Im Prätorium
Bevor wir das Geschehen im Prätorium betrachten, müssen wir uns noch mit dem Ende von Judas beschäftigen. Er hatte – so berichtet Matthäus – gesehen, dass der Herr Jesus verurteilt wurde. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Vielleicht dachte er, der Herr würde auch dieses Mal seinen Feinden entkommen. Jetzt brannte ihm das Geld in den Händen. Er brachte es mit den Worten «Ich habe gesündigt» zu den Hohenpriestern zurück. Es war ein gewisses Bedauern, aber keine Buße. Mit beispielloser Gefühllosigkeit antworteten diese: «Was geht uns das an? Siehe du zu.» Armer Judas! Betrogen vom Teufel und verstossen von seinen Auftraggebern, trieb Satan ihn sogar an, seinem Leben ein Ende zu machen. Er ging hin und erhängte sich.
Wie ernst und eindringlich warnend stellt der Heilige Geist dieses tragische Ende vor uns! Wir haben schon gesehen, dass Judas nicht zu entschuldigen ist und für sein Tun voll verantwortlich war. Bei seinem Ende wird aber noch eine andere Wahrheit deutlich: Gott kann auch ein Herz verhärten. Aber das tut Er erst dann, wenn alle Bemühungen der Liebe vergeblich waren. Und genau das war bei Judas der Fall. Möge niemand, der in trotzigem Unglauben verharrt, sich täuschen: Gott ist Liebe, aber auch Licht. Es ist schrecklich, unversöhnt in die Ewigkeit zu gehen.
Es war «frühmorgens», als man Jesus in das Prätorium führte, um dort von Pilatus verhört zu werden. Die Juden gingen selbst nicht in das Prätorium hinein. Sie wollten sich wegen des bevorstehenden Passahessens nicht verunreinigen.
Bei diesem Verhör sollte Pilatus feststellen, ob der Herr Jesus der König der Juden sei. Auf die diesbezügliche Frage legte Er «das gute Bekenntnis» ab, von dem Paulus in seinem ersten Brief an Timotheus schreibt. Christus fügte jedoch hinzu: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt … jetzt aber ist mein Reich nicht von hier.» So wie der Herr sich vor den Juden als Sohn Gottes bekannte, so bekennt Er sich hier als der König seines Volkes. Aber sein Reich hat einen ganz anderen Charakter als die Reiche dieser Welt, nämlich einen himmlischen. Wäre dieses Reich gleich einem solchen wie in dieser Welt, so hätten seine Diener gekämpft. Nein, jetzt musste Er als «der hochgeborene Mann in ein fernes Land ziehen, um dort ein Reich für sich zu empfangen» (Lk 19,12), und seine Knechte sollten, genau wie ihr Herr, auf der Erde leiden anstatt kämpfen. Aber was verstand ein Pilatus schon von diesen Dingen? Er war nicht «aus der Wahrheit» und konnte deshalb auch nicht «seine Stimme hören». Er, den der Geschichtsschreiber Philo als grausam, boshaft und brutal beschreibt, war innerlich von der Unschuld des Herrn völlig überzeugt. Dreimal hatte er im Verlauf der Verhöre diese Unschuld bezeugt. Er suchte deshalb nach einem Ausweg und fand auch schnell einen solchen.
Nachdem er gefragt hatte, ob der Herr Jesus ein Galiläer sei, sandte er Ihn zu Herodes. Dieser weilte gerade in Jerusalem und suchte schon lange eine Gelegenheit, mit Jesus zusammenzutreffen (Lk 9,9). Nun geschah es auf eine ganz andere Weise, als er es sich vielleicht gedacht hatte. Bei diesem fünften Verhör gab der Herr auf die vielen Fragen des Herodes keine Antwort, was diesen dazu veranlasste, Jesus geringschätzig zu behandeln und Ihn zu verspotten. Er warf Ihm als Zeichen dieses Spottes ein glänzendes Gewand um und sandte Ihn zu Pilatus zurück.
Dieser wurde jetzt auf das Drängen der Juden zu einer Entscheidung gezwungen. Während des jetzt folgenden und damit sechsten Verhörs liess Pilatus den Herrn Jesus geisseln, etwas, was nach römischem Recht ohne vorherigen Urteilsspruch verboten war. Bei einer solchen Geisselung wurde der Rücken des Gefangenen entblösst und dann mit einer Peitsche, an deren Riemen Bleikugeln befestigt waren, blutig geschlagen. Diese grausame und völlig ungerechtfertigte Behandlung liess den Geist von Jesus klagen: «Pflüger haben auf meinem Rücken gepflügt, haben lang gezogen ihre Furchen» (Ps 129,3). Wie bewundern wir unseren Herrn, den Mann der Schmerzen, der hier so furchtbar von der Hand der Menschen leiden musste! Und was wollte Pilatus damit erreichen? Der Anblick des Gefangenen, der mit einem Purpurkleid bekleidet und mit einer Dornenkrone gekrönt war, der nun wie einer war, «vor dem man das Angesicht verbirgt», veranlasste Pilatus zu dem Ausruf: «Siehe, der Mensch!» Er wollte damit das Mitleid der Juden erregen. Wie offenbarte sich hier das menschliche Herz in seiner ganzen Härte! Sie schrien: «Kreuzige, kreuzige ihn!» Keine Regung von Mitleid, geschweige denn Barmherzigkeit! Sicher hat mancher von uns schon die Frage im Herzen gehabt: Warum hat Gott das alles zugelassen? Wir können es nur so verstehen, dass der Herr Jesus auch hier letztlich ein Prüfstein war, um zu offenbaren, was im Herzen des Menschen ist. Ja, dieses Herz kann härter sein als Stein. Als der Herr Jesus wenige Stunden später am Kreuz starb, da zerrissen die Felsen, aber nicht die Herzen der Menschen. Alles dieses aber konnte die Liebe unseres Herrn nicht überwinden. Er blieb in seiner Liebe treu und fest gegenüber seinem Gott.
Die letzte Frage, die Pilatus an den Herrn richtete, lautete: «Weisst du nicht, dass ich Gewalt habe, dich zu kreuzigen?» Wie wunderbar und für uns von tiefer Bedeutung war die Antwort des Herrn: «Du hättest keinerlei Gewalt gegen mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre.» Lasst uns sinnen über dieses Wort: von oben! Wie viel hat es uns zu sagen, auch zu unserer Ermunterung! Alle Gewalt (Autorität) ist droben. Und der Herr Jesus ist unser Herr, dem wir leben und dienen möchten. Bald wird die Herrschaft des Himmels auch auf der ganzen Erde anerkannt werden.
Es ist gegen sechs Uhr in der Früh. Pilatus macht einen letzten Versuch, das Urteil abzuwenden: «Siehe, euer König!» Vergebens! Sie schreien: «Wir haben keinen König als nur den Kaiser.» Pilatus urteilt, dass Er gekreuzigt werden soll. Der Herr wird fortgeführt, damit das Urteil vollstreckt würde. Der Mensch hat seine Schuld voll gemacht, aber – was kein Mensch bis dahin ahnte – der Ratschluss Gottes sollte sich erfüllen: Unser hochgelobter Herr sollte am Kreuz sterben.
So ging diese lange und so überaus schmerzliche Nacht zu Ende. Es war eine Nacht, die ihresgleichen sucht und die wir sicher schon des Öftern im Geist mit dem Herrn durchlebt haben. Möge diese kurze Betrachtung uns noch einmal die Not und Mühsal des Herrn Jesus ins Gedächtnis rufen und dazu dienen, Ihn mehr zu lieben. Dazu segne Er selbst, der diese Nacht so still duldend durchschritten hat, diese Zeilen!