Der letzte Kampf des Herrn mit dem Satan (2)

Lukas 23,35.37.39

2. Vergleich mit und Gegensatz zu der Versuchung in der Wüste

«Und als der Teufel jede Versuchung vollendet hatte, wich er für eine Zeit von ihm» (Lk 4,13). Dieser Bericht des Evangeliums bereitet uns auf weitere Angriffe gegen den Herrn Jesus vor. Den Meisterstreich behielt sich der Versucher bis zuletzt auf. Ein Zwischenangriff, verkleidet in die Fürsorge des Petrus für die Sicherheit seines Meisters, stellte in einschmeichelnder Weise dieselbe Versuchung dar (Mt 16,22), wie sie später, als unser teurer Herr am Kreuz hing, offen und direkt auf Ihn zukam. Die Verstellung des Versuchers war zuletzt nicht mehr so raffiniert. Der Sohn des Menschen liess sich in seiner Abhängigkeit von Gott durch keinen Angriff Satans betrügen. Aber wie wurden die Menschen betrogen, deren sich der Widersacher bediente! Zuerst Petrus und später, bei der Kreuzigung, die Menschen aller Klassen. Sie waren sich nur wenig bewusst, wie völlig ihr Wille dem Willen eines anderen unterworfen war, darin, dass sie zur Stimme der gefährlichsten Versuchung wurden, die ihr Meister, der Teufel, über den Sohn Gottes bringen konnte. Bei der Einmischung des Petrus genügte es, dass der Herr die Gegenwart Satans dadurch ausschloss, dass Er ihm befahl, sich zurückzuziehen. Am Kreuz aber kamen die Sticheleien der Menschen wie mächtige Wogen über einen stillen Dulder, und niemand gebot ihnen Einhalt.

Jetzt viele Spötter, aber derselbe Geist wie einst

«Wenn du Gottes Sohn bist» (Mt 4,3.6) – diese Worte bildeten die Grundlage der Versuchungen in der Wüste. Ähnliche Worte leiteten nun auch jeden Spott gegenüber dem Gekreuzigten ein. «Wenn du Gottes Sohn bist.» – «Wenn dieser der Christus ist, der Auserwählte Gottes.» – «Wenn du der König der Juden bist.» – «Bist du nicht der Christus?» (Mt 27,40; Lk 23,35.37.39). Die Stimmen waren wohl die Stimmen der Vorübergehenden, der Obersten, der Soldaten und der Räuber, aber Satan selbst war der Organisator der ganzen Szene. Drei Versuchungen wurde der Herr in der Wüste unterworfen und dreien oder vieren am Kreuz, aber hier war es jedes Mal dieselbe Versuchung: «Rette dich selbst»; lästerten die Vorübergehenden (Mk 15,30); «Rette dich selbst», echoten die Soldaten; «Rette dich selbst», wiederholte der unbußfertige Schächer (Lk 23,37.39). Die Obersten und Hohenpriester halfen sich gegenseitig, Ihn vor dem Volk zu erniedrigen: «Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten» (Mk 15,31). Diese mehrmalige Wiederholung offenbart die Absicht des Versuchers – er konzentrierte seine Angriffe auf einen Punkt. Sie zeigt auch, dass seine menschlichen Werkzeuge übereinstimmend das Hangen Christi am Kreuz als endgültigen Abbruch aller seiner Ansprüche auf Erhöhung und Herrschaft betrachteten.

Die frühere Versuchung zur Selbstsucht wird verschärft

Jene verschiedenartigen Versuchungen in der Wüste bezogen sich auf seinen leiblichen Hunger, seine gerechten Ansprüche auf den Thron über den ganzen Erdkreis und sein Recht auf die Anbetung und den Dienst der Engel. Dieser Thron stand Ihm aufgrund der göttlichen, prophetischen Verheissung zu. Die Engel beteten ihn bei seiner Geburt als Gott an; Er konnte über den Dienst Ihrer Legionen nach seinem Willen verfügen. – Mache Gebrauch von deinen Rechten und deiner Macht zu deiner Verherrlichung in dieser meiner selbstsüchtigen Welt, hatte ihr Fürst Ihm damals in der Wüste in Wirklichkeit gesagt. Diese böse Versuchung trat nun, wenig verändert, aber in viel grösserer Kraft wieder vor den Herrn, als seine Stunde gekommen war; und diesmal war sein Leben verwirkt, wenn Er ihr widerstand.

Der Versucher und seine menschlichen Sklaven hielten diese Herausforderung zur Selbsterhaltung für unwiderstehlich. Wir können uns in der Tat fragen: Weshalb vermochte die Schande des Kreuzes, der Entzug des Rechts durch die Obersten und den römischen Statthalter und das Fehlen der göttlichen Hilfe Ihn nicht anzutreiben, sich selbst zu befreien? Da gibt es nur eine Antwort. Der Sohn des Menschen war nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele. Er ging den Ihm bezeichneten Weg voran, im unabänderlichen Entschluss, Gott zu gehorchen und «andere» auf ewig «zu retten». Auf alles andere verzichtete Er jetzt. Es ging für Ihn nur darum, sein Leben zu geben. Wenn Er in dieser Welt sein Leben nur lebte, konnte Er niemals Sühnung tun. Nur durch die Hingabe seines Lebens konnte Er die Menschen erlösen. Der Wille Gottes hatte jetzt diese Aufgabe auf Ihn gelegt, und so liess Er sich in die tiefen Wasser sinken, nicht achtend auf die höhnischen Stimmen um sich her. So überwand Er den letzten Angriff des Widersachers. Das Sich-Klammern an sein Leben, an seinen letzten Besitz in dieser Welt, ist der stärkste der menschlichen Triebe. Doch hier war Einer, der, «in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde», selbst dem grössten Druck völlig widerstand und dieser Liebe zum Leben keinerlei Raum gab. Der Fürst der Welt hatte sein äusserstes versucht – aber «er hat nichts in mir».

Der Herr antwortete damals, aber jetzt ist Er still

In der Wüste begegnete Jesus – nach vierzigtägigem Fasten – jeder Versuchung mit einem Wort Gottes. Das war sein Schwert in jenem Kampf mit dem Feind. Die Versuchungen traten in einer Form an Ihn heran, die seinen eigenen Wünschen und Ansprüchen entsprach. Aber Er wies jede Erfüllung zurück, die hinsichtlich Zeit und Mittel nicht mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung war. Er las diesen Willen im Wort Gottes; sein Gebrauch davon machte dies offenbar und zeigt uns die inneren Beweggründe seiner Seele. Auch als Er sich aufmachte, das Werk auszuführen, das sein Vater Ihm aufgetragen hatte, regelte das Wort Gottes jeden Wunsch und jeden Vorsatz in seinem Herzen und bestimmte jeden seiner Schritte. Während seines ganzen Dienstes bildete das Wort Gottes seine Botschaft an die Menschen. Er bestätigte mit seiner ganzen Autorität, was vor seinem Kommen durch den Heiligen Geist geschrieben worden war, und Er teilte neue Offenbarungen mit, die nur den Sohn, der den Vater gesehen hatte und kannte, machen konnte. Doch hatte das, was Ihn betraf, eine Vollendung (Lk 22,37), und es kam die Zeit, wo die Menschen entschlossen waren, das Licht seines Zeugnisses auszulöschen, indem sie Ihn töteten. Sich darunter zu beugen, als unter die Hand Gottes, war der besondere Prüfstein seines unveränderten Gehorsams. Seine Stunde des Leidens war jetzt gekommen und Er ertrug sie mit einer Ruhe, die sowohl von geduldigem Ertragen jeder Prüfung zeugte wie auch von einer endgültigen Zurückweisung der schrecklichen Versuchung!