Auf dem Weg nach und in Gethsemane
Durch die stillen Strassen von Jerusalem – die zweite Nachtwache hatte inzwischen begonnen – geht eine kleine Schar von Männern. Ihr Ziel ist der Ölberg. Es ist der Herr Jesus mit seinen Jüngern. Vor sechs Tagen war Er in entgegengesetzter Richtung gegangen. Weinend hatte Er dort am Abhang des Berges gestanden, als Er die geliebte Stadt vor sich sah und klagen musste: «Wenn du doch erkannt hättest – und wenigstens an diesem deinem Tag –, was zu deinem Frieden dient! Jetzt aber ist es vor deinen Augen verborgen» (Lk 19,42).
Jetzt geht der Herr aus der Stadt hinaus, und zwar dem entgegen, der Ihn verraten und überliefern würde. Die noch verbleibende Zeit nutzt der Herr, um seine Jünger zu trösten und zu belehren: «Ich bin der wahre Weinstock … Wer in mir bleibt, und ich in ihm, dieser bringt viel Frucht.» Er bemerkt ihre Betrübnis und redet ihnen zu, dass Er sie wiedersehen werde, und dann sollte ihre Traurigkeit in Freude verwandelt werden.
- Ja, wer ist Ihm gleich,
so mild und so reich,
an Liebe und Macht und Erbarmen!
Er kennt auch unseren Kummer und will uns nahe sein, um uns zu trösten, so wie Er es damals bei seinen Jüngern getan hat.
Dann überqueren sie den Bach Kidron, um in den Garten zu kommen. Kidron heisst auf Deutsch: dunkel oder trübe. Finsternis war im Herzen des Judas, und der Herr sieht nun die Stunde auf sich zukommen, von der Er bei seiner Gefangennahme sagt: «Dies ist eure Stunde und die Gewalt der Finsternis» (Lk 22,53). Aber noch ist es nicht so weit. Der Herr muss dort im Garten Gethsemane erst noch den ringenden Kampf durchstehen. Er bittet seine Jünger, mit Ihm zu wachen. Er sucht nach Tröstern und findet keine. Ein Engel muss kommen, um das zu tun, was die Jünger hätten tun sollen: Ihn stärken. Mit Ihm zu wachen, wäre für den Herrn sicher schon ein Beweis des Mitgefühls gewesen.
Stattdessen schlafen sie ein vor Traurigkeit. So wie sie auf dem Berg angesichts seiner Herrlichkeit einschliefen, so geschah es auch hier, wo der Herr Jesus, nur einen Steinwurf weit von ihnen entfernt, auf der Erde liegt und mit starkem Schreien und Tränen betet. Das Kreuz steht vor seiner Seele! Er, der Sünde nicht kannte, sollte zur Sünde gemacht werden. Ergeben in den Willen des Vaters, steht Er dann auf: «Lasst uns gehen; siehe, der mich überliefert, ist nahe gekommen.»
Judas kommt mit einer grossen Volksmenge. Sie tragen Leuchten und Fackeln. War das nötig? Es war doch Vollmond (14. Nisan), und im Orient sind die Nächte dann sehr hell. Ja, so hell wie die Nacht äusserlich war, so überaus finster war sie aber in sittlicher Hinsicht. Judas verrät den Herrn mit einem Kuss und sagt: «Sei gegrüsst, Rabbi!», was so viel heisst wie: Freue dich! Der Herr Jesus spricht noch einmal zu Herz und Gewissen des ehemaligen Jüngers: «Freund, wozu bist du gekommen?» Es ist vergeblich! Der Sohn des Verderbens vollendet sein Werk. Noch wenige Stunden, dann wird er in die ewige Nacht gehen!
Der Herr selbst wird gebunden und dann weggeführt. Alle Jünger fliehen, auch der «starke Petrus». Die Folgen seiner Torheit, mit dem Schwert dreinzuschlagen, macht der Herr wieder gut und vollbringt ein letztes Wunder der Heilung.
- Deinen Feinden – wer kann's fassen! –
wurdest Du, Herr, überlassen.