Der Nasir (2)

4. Mose 6,1-21

Drei Bedingungen

Wir haben gesehen, dass es Bedingungen zu erfüllen gab, um ein Nasir für Gott zu sein:

  1. Er musste sich von Wein und allen Produkten des Weinstocks enthalten.
  2. Er sollte sein Haar frei wachsen lassen.
  3. Er musste jede Verunreinigung durch den Kontakt mit einer Leiche vermeiden.

Produkte des Weinstocks

Das erste, was dem Nasir auferlegt wurde, war ein völliger Verzicht auf sämtliche Produkte des Weinstocks. Keinen Essig, keinen Wein und keinerlei Traubensaft durfte er trinken. Auch frische oder getrocknete Trauben durfte er nicht essen.

Was hat das für uns zu bedeuten, wenn wir im neutestamentlichen Sinn als «Nasir» oder Geweihte für Gott leben möchten? Dazu müssen wir uns zunächst über die Bedeutung des Weins oder der Produkte des Weinstocks klarwerden. Wenn wir das Alte Testament untersuchen, stellen wir fest, dass es im Grundtext verschiedene Ausdrücke für Wein gibt, die nicht alle exakt dieselbe Bedeutung haben. Wir merken auch, dass der Wein oder die Produkte des Weinstocks in der Bibel in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen vorkommen.

Auf der einen Seite gibt es Stellen, in denen der Wein in einem positiven Licht gesehen wird. So war der Wein oder der Weinstock z.B. eine Segnung des verheissenen Landes (5. Mo 7,13; 8,8). Er gehörte mit zu dem Guten, das Gott seinem irdischen Volk gegeben hat. Daher war es für einen Israeliten nicht verboten, Wein zu trinken. Auch die Trankopfer, die Gott zu den verschiedenen Opfern dargebracht wurden, bestanden aus einem Viertel Hin Wein (2. Mo 29,39.40; 3. Mo 23,13.18; 4. Mo 15,5.7.10). Daraus wird klar, dass der Wein an sich nichts Schlechtes darstellt. Nach Psalm 104,15 und Richter 9,13 ist der Wein ein Bild von Freude – von irdischen oder natürlichen Freuden –, also von dem, was uns die Erde bietet, was an sich nicht schlecht oder böse ist.

Wein – negative Auswirkungen

Auf der anderen Seite finden wir Bibelstellen, in denen der Wein in einem negativen Licht steht, vor allem was die Auswirkungen des Alkohols angehen. Der Prophet Hosea stellt ihn mit Hurerei auf eine Stufe, wenn er sagt, dass Hurerei, Wein und Most den Verstand wegnehmen (Hos 4,11). Der Wein hat eine berauschende Wirkung. Ein trauriges Beispiel dafür ist Noah, der durch den Genuss von Wein nicht mehr Herr seiner Sinne war (1. Mo 9,21). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch dem Hohenpriester Aaron und seinen Söhnen geboten wird, keinen Wein zu trinken, wenn sie in das Zelt der Zusammenkunft gehen. Gott gibt dafür eine Begründung: «Damit ihr unterscheidet zwischen dem Heiligen und dem Unheiligen und zwischen dem Unreinen und dem Reinen» (3. Mo 10,10). Das war wohl auch der Grund, weshalb der Nasir im Alten Testament keinen Wein trinken durfte. Zu gross wäre die Gefahr gewesen, dass er seine Weihe verloren hätte!

Belehrung für uns

Welche Belehrungen können wir aus dieser ersten Bedingung für uns ableiten, wenn wir ein Leben als «Nasir», ein Leben der Hingabe an unseren Herrn führen möchten? Es gibt im natürlichen Bereich vieles auf der Erde, was an sich nicht böse ist, was uns anspricht, woran wir Freude haben, was wir auch dankbar aus Gottes Hand annehmen dürfen. Damit meine ich nicht weltliche Vergnügungen oder zweifelhafte Freuden, die uns der Teufel schmackhaft machen möchte. Es geht um Freuden, die mit den Dingen und Verhältnissen auf der Erde zu tun haben: Freude an der Natur, in der Familie, an menschlicher Geselligkeit …

Allerdings besteht für den «Nasir» die Gefahr, dass diese Dinge eine berauschende Wirkung entfalten, indem sie unser Herz, unser Denken und unser Leben ausfüllen. Dann vernebeln sie unseren Blick für die wahren Lebensinhalte eines Christen. Unser geistliches Unterscheidungsvermögen wird beeinträchtigt. Wir verlieren die wahre Freude eines Christen und den Reichtum, der uns in Christus geschenkt ist, aus den Augen. Je mehr unser Sinn auf das Irdische gerichtet ist, umso weniger sinnen wir auf das, was droben ist, wo der Christus ist (Kol 3,1). Dadurch wird in letzter Konsequenz auch unser Herz von Christus abgezogen. Daher verhindert «der Wein» ein Leben in wirklicher Hingabe an den Herrn Jesus und steht somit dem echten «Nasiräertum» entgegen.

Der Nasir im Alten Testament sollte sich kategorisch von allen Produkten des Weinstocks enthalten. Für uns ist es eine Frage des Charakters und des Stellenwerts, den dieser «Wein», d.h. die irdischen Freuden für uns haben. Es ist nicht so, dass Gott uns kategorisch jede irdische Freude verbietet. Aber jemand, der ein Leben in Hingabe an den Herrn Jesus führen möchte, der geht nicht darin auf und sucht nicht darin seine Erfüllung. Wer wirklich als «Nasir» für den Herrn leben möchte, sucht seine Freude nicht in dem, was die Erde oder die menschliche Gesellschaft bietet. Er empfindet den Verzicht darauf auch nicht als Verlust. Denn er kennt eine andere, eine höhere, eine himmlische Freude. Deshalb verzichtet er gern und freiwillig.

Positives Beispiel

Ein besonders anspornendes Beispiel dafür gibt uns Paulus. Er hatte sich freiwillig und aus echter Herzenshingabe seinem Herrn verschrieben. Sein Leben war gekennzeichnet durch eine Weihe an Den, der ihn geliebt und sich selbst für ihn hingegeben hatte (Gal 2,20). Christus war nicht nur sein Leben, sondern das Leben war für ihn Christus (Phil 1,21). Der Herr Jesus hatte sein Herz in Beschlag genommen. Deshalb brauchte er den «Wein» der Erde nicht. Paulus kannte eine andere, eine tiefere Freude. Er hatte sie in dieser Person gefunden, die ihm auf dem Weg nach Damaskus erschienen war. Paulus hatte den erhöhten Christus in der Herrlichkeit gesehen, der sich mit uns, den Gläubigen der Gnadenzeit, verbunden hat. Von Ihm war sein Herz erfüllt, von Ihm war er ergriffen. Es gab nichts auf der Erde, was seinen Blick von Ihm ablenkte, nichts, was sein Herz fesseln und seine Hingabe an den Herrn beeinträchtigen konnte. Wollen wir seinem Vorbild nicht nacheifern?

Der vollkommene Nasir

Das eindrucksvollste Vorbild ist unser Herr selbst. Er war der wahre Nasir. In seinem Gott geweihten Leben hat Er freiwillig auf das verzichtet, was der Mensch angenehm findet und von Natur aus in Anspruch nehmen darf. Anstelle der Freuden inmitten der menschlichen Gesellschaft hatte Er eine Speise, die seine Jünger nicht kannten, nämlich, den Willen Gottes zu tun (Joh 4,34). Um diesen Willen zu erfüllen, entsagte Er der familiären Gemeinschaft, obwohl Er seine Mutter bis zu den letzten Augenblicken am Kreuz liebte. Als Nasir war Er bereit, für eine Zeit auf die Freuden des Reichs zu verzichten, denn Er wollte durch sein Werk von Golgatha einen Weg der Vergebung bereiten. Auf diesem Weg wird auch sein Volk Israel, das Ihn abgelehnt hat, am Ende mit Ihm in diese Freude eingehen (Lk 22,15-18).

Frei wachsendes Haar

Das zweite Kennzeichen des Nasirs war sein frei wachsendes, langes Haar. Das bekannteste Beispiel dafür ist sicher Simson. Von ihm lesen wir, dass er von Mutterleib an ein Nasir Gottes war und dass kein Schermesser auf sein Haupt kommen sollte (Ri 13,5). Auch darin liegt für uns eine symbolische Bedeutung. Langes Haar spricht in der Bibel von Abhängigkeit und Unterordnung. Das lernen wir aus 1. Korinther 11 in Verbindung mit der Stellung der Frau. Durch sein langes Haar gab der Nasir klar zu erkennen, dass er eine untergeordnete Stellung einnahm, dass er unter der Autorität eines anderen stand und sich dem Willen eines anderen unterwarf.

Wir verstehen sofort die Bedeutung für uns: Alle, die ihr Leben dem Herrn Jesus weihen möchten, können dies nur tun, wenn sie sich Ihm unterordnen und seine Herrschaft in ihrem Leben anerkennen. Dann kann nicht Selbstverwirklichung und das Ausleben der eigenen Interessen auf unserem Lebensprogramm stehen. Stattdessen stellen wir unseren Willen ganz bewusst unter den seinen und sind bereit, Ihm die Führung zu überlassen, damit sein Wille in unserem Leben verwirklicht wird. Das betrifft sämtliche Lebensbereiche – die grossen und weitreichenden Fragen unseres Lebens wie die Berufswahl oder die Wahl des Ehepartners, aber auch unsere Freizeitgestaltung. Inwieweit unterstellen wir uns unserem Herrn aus Liebe zu Ihm und aus echter Herzenshingabe an Ihn?

Das grosse Beispiel

Auch in diesem Punkt ist der Herr Jesus unser grösstes Vorbild. Wie vollkommen hat Er diese Bedingung des Nasirs erfüllt – die Bedingung der Abhängigkeit und Unterordnung unter seinen Gott! «Siehe, ich komme, … um deinen Willen, o Gott, zu tun» – das war seine feste Absicht für sein Leben als Mensch auf der Erde. Diesen Willen hat Er in vollkommener Hingabe und Weihe an seinen Gott bis ins Letzte erfüllt. Dafür hat Er alles in Kauf genommen. Der Herr Jesus konnte wahrhaftig sagen, dass Er nicht seinen Willen suchte, sondern den Willen Dessen, der Ihn gesandt hatte, und dass Er allezeit das Ihm Wohlgefällige tat (Joh 5,30; 8,29).

Eine Unehre

Das lange Haar hat noch eine weitere symbolische Bedeutung, die in engem Zusammenhang mit dem Gedanken der Unterordnung steht. Paulus erklärt in 1. Korinther 11, dass es für einen Mann eine Unehre ist, langes Haar zu tragen – eine Unehre in den Augen der Menschen, eine Unehre für das natürliche Empfinden (1. Kor 11,14).

So ist auch ein Leben als Nasir für Christus mit einer gewissen Unehre verbunden – nicht vor dem Herrn, wohl aber für das natürliche Empfinden: Es ist eine Unehre in den Augen der Menschen. In einer Welt, die durch Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung geprägt ist, ruft es nicht den Beifall der Menschen hervor, wenn man ein Leben in Unterordnung unter den Willen eines anderen führt. Wer sich selbst für den Herrn Jesus verleugnet, Nachteile in Kauf nimmt und auf Dinge verzichtet, die an sich nicht verboten sind, gibt seine eigene Ehre auf. Das Gleiche gilt, wenn jemand seine Fähigkeiten, seine Mittel und seine Zeit nicht für sich selbst nutzt, um das Leben maximal zu geniessen, sondern Christus zur Verfügung stellt. Wenn wir uns in einer Welt, wo christliche Werte mehr und mehr schwinden und göttliche Grundsätze ignoriert werden, bewusst dem Herrn unterordnen und seine Autorität anerkennen, werden wir verachtet und ausgelacht. Der Nasir im Sinn des Neuen Testaments ist bereit, die Schmach des Christus auf sich zu nehmen (Heb 11,26). Ist Christus uns das wert?

Kraft und Sieg

Wenn das «lange Haar der Unterordnung» auch eine Unehre für das natürliche Empfinden ist, so liegt darin doch gleichzeitig das Geheimnis unserer geistlichen Kraft verborgen. Das verdeutlicht das Beispiel Simsons sehr anschaulich: Er war stark, weil er langes Haar hatte (Ri 16,17). Derselbe Grundsatz gilt auch für uns: Geistliche Kraft und Energie resultieren aus einem Leben der Abhängigkeit und Unterordnung unter den Willen und die Autorität des Herrn. Das Geheimnis eines siegreichen Christenlebens liegt im Gehorsam und in der Gemeinschaft mit Christus verborgen. Auch dafür gibt es im Alten Testament Beispiele und Vorbilder.

Simson

Simson selbst wurde leider in seinem Leben zu einem tragischen Negativbeispiel. Dieser Mann, der von Mutterleib an ein Nasir Gottes war und das Merkmal der ungeschorenen Haare trug, lebte nur äusserlich als ein Nasir. Er unterwarf sich nicht dem Willen Gottes, sondern handelte eigenwillig und unabhängig. Dadurch verlor er letztlich auch sein langes Haar. Die Folge davon war völlige Kraftlosigkeit. Statt siegreich im Kampf gegen die Philister zu sein, wurde er von ihnen überwältigt.

Jonathans Waffenträger

Ganz anders verhielt sich Jonathans Waffenträger. Dieser Mann war zwar kein Nasir im buchstäblichen Sinn, aber wir sehen bei ihm eine vorbildliche Unterordnung unter den Willen seines Herrn und als Folge davon einen beeindruckenden Sieg (1. Sam 13 – 14). Dieser Mann war bereit, sich Jonathan völlig unterzuordnen und einen Weg der Selbstverleugnung zu gehen, der gegen alle Vernunft war. In einer Zeit, als weder Schwert noch Speer in Israel gefunden wurde, zog er mit seinem Herrn in den Kampf gegen die Philister. Seine innere Haltung, die er an den Tag legte, äusserte sich in seinen Worten: «Tu alles, was in deinem Herzen ist; wende dich, wohin du willst, siehe, ich bin mit dir nach deinem Herzen» (1. Sam 14,7). Darin zeigten sich seine Hingabe und seine bedingungslose Unterordnung unter den Willen seines Herrn. Welch einen eindrücklichen Sieg hat dieser Mann zusammen mit Jonathan davongetragen, so dass ein Schrecken im Lager der Philister entstand (1. Sam 14,15)!