Im Hof des Hohenpriesters
In den nun folgenden Stunden der dritten und vierten Nachtwache berichtet die Heilige Schrift von einer Reihe erschütternder Ereignisse:
- Die drei Verhöre vor den Hohenpriestern und dem Synedrium
- Die Verleugnung durch Petrus
- Der Selbstmord des Judas
- Die drei Verhöre vor den Vertretern der politischen Macht
Nach der Gefangennahme hatte man den Herrn zunächst zu Annas, dem Schwiegervater des Hohenpriesters Kajaphas, geführt (Joh 18,13). Dieser vollzog ein kurzes Verhör und «fragte Jesus über seine Jünger und über seine Lehre». Es scheint so, als ob Annas entscheidenden Einfluss auf den eigentlichen Hohenpriester ausübte, und bei den weiteren Verhören wird sogar von Hohenpriestern in der Mehrzahl gesprochen. Alles in Israel, auch das Hohepriestertum, war in Unordnung.
Von Annas wurde der Herr gebunden zu Kajaphas gebracht. Inzwischen hatte man wohl die Ältesten, die Schriftgelehrten und das Synedrium in aller Eile zusammengerufen. So kam es dann zu einem weiteren Verhör, das eigentlich gar keines war, da es absolut keinen Anspruch auf Rechtmässigkeit erheben konnte. Die Führer des Volkes machten sich dabei grober Verstösse gegen die damalige jüdische Prozessordnung und auch gegen das mosaische Gesetz schuldig. So war eine Gerichtsverhandlung in der Nacht verboten. Es gab keine Entlastungszeugen (5. Mo 19,15-19), und ausserdem wurde falsches Zeugnis gegeben (Mk 14,57). Wie zutreffend sind doch hier die Worte Salomos: «Und ferner habe ich unter der Sonne gesehen: An der Stätte des Rechts, da war die Gesetzlosigkeit, und an der Stätte der Gerechtigkeit, da war die Gesetzlosigkeit» (Pred 3,16).
Schweigend stand der Herr Jesus vor seinen Verklägern, «wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern; und er tat seinen Mund nicht auf» (Jes 53,7). Um den Angeklagten zum Reden zu bringen, bediente sich der Hohepriester schliesslich des Eidschwurs. Darauf war der Herr nun aufgrund des Gesetzes gezwungen zu antworten, und Er tat es mit grosser Würde. Auf die Frage des Hohenpriesters, ob Er der Christus sei, der Sohn Gottes, antwortete Er: «Du hast es gesagt.» Der Hohepriester liess sich darauf zu einer Handlung hinreissen, die das Gesetz verbietet: Er zerriss seine Kleider (vgl. dazu 3. Mo 10,6). Das Bekenntnis des Herrn wurde als Lästerung ausgelegt, und alle urteilten, dass darauf die Todesstrafe stehe. Aber was geschah dann? Was die Schrift nun berichtet, lässt uns erschrecken: Man spie Ihm ins Angesicht; man schlug Ihn mit Fäusten und rief Ihm zu: «Weissage uns, Christus, wer ist es, der dich schlug?» Es gab überhaupt keinen Grund, den Herrn so zu behandeln, geschweige denn eine Berechtigung. Wie offenbarte sich hier das menschliche Herz in seiner Härte und Grausamkeit! Der Herr aber übergab sich Dem, der gerecht richtet.
Während dieser Zeit hatte sich im Hof des Hohenpriesters noch etwas anderes ereignet, was den Herrn Jesus zutiefst geschmerzt haben muss: die Verleugnung durch Petrus. Er war Ihm «von weitem» in den Hof des Hohenpriesters gefolgt, «um das Ende zu sehen». Dabei kam ihm Johannes in der Weise zu Hilfe, dass er aufgrund seiner Bekanntschaft mit dem Hohenpriester dem Petrus Zugang in den Hof verschaffte. Nach dem Bericht des Markus krähte der Hahn nach der ersten Verleugnung. Innerhalb von einer Stunde – um dem Bericht des Lukas zu folgen – verleugnete Petrus den Herrn zum zweiten und dritten Mal, worauf der Hahn zum zweiten Mal krähte. Da gedachte Petrus des Wortes, wie Jesus zu ihm gesagt hatte: «Ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen» – so schreibt Markus, während Lukas hinzufügt, dass der Herr sich umwandte und Petrus anblickte. Dieser Blick brachte Petrus zur Besinnung. Es war sicher ein Blick voller Liebe. Das war der letzte Dienst, den der Herr Jesus während seines Lebens einem seiner Jünger erwies.
Es ist nicht von ungefähr, dass Lukas unmittelbar danach schreibt, wie der Herr verhüllt wurde und seine Augen dem Petrus nicht mehr begegnen konnten. Petrus ging hinaus, bitterlich weinend. Vielleicht hat er gedacht: Hätte ich doch auf den Meister gehört! Jetzt, wo er sich an das Wort des Herrn erinnerte, kam ihm die ganze Tragweite des «Nicht-Bewahrens» des Wortes zum Bewusstsein.
Die Mitteilungen über die Verleugnung enthalten für uns eine ernste Belehrung. Petrus hatte tatsächlich eine brennende Liebe zu seinem Herrn, aber sein grosser Fehler war, dass er auf diese seine Liebe vertraute. Sein Mitjünger Johannes bezeichnete sich als den «Jünger, den Jesus liebte», wodurch wohl ausgedrückt wird, dass Johannes auf die Liebe des Meisters vertraute. Ausserdem hatte der Herr Jesus zu Petrus gesagt: «Du kannst mir jetzt nicht folgen», und ihm sogar mitgeteilt, dass er Ihn verleugnen werde. Lasst uns deshalb die Worte des Psalmisten beherzigen: «In meinem Herzen habe ich dein Wort verwahrt, damit ich nicht gegen dich sündige», und: «Bevor ich gedemütigt wurde, irrte ich; jetzt aber bewahre ich dein Wort.»
Es folgt dann die letzte und entscheidende Verhandlung der Juden, bevor der Herr noch drei weitere Verhöre vor den Vertretern der weltlichen Macht über sich ergehen lassen musste. «Und sogleich am frühen Morgen hielten die Hohenpriester Rat samt den Ältesten und Schriftgelehrten und das ganze Synedrium.»1 Es ging jetzt um die Frage, wie das Todesurteil ausgeführt werden konnte. Das Ergebnis dieser Verhandlung war, dass sie den Herrn gebunden zu Pilatus bringen wollten. Ein Todesurteil zu vollstrecken, war den Juden nicht erlaubt. Dazu waren sie auf die ihnen so verhasste Besatzungsmacht angewiesen. Der Herr wurde dann, so wie Er selbst angekündigt hatte, den Nationen überliefert und zu Pilatus geführt.
- 1Das Synedrium war das oberste jüdische Gericht, bestehend aus 71 Mitgliedern unter dem Vorsitz des amtierenden Hohenpriesters; vgl. dazu 4. Mo 11,16.