zum Ausdruck gebrachte und angebotene göttliche Liebe: Das fleischgewordene Wort «wohnte unter uns … voller Gnade und Wahrheit.» – «Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.» Durch Ihn wurde diese göttliche Gnade den sündigen Menschen mitgeteilt; in Christus hat sie ihre Quelle; und am Kreuz ist sie überströmend geworden. Gott sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!
Welches sind die Auswirkungen der Gnade?
Sie zieht den Sünder an, berührt sein Herz und bringt in ihm die Buße hervor. Durch Glauben an den Herrn Jesus empfängt der reuige Sünder aus seiner Fülle Gnade um Gnade: die Vergebung der Sünden, das ewige Leben, die Gabe des Heiligen Geistes, die Kindschaft, die Hoffnung der Herrlichkeit. Die Herrlichkeit Gottes erstrahlt in seiner Gnade in einem noch viel helleren Glanz als in seiner Schöpfermacht. «Der überragende Reichtum seiner Gnade» ist gleichzeitig «der Reichtum seiner Herrlichkeit». Daher ist das Werk der Erlösung «zum Preise der Herrlichkeit seiner Gnade».
Die Gerechtigkeit Gottes erforderte die Verurteilung und die Strafe des Schuldigen. Seine Heiligkeit musste den Sünder auf immerdar aus seiner Gegenwart verbannen. Aber in Christus hat Gott das Mittel gefunden, um seiner Liebe zum Sünder freien Lauf zu lassen, ohne den Ansprüchen seiner Gerechtigkeit und seiner Heiligkeit Abbruch zu tun: Am Kreuz hat Christus an Stelle des Schuldigen das Gericht Gottes erduldet und durch sein Blut die Sünden aller derer gesühnt, die an Ihn glauben. Die Gnade, in der sie stehen, «ist die wahre Gnade Gottes» (1. Pet 5,12). Sie ist vollkommen, unumschränkt, unveränderlich. Sie verleiht ein ewiges Heil, eine ewige Erlösung, ein ewiges Erbe (Heb 5,9; 9,12.15).
Diese Quelle der Gnade, aus der der reuige Sünder zum Heil seiner Seele schöpfen kann, ist die gleiche wie die, an der er, nachdem er ein Kind Gottes geworden ist, alle Hilfsquellen findet, die er beim Durchschreiten der Wüste nötig haben wird. In der Tat, die Gnade umfasst nicht nur das in Christus umsonst angebotene Heil, sie ist auch die wunderbare, unergründliche Liebe Gottes, die ohne Mass und auf tausenderlei Weise über uns ausgegossen ist, nicht nach unserem Verdienst, sondern nach seiner unendlichen Barmherzigkeit. Nachdem sie uns Christus als unseren Heiland offenbart hat, bewirkt die Gnade, dass wir Ihn auch als unseren guten Hirten, unseren Hohenpriester, unseren Sachwalter erkennen, aber auch als den Gegenstand unserer Zuneigungen, als die Speise unserer Seele, als das Beispiel für unseren Wandel, als den Meister, dem wir nachfolgen und dienen dürfen, in Erwartung seiner Wiederkunft vom Himmel.
Daher richtet sich die Ermahnung des Apostels an Timotheus auch an jeden Gläubigen: «Du nun, mein Kind, sei stark in der Gnade, die in Christus Jesus ist.» Auch der Apostel Petrus ermuntert uns, in der Gnade zu wachsen (2. Tim 2,1; 2. Pet 3,18). Sich stärken in der Gnade oder darin wachsen bedeutet, sich eine grössere Erkenntnis und einen grösseren Genuss der Hilfsquellen Gottes erwerben, so wie sie uns in Christus kundgemacht sind. Um in der Gnade zu wachsen, muss sich die Seele immer mehr von der Liebe Christi drängen lassen, jeden Tag diese Liebe besser kennenlernen und immer tiefer darin verwurzelt werden. Das bedeutet, jedes Selbstvertrauen aufgeben, nur mit dem Herrn rechnen und, wie jemand gesagt hat, «wachsen wie die Lilie des Feldes, ohne Anstrengung oder Ängstlichkeit, durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in uns». Das bedingt völlige Selbstverleugnung, indem wir ganz einfach im Weinstock bleiben, aus dem das Leben hervorkommt: «Die Gnade, die in Christus Jesus ist.»
Wie nötig ist es in den schwierigen Tagen, in denen wir leben, dauernd beim Herrn zu bleiben! Einer unserer alten Brüder hat geschrieben: «Die Wirkung der Gnade ist die, uns dem immer näher zu bringen, dem alles entspringt.» Wird unser Herz von der Schönheit des Geliebten angezogen (Ps 27,4)? Sagen wir wie Sulamith: «Alles an ihm ist lieblich»? (Hld 5,16). Finden wir unsere wahre Freude in der Betrachtung dieser Person? Erfüllt Er unsere Herzen und unsere Gedanken?
Die Segnungen, die aus dieser Quelle der Gnade hervorfliessen, sind nicht auf die gegenwärtige Zeit beschränkt, sondern erstrecken sich auch auf die Ewigkeit. Der Apostel Petrus sagt: «Deshalb … hofft völlig auf die Gnade, die euch gebracht wird bei der Offenbarung Jesu Christi» (1. Pet 1,13). Auch Judas ermahnt, «die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus zu erwarten zum ewigen Leben» (Judas 21).
So wurde uns also die Gnade in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben; sie ist dann durch die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus zur Rettung offenbart worden (2. Tim 1,9.10). Auf unserem Wandel hier auf der Erde machen wir die Erfahrung: «Meine Gnade genügt dir» (2. Kor 12,9), in Erwartung des Tages, wo wir sie in vollkommener Weise im Haus des Vaters geniessen werden.