1) Einleitung
Was bedeutet das Wort «ekklesia»?
Im griechischen Grundtext des Neuen Testaments steht das Wort «ekklesia», wenn der Heilige Geist von der Versammlung Gottes spricht. Kenner der griechischen Sprache geben auf Deutsch folgende wörtliche Übersetzung an: Herausgerufene, Herausberufene. Dieses griechische Wort wurde vom deutschen Reformator Luther mit «Gemeinde» übersetzt. Der Schweizer Reformator Zwingli benutzte den Ausdruck «Kirche». In der Elberfelder Übersetzung steht das Wort «Versammlung». Welches der bestübersetzte Ausdruck für «ekklesia» ist, überlasse ich den Sprachgelehrten. Ob wir nun von «Kirche», «Gemeinde» oder «Versammlung» sprechen, wir meinen immer dasselbe, nämlich das, was das Wort Gottes darunter versteht. Weil wir die Bibeltexte nach der Elberfelder Übersetzung zitieren, benutzen wir durchgehend das Wort Versammlung.
Die verschiedenen Aspekte der Versammlung
Allerdings hat das Wort «Versammlung» in der Bibel nicht immer die gleiche Bedeutung. Wir können drei verschiedene Betrachtungsweisen unterscheiden:
- «Auf diesen Felsen werde ich meine Versammlung bauen» (Mt 16,18). Hier spricht der Herr Jesus von der Versammlung unter ihrem universellen Aspekt: Es ist die Gesamtheit aller Erlösten von Pfingsten (Apg 2) bis zur Entrückung. Sie bilden gemeinsam die Versammlung Gottes.
- «Gott hat einige in der Versammlung gesetzt …» (1. Kor 12,28). Das ist die Versammlung unter ihrem zeitlichen Aspekt: Es ist die Summe der Erlösten, die in einem bestimmten Moment auf der Erde leben.
- «Wenn er aber nicht auf sie hört, so sage es der Versammlung» (Mt 18,17). Damit ist die Versammlung unter ihrem örtlichen Aspekt gemeint: Es sind alle Erlösten, die an einem Ort leben und sich miteinander zum Namen des Herrn Jesus hin versammeln.
Alle drei Aspekte finden wir wiederholt im Neuen Testament. So stellt sich uns beim Lesen immer wieder die Frage: Aus welchem Blickwinkel wird uns jetzt die Versammlung gezeigt?
Der hohe Wert der Versammlung für Gott
Die Versammlung ist für Gott sehr wertvoll. Schon in der Ewigkeit hat Er mit Freude an sie gedacht. Nun wird sie in der Zeit der Gnade gebildet, damit sie ewig zu seiner Ehre sei. Drei Punkte machen uns deutlich, wie viel die Versammlung für Gott bedeutet:
- Gott hat sich die Versammlung durch das Blut seines eigenen Sohnes erworben (Apg 20,28). Dieser göttliche Preis, den Er für die Versammlung bezahlt hat, zeigt uns ihren hohen Wert für Gott.
- Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, ist der Fels, auf den die Versammlung gegründet ist (Mt 16,16.18; 1. Kor 3,11). Diese göttliche Grundlage gibt der Versammlung eine einzigartige Bestimmung.
- Der Heilige Geist wohnt in der Versammlung (1. Kor 3,16; Eph 2,22)! Dieser göttliche Bewohner gibt der Versammlung einen heiligen Charakter.
Je mehr wir den hohen und heiligen Wert erkennen, den die Versammlung für Gott hat, desto wertvoller wird sie auch für uns.
Von der Position zur Praxis
Die Versammlung besitzt eine vollkommene Stellung, die sie von Gott geschenkt bekommen hat: Sie ist das Haus Gottes, die Braut von Christus und der Leib von Christus. Daran dürfen wir uns uneingeschränkt freuen. Gleichzeitig haben wir die Aufgabe, die Versammlung Gottes praktisch zu verwirklichen, indem wir uns zum Namen des Herrn Jesus hin versammeln. Dabei ist uns bewusst, dass dies sehr unvollkommen geschieht.
Um die biblischen Gedanken über die Versammlung Gottes zu erfassen, müssen wir die vollkommene Stellung von der mangelhaften Verwirklichung unterscheiden. Wenn wir beides miteinander vermischen, werden wir die göttlichen Belehrungen nicht verstehen. Dennoch trennen wir Position und Praxis nicht voneinander. Die Stellung der Versammlung ist der Massstab für ihre Verwirklichung.
Ich möchte das noch etwas verdeutlichen: Mit 20 Jahren begann ich mich mit dem Thema «die Versammlung Gottes und ihre örtliche Darstellung» zu beschäftigen. Ich fragte mich, was in dieser wichtigen Sache der Wille Gottes für uns Christen sei. Dabei hatte ich die Idee, der Reihe nach die verschiedenen christlichen Kreise und Gruppen zu besuchen, um zu sehen, wie sie Versammlung Gottes verwirklichten. Ich hoffte so, die Gruppe zu finden, die am genauesten mit Gottes Wort übereinstimmte. Doch der Herr verhinderte in seiner Weisheit meine Absicht. Er zeigte mir, dass nicht die Praxis, sondern die Position der Versammlung der Ausgangspunkt ist, um den gemeinsamen Weg der Glaubenden nach Gottes Gedanken zu finden.
In dieser Zeit beschäftigte ich mich persönlich mit dem zweiten Buch Mose. Ich kam zur Stelle, wo Gott zu Mose sagte: «Steige zu mir herauf auf den Berg und sei dort» (2. Mo 24,12). Nachdem Mose zu Gott auf den Berg gestiegen war, erklärte der HERR: «Sie sollen mir ein Heiligtum machen, dass ich in ihrer Mitte wohne. Nach allem, was ich dir zeige, das Muster der Wohnung und das Muster aller ihrer Geräte, so sollt ihr es machen» (2. Mo 25,8.9). Damit Mose auf der Erde ein Heiligtum nach Gottes Gedanken bauen konnte, musste er seine Blicke ganz vom Irdischen lösen. Er musste zu Gott auf den Berg hinaufsteigen und seine Gedanken völlig auf Ihn ausrichten. Dort oben sah er das Muster des Heiligtums und lernte, alles mit den Augen Gottes zu sehen. Dann erst forderte der HERR ihn auf: «So richte die Wohnung auf nach ihrer Vorschrift, wie sie dir auf dem Berg gezeigt worden ist» (2. Mo 26,30). Da gehorchte Mose und tat «nach allem, was der HERR ihm geboten hatte» (2. Mo 40,16).
Daraus erkannte ich einen wichtigen Grundsatz, der auch für die Versammlung gilt: Wer Gottes Gedanken über das Zusammenkommen der Glaubenden verstehen will, muss zuerst seine Blicke von der Praxis auf der Erde wegwenden und bildlich gesprochen auf den Berg gehen, um in Gottes Wort zu forschen, was die Versammlung in Gottes Augen ist.
Wir machen deshalb in dieser Artikelserie eine «Berg- und Talfahrt». Zuerst beschäftigen wir uns mit der Stellung und danach weisen wir auf die Verwirklichung hin. Gleichzeitig nehmen wir uns manchmal die Freiheit, schon beim Vorstellen der Position einen kurzen Hinweis auf die Praxis zu machen.
Als der Herr Jesus auf der Erde lebte, sprach Er nur zweimal über die Versammlung Gottes. Seine beiden kurzen Aussagen sind jedoch von grundlegender Bedeutung. In Matthäus 16,16-18 stellt Er die Stellung der Versammlung vor, in Matthäus 18,17-20 zeigt Er ihre örtliche Verwirklichung. Obwohl die Versammlung damals noch nicht existierte, geben uns beide Stellen wichtige und wegweisende Belehrungen zu diesem Thema.
2) Die Position der Versammlung
Die Grundlage der Versammlung
«Auf diesen Felsen werde ich meine Versammlung bauen.»
Die Versammlung steht auf einer Grundlage – auf einem «Felsen». Dieser Fels ist Christus, der ewige Sohn Gottes. Das wird aus Vers 16 klar, wo Petrus zum Herrn Jesus sagt: «Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.» Nachdem Petrus dieses herrliche Zeugnis über Christus abgelegt hat, erklärt der Herr: «Auf diesen Felsen (d.h. auf diesen Namen seiner eigenen Person) werde ich meine Versammlung bauen.» So ist die Grundlage der Versammlung der Sohn von dem Gott, in welchem Leben und Leben gebende Kraft ist. Der ewige Sohn wurde Mensch, ging in den Tod und ist «als Sohn Gottes in Kraft erwiesen durch Toten-Auferstehung» (Röm 1,4). Dadurch wurde in Ihm diese Kraft und Macht des lebendigen Gottes offenbart. So ist Er in seinem Charakter als der ewige Sohn Gottes das Fundament, worauf Er seine Versammlung baut.
Das gibt der Versammlung eine besondere Bestimmung. Sie ist nicht eine Fortsetzung von Israel, sondern etwas Neues. Das erkennen wir klar aus der unterschiedlichen Beziehung, die Christus zu Israel und seiner Versammlung hat. Im Alten Testament wird Er als Sohn Gottes durch Geburt vorgestellt (Ps 2,7; Jes 9,5). Als solcher ist Er der Messias und König Israels. Im Neuen Testament offenbart Er sich als der ewige Sohn Gottes und bildet als solcher die Grundlage der Versammlung.
Die Bausubstanz der Versammlung
«Ich sage dir: Du bist Petrus (= Stein).»
Die Versammlung Gottes ist aus lebendigen Steinen zusammengesetzt. Das kündet der Herr Jesus an, indem Er Petrus als einen Stein an diesem Haus bezeichnet. Sein Bruder Andreas hatte ihn einst zum Herrn Jesus geführt. Bei dieser ersten Begegnung gab ihm der Heiland einen neuen Namen: Petrus (Joh 1,42). Weil er an den Herrn Jesus glaubte, bekam er neues Leben und gehörte nun Christus an. Damit war die Voraussetzung geschaffen, dass Petrus an Pfingsten (Apg 2), als die Versammlung entstand, ein lebendiger Stein am Haus Gottes wurde. Doch es kamen noch weitere lebendige Steine hinzu. In seinem ersten Brief schreibt er gläubigen Christen: «Ihr werdet selbst als lebendige Steine aufgebaut, ein geistliches Haus» (1. Pet 2,5). Der Apostel Paulus belehrt uns, dass sich dieses Vorrecht nicht auf Menschen aus den Juden beschränkt (Eph 2,19-21). Daraus wird klar, dass heute jeder Mensch, der als Sünder zu Gott kommt und die Rettung im Herrn Jesus ergreift, ein lebendiger Stein wird und zusammen mit allen anderen Erlösten das Haus Gottes bildet.
Damit unterscheidet sich die Versammlung in der Art und der Substanz vom Tempel in Jerusalem und von den sogenannten Kirchen aus Holz und Stein. Sie ist kein materielles, sondern ein geistliches Haus – für das leibliche Auge unsichtbar, aber trotzdem eine Wirklichkeit.
Die Bauzeit der Versammlung
«Auf diesen Felsen werde ich meine Versammlung bauen.»
Die Versammlung hat nicht etwa bei Adam angefangen und auch nicht zum Zeitpunkt, als der Herr Jesus auf die Erde kam. Zuerst musste Er am Kreuz auf Golgatha sterben, aus den Toten auferstehen und in den Himmel auffahren. In der Folge sandte Gott den Heiligen Geist auf die Erde. Damit begann die Bauzeit der Versammlung. Aus diesem Grund sagt der Herr Jesus hier «ich will bauen» oder «ich werde bauen». Es gibt einen bestimmten Zeitabschnitt in der Menschheitsgeschichte, in dem Christus seine Versammlung baut – von Pfingsten bis zur Entrückung. Weil Er sie baut, ist sie immer vollkommen, aber sie ist noch nicht vollendet. Sobald der letzte Glaubende der Gnadenzeit als lebendiger Stein hinzugefügt sein wird, wird der Herr Jesus zur Entrückung kommen und seine Versammlung in den Himmel nehmen.
Mit dem Ausdruck «ich will meine Versammlung bauen» deutet Er an, dass die Versammlung in Zeit und Raum gebildet wird, in einem ganz speziellen Zeitabschnitt. Aber sie ist als die «Herausgerufene» (ekklesia) – obwohl auf der Erde und in der Zeit gebildet – in ihrem Charakter himmlisch. Diese Tatsache wird mit der Beschreibung der Versammlung im ewigen Zustand unterstrichen: «Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, aus dem Himmel herabkommen von Gott, bereitet wie eine für ihren Mann geschmückte Braut» (Off 21,2). Sie wird aus dem Himmel herabkommen, denn sie besitzt ein himmlisches Zuhause.
Der ewige Charakter der Versammlung
«Die Pforten des Hades werden sie nicht überwältigen.»
Die Versammlung ist auf den ewigen Sohn gegründet. Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat Er selbst in seiner göttlichen Kraft die Pforten des Hades zerbrochen. Dadurch hat Er die Macht des Todes zunichtegemacht. Dieser Sieg über den Tod begründet den ewigen Charakter und den ewigen Bestand der Versammlung. Der Tod kann die Stellung derer, die die Versammlung bilden, nicht antasten. Das ist der entscheidende Unterschied zum Volk Israel. Gott hat Israel als sein Volk erwählt. Er gab ihm spezielle Verheissungen und Er wird jede einzelne im Tausendjährigen Reich an diesem Volk erfüllen. Aber im ewigen Zustand wird Israel nicht mehr als Volk gefunden, die Versammlung bleibt jedoch in ihrer besonderen Position ewig bestehen (Off 21,1-5).