IV. Sinai – der Mittler
(Das erste Jahr)
Im dritten Monat nach ihrem Auszug aus Ägypten kommen die Kinder Israel in die Wüste Sinai (2. Mo 19,1). Der HERR lässt ihnen durch Mose diese bemerkenswerten Worte sagen: «Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe, wie ich euch auf Adlers Flügeln getragen und euch zu mir gebracht habe» (Vers 4). Die ungeordneten Scharen, die aus dem Land Gosen ausgezogen waren, sollten zu einer Nation (Vers 6) gebildet werden, die ihre Gesetze, ihren Gottesdienst, ihren Mittelpunkt und ein wohlgeordnetes Heer hatte.
Das erste Jahr des Auszuges begann mit dem Passah und dem Roten Meer; daran schliesst sich nun die Fürsorge Gottes für die Wüste an: das Manna, das Wasser des Felsens, der Sieg über Amalek; sodann führt es auch zur Gesetzgebung am Sinai und zu den damit verbundenen Verordnungen. Dieses erste Jahr lässt sich in seiner Bedeutung für uns vor allem auf unser persönliches Leben anwenden: die Vergebung der Sünden, die Erlösung, die persönliche Nahrung für die Seele, der Wandel mit dem Herrn.
Das zweite Jahr (2. Mo 40,1.17) beginnt mit der Aufrichtung der Stiftshütte; dann folgen die Weihe der Priester, die Opfergaben der Fürsten, die Einrichtung des Dienstes, die Ordnung beim Lagern und beim Aufbruch. Es bezieht sich mehr auf das gemeinschaftliche Leben. Der Gläubige ist nicht erlöst worden, um allein zu leben und zu wandeln, sondern um mit seinen Brüdern verbunden zu sein: Christus ist gestorben, «damit er die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte» (Joh 11,52).
Schon während des zweiten Jahres hätte das Volk die Einnahme Kanaans in Angriff nehmen können, wäre nicht in Kades-Barnea, auf den Bericht der Kundschafter hin, ihr Mangel an Glauben zutage getreten. Die 38 Jahre, die sie noch in der Wüste zubringen mussten, wären in dieser Beziehung nicht nötig gewesen; aber sie waren da, damit Israel sich selbst und auch Gott kennen lernte (5. Mo 8).
1. Die Einführung des Gesetzes – der Gesetzgeber
Vor die ganze Machtentfaltung der Majestät und Heiligkeit Gottes gestellt, zittert das Volk (2. Mo 19,16). Mose selbst, so sagt Hebräer 12,21, ist angesichts der furchtbaren Erscheinung «voll Furcht und Zittern». Gott spricht dort die Zehn Gebote aus, die Grundlage des moralischen Gesetzes.
Das erschreckte Volk steht von fern. Sie sprechen zu Mose: «Rede du mit uns, und wir wollen hören; aber Gott möge nicht mit uns reden, dass wir nicht sterben!» (2. Mo 20,19). Die Versammlung Israels hält sich fern, aber Mose naht sich zum Dunkel, wo Gott ist.
Ein anderes Mal (2. Mo 24,9-18) begleiten ihn siebzig der Ältesten Israels auf den Berg, mit Aaron, Nadab und Abihu; aber Mose allein naht sich dem HERRN. Jene gingen nicht weiter; und das Volk selbst durfte nicht einmal den Berg berühren, geschweige denn hinaufsteigen. Vom «Gesicht» des Gottes Israels, das die Ältesten dort hatten, wird uns nur berichtet, dass «unter seinen Füssen war es wie ein Werk von Saphirplatten und wie der Himmel selbst an Klarheit».
Mose steigt schliesslich mit Josua auf den Berg, um die göttlichen Mitteilungen zu empfangen. Sechs Tage verharrt er dort mit ihm. Am siebten Tag geht er dann ganz allein mitten in die Wolke hinein und bleibt in der Gegenwart Gottes vierzig Tage und vierzig Nächte; er empfängt die beiden Gesetzestafeln, die Verordnungen, und die Anweisungen bezüglich der Stiftshütte.
Mose teilt dem Volk die Worte Gottes mit, und sie antworten dreimal: «Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun!» (2. Mo 19,8; 24,3.7). Aber ach! Sie vermochten in keiner Weise das Gesetz zu erfüllen. «Denn wenn ein Gesetz gegeben worden wäre, das lebendig zu machen vermöchte, dann wäre wirklich die Gerechtigkeit aus Gesetz» (Gal 3,21). Als sie sich so leichtfertig verpflichteten, seine Gebote zu halten, kannte das Volk in Wirklichkeit weder Gott noch sich selbst. Wozu, wird man sagen, ist denn das Gesetz? Eine Frage, auf die der Apostel in den Briefen an die Römer und an die Galater Antwort gibt: «Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde» (Röm 3,20); auch ist es unser Erzieher auf Christus hin gewesen (Gal 3,24).
Ein Kind verspricht leicht, seinen Eltern immer gehorchen zu wollen. Aber Gott wird erlauben, dass bestimmte Fälle eintreten, wo der Junge feststellen muss, dass er gefehlt hat; sein Gewissen wird berührt werden. Könnte es eine wahre Bekehrung geben, ohne dass in gewissem Mass eine Überzeugung von Sünde vorhanden ist? Muss man nicht zu einem Bewusstsein der Heiligkeit Gottes und der eigenen Sünde gebracht worden sein, um seinen verlorenen Zustand zu empfinden? Als der junge Jesaja in einem Gesicht in den himmlischen Tempel trat und den Herrn in seiner Herrlichkeit sah, rief er aus: «Wehe mir! Denn ich bin verloren; denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen, und inmitten eines Volkes mit unreinen Lippen wohne ich» (Jes 6,5). Für Petrus war es eine Ehre, den Herrn Jesus in seinem Schiff mitzunehmen. Als er aber auf der Tiefe des Sees den wunderbaren Fischfang feststellte und erfasste, dass sein Passagier niemand anders war als Gott selbst, da warf er sich zu den Füssen Jesu nieder und sagte: «Geh von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr» (Lk 5,8). Man muss sich vor die Zehn Gebote stellen und sich vor jedem einzelnen aufrichtig fragen: Habe ich es gehalten? Es genügt nicht, noch nie gestohlen zu haben; auch mit einem einzigen Wunsch, es zu tun, hat man schon das zehnte Gebot übertreten. Welcher junge Mann könnte sagen, dass die in Matthäus 5,28 erwähnte Begierde noch nie in ihm aufgestiegen wäre? Gibt es viele Knaben, die noch bei keinem Anlass ihren Bruder oder Kameraden als «Narren» behandelt haben? (Mt 5,22). Einer unserer jungen Freunde stellte, von diesem Wort getroffen, plötzlich fest, dass er, indem er seinen Bruder schon mehrere Male so betitelt hatte, die Hölle verdient habe. Was sollte man ihm darauf antworten? – Oh, das ist nicht so schlimm, du warst ein wenig wütend, dein Bruder hatte dich eben erzürnt? – Gewiss nicht, nach dem Wort Gottes ist ein solches Verhalten sehr ernst; der Herr Jesus verurteilt es, sich leichtfertig gegen seinen Bruder zu erzürnen. – Dann verdiene ich also die Hölle? – Gewiss. Wie wunderbar ist es dann, das Werk des Herrn Jesus vor das schuldbeladene Gewissen stellen zu können, der für unsere Vergehungen gebüßt, unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen und für das, was wir verdienten, die Strafe empfangen hat: «Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist» (Gal 3,13).
2. Der verhängnisvolle Zwischenfall des goldenen Kalbes
(2. Mose 32)
Als Aaron und das Volk das goldene Kalb machten, hatten sie eigentlich nicht im Sinn, den HERRN zu verlassen; sie übertraten dabei vielmehr das zweite Gebot: «Du sollst dir kein geschnitztes Bild machen noch irgendein Gleichnis dessen, was oben im Himmel und was unten auf der Erde ist … Du sollst dich nicht vor ihnen niederbeugen und ihnen nicht dienen.» Der Geist des Menschen neigt immer zur Verkörperung des Geistlichen. Er benötigt eine sichtbare Form, einen Gegenstand, den er, wenn auch nicht anbeten, so doch verehren kann. «Und als Aaron es sah, baute er einen Altar vor ihm; und Aaron rief aus und sprach: Ein Fest dem HERRN ist morgen!» (2. Mo 32,5). Sie erniedrigten den HERRN zum Rang der Götter Ägyptens hinab: «Das ist dein Gott».
Der Götzendienst entwürdigt den Menschen, er führt ihn zur Zügellosigkeit (Vers 25), zu Schwelgereien und zur Ausschweifung (Vers 6). Es genügt, Römer 1 zu lesen, um sich davon zu überzeugen. Und nichts ist ernster als den Namen Gottes mit dem Götzendienst zu verbinden.
Was wird die Haltung Moses sein vor einer solchen Lage?
a) Moses Fürbitte
Auf dem Gipfel des Berges gibt ihm der HERR Kenntnis von dem, was sich ereignet hat (Verse 7-10). Mose, gegen den das Volk schon so manchmal gemurrt hat, könnte die Gelegenheit ergreifen und den göttlichen Vorschlag annehmen, der ihn auf die Probe stellt: Soll er den Zorn Gottes gegen das Volk entbrennen lassen, damit sie vernichtet werden und er, Mose selbst, zu einer grossen Nation gemacht wird? Aber der Gesetzgeber hat die Interessen seines Gottes zu sehr am Herzen, als dass er so handeln könnte. Sogleich fleht er den HERRN an und führt zwei entscheidende Gründe für die Verschonung Israels an. Erstens, was würden die Ägypter sagen, wenn das Volk von der Fläche des Erdbodens vertilgt würde? Sie würden über das Unvermögen des Gottes Israels frohlocken! Zweitens hatte der HERR den Erzvätern sichere Verheissungen gegeben, ihre Nachkommen zu mehren und ihnen das Land Kanaan zu geben. Was würde aus der Erfüllung dieser feierlichen Verheissung?
Verhält es sich mit der Fürbitte, die wir für unsere Geschwister ausüben können, nicht ähnlich? Wir dürfen uns dabei an Gottes Treue erinnern, an seine Verheissungen, seine Gerechtigkeit gegenüber Christus («Er ist treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt»); anderseits sollen wir dabei auch an das Zeugnis denken, das die Christen vor der Welt abzulegen haben.
b) Moses Zorn
Mose sieht das Kalb und die Reigentänze (Vers 19). Da entbrennt sein Zorn, ein gerechter Zorn und nicht ein Ausbruch fleischlicher Gefühle. Er zerbricht die Tafeln des Gesetzes: Kaum erlassen, ist es ja schon gebrochen. Er nimmt das Kalb, zermalmt es zu Staub, und lässt die Kinder Israel das damit überstreute Wasser trinken: Sie sollten sich in ihrem Innern der Schwere ihrer Sünde bewusst werden. Wenn wir uns schwer verfehlt haben, müssen wir dies einsehen lernen und die Sünde vor Gott bekennen, dabei aber auch in der Tiefe unserer Seele den Ernst der Sünde empfinden und den Abscheu Gottes ihr gegenüber. Mose auferlegt den Leviten die schreckliche Aufgabe, die zu erschlagen, die sich offensichtlich besonders dem Götzendienst hingegeben hatten, auch wenn es ihre Brüder, ihre Nachbarn und ihre engsten Freunde waren. 3000 Menschen fielen auf diese Weise – trauriger Gegensatz zu dem ersten Tag, an dem das Evangelium verkündigt werden wird und wo 3000 Seelen zum Herrn geführt werden (Apg 2,41).
c) Moses Fürsprache
Anderntags hatten sich die Erregung und der Zorn beruhigt. Wird Mose nun sagen: Gestern war ich erzürnt, aber eigentlich war das Böse nicht so schlimm? Ganz im Gegenteil; mit tiefem Schmerz bestätigt er: «Ihr habt eine grosse Sünde begangen.» Im Innern seines Herzens hat er die Sache erwogen; er will zu dem HERRN hinaufsteigen, und sagt zum Volk: «Vielleicht kann ich Sühnung für eure Sünde tun» (Vers 30). Er teilt nicht mit, welches Mittel er dazu verwenden wird; er ist nicht einmal sicher, ob er damit Erfolg hat.
Vor dem HERRN anerkennt Mose, vom Schmerz überwältigt, dass das Volk eine grosse Sünde begangen hat. Er fügt hinzu: «Und nun, wenn du ihre Sünde vergeben wolltest! …», ohne den Satz vollenden zu können; er weiss wohl, dass Gott nicht vergeben kann, wenn nicht Sühnung erfolgt ist. Daher fügt er hinzu, was er schon bei sich selbst beschlossen hat: «Lösche mich doch aus deinem Buch, das du geschrieben hast.» Er opfert sich selbst als Sühnung für das Volk. Aber er hat noch nicht gelernt, was der Psalmist später feststellen muss: «Keineswegs vermag jemand seinen Bruder zu erlösen, nicht kann er Gott sein Lösegeld geben» (Ps 49,8).
Aber Gott vergibt dennoch! Er kann zwar nicht annehmen, dass Mose für das Volk bezahlt: «Wer gegen mich gesündigt hat, den werde ich aus meinem Buch auslöschen.» Wenn Er die Sünde erträgt, so ist es, weil Er sein Auge auf das Kommen eines anderen richtet, der sich selbst zum Opfer geben wird; er wird Ihn als ein Sühnmittel darstellen, damit Gott «gerecht sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesus ist» (Röm 3,24-26). Die «vorher geschehenen Sünden» des Volkes, die während der ganzen Zeit des Alten Testaments verübt worden sind, konnte Gott in voller Gerechtigkeit «hingehen lassen», im Blick auf das vollkommene Opfer, das zur bestimmten Zeit offenbart werden sollte.
Gott ist also gerecht, wenn Er hier dem Volk vergibt. Er bleibt seinen Verheissungen gegenüber treu (2. Mo 33,1), auch hält Er seine Herrlichkeit gegenüber den Ägyptern aufrecht; aber in seinen Regierungswegen muss Er die Seinen doch züchtigen; Er zieht seine Gegenwart aus ihrer Mitte zurück (2. Mo 33,3)
3. Das Zelt der Zusammenkunft
(2. Mose 33,7-11)
Als Folge der Sünde des Volkes entfernt sich Gott: «Ich werde einen Engel vor dir hersenden … Ich werde nicht in deiner Mitte hinaufziehen» (2. Mo 33,2-3). Das Volk vernimmt dieses böse Wort, es trauert, und keiner legt seinen Schmuck an.
Was war in einer solchen Lage zu tun? Das Lager war in Zügellosigkeit geraten. Gottes Gegenwart wird sich daraus zurückziehen. Und Mose hatte doch auf dem Berg soeben die Unterweisungen zum Bau der Stiftshütte empfangen, wonach die Wohnung Gottes den Mittelpunkt einnehmen und das Volk sich rings herum lagern würde!
Mose fühlte wohl, dass dies angesichts der Unordnung unter dem Volk nicht mehr möglich ist. Sollte er für die, die den HERRN fürchten, auf jede Kundgebung der Gegenwart Gottes verzichten? Nein, Mose nimmt ein Zelt und richtet es für sich selbst ausserhalb des Lagers, fern vom Lager auf und nennt es das Zelt der Zusammenkunft. Alle, die den HERRN suchen, gehen zum Zelt hinaus. Als sich Mose selbst dahin begab, «erhob sich das ganze Volk, und sie standen, jeder am Eingang seines Zeltes; und sie schauten Mose nach, bis er in das Zelt trat» (Verse 7.8). Es gab also zwei Personengruppen: Solche, die den HERRN suchten und zum Zelt hinausgingen; und andere, die nur vom Eingang ihres eigenen Zeltes aus dorthin blickten.
Haben wir in Hebräer 13,13 nicht eine ähnliche Unterweisung: «Lasst uns zu ihm hinausgehen, ausserhalb des Lagers, seine Schmach tragend»? Die Christenheit gleicht heute wegen all der Vermischung und den Irrtümern, die sie erfüllen, in vieler Hinsicht dem Lager Israels; auch heute ist es möglich, aus dem Lager hinauszugehen und, in Ausführung von 2. Timotheus 2,19-22, sich einfach zum Namen des Herrn Jesus hin zu versammeln und auf seine Verheissung zu zählen: «Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte» (Mt 18,20). Wie damals, folgen auch heute nicht alle dieser Aufforderung; nur eine kleine Zahl sammelt sich zum Herrn hin, aber sie kann auf die Verheissung seiner Gegenwart rechnen. «Und es geschah, wenn Mose in das Zelt trat, so stieg die Wolkensäule herab und stand am Eingang des Zeltes; und der HERR redete mit Mose.» Das ganze Volk kann erkennen, dass die Gegenwart Gottes sich dort draussen offenbart, und nicht mehr in der Mitte des Lagers. Der treue Knecht selbst findet eine Gemeinschaft, wie er sie noch nie gekannt hat: der HERR spricht mit ihm «von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freund redet».
Mose legt nun auf einem neuen Boden Fürsprache ein: Auf dem Grundsatz der Gnade; im Bewusstsein, dass er selbst ein Gegenstand der Gunst Gottes ist, fleht er zu dem HERRN, diese Gnade auf das ganze Volk zu erstrecken. Er empfängt die wunderbare Antwort: «Mein Angesicht wird mitgehen, und ich werde dir Ruhe geben.» Aber das würde nicht genügen. Wenn Mose in den Augen des HERRN Gnade gefunden hat, so beharrt er darauf, dass Gott mit ihm und mit seinem Volk gehe. Schliesslich neigt sich der HERR zu seinem Gebet: «Auch dies, was du gesagt hast, werde ich tun; denn du hast Gnade gefunden in meinen Augen» (Vers 17).
Die Vision der Gnade
Zutiefst erwärmt durch diese Vertrautheit mit Gott drückt Mose nun den brennenden Wunsch aus, die Herrlichkeit seines Angesichtes zu sehen. Aber der Augenblick war noch nicht gekommen, wo die Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi leuchten würde (2. Kor 4,6). der HERR muss zu seinem Diener sagen: «Du vermagst nicht mein Angesicht zu sehen, denn nicht kann ein Mensch mich sehen und leben.» Aber wenn auch die Herrlichkeit noch nicht offenbart werden kann, so sagt der HERR doch: «Ich werde alle meine Güte vor deinem Angesicht vorübergehen lassen.»
In die Felsenkluft gestellt, allein im Heiligtum der göttlichen Gegenwart, empfängt Mose eine neue Offenbarung von Gott, dem er bis dahin so treu nachgefolgt ist. Beim Dornbusch hat er Ihn als den kennengelernt, der unveränderlich ist: «Ich bin, der ich bin.» In Ägypten hat sich ihm Gott als Gott der HERR, den Gott des Bundes kundgetan. Am Sinai hat er das Gesetz vom gerechten und heiligen Gott empfangen. Aber in der Felsenkluft lernt er nun das Wesen dessen kennen, der Gnade ist: «HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und gross an Güte und Wahrheit, der Güte bewahrt auf Tausende hin, der Ungerechtigkeit, Übertretung und Sünde vergibt» (2. Mo 34,6.7).1
- In der Verborgenheit des Tempels lernt später Jesaja die Gnade kennen, die seine Ungerechtigkeit wegnimmt und für seine Sünde Sühnung tut (Jes 6,7).
- In dem Gesicht am Horeb hat auch Elia im Ton des leisen Säuselns die sanfte Stimme gehört, die sein Herz berührt (1. Kön 19,12).
- Im Tempel Jerusalems sieht Paulus den, der ihn weit weg, zu den Nationen sendet (Apg 22,21).
- Und in dem Licht des Auferstehungsmorgens, allein im Garten von Joseph von Arimathia, wirft sich Maria Magdalene zu den Füssen ihres auferstandenen Herrn nieder (Joh 19.16.17).
Man begreift, dass der vom Berg herabgestiegene Mose nicht mehr derselbe ist. Die neuen Gesetzestafeln sind in seiner Hand. Sie sind nicht zerschlagen, sondern werden in die Lade gelegt, die ein Bild von Christus ist. Er kommt nicht mehr, um die Schuldigen zu bestrafen und Schrecken im Lager zu verbreiten. Die Haut seines Angesichts glänzt und lässt die geschaute Güte und Gnade widerstrahlen: Er hatte «mit Ihm geredet». Aaron und das Volk, zuerst erschreckt, nähern sich ihm, aber Mose legt eine Decke auf sein Angesicht: Die Zeit war noch nicht gekommen, wo die Herrlichkeit der Gnade völlig offenbart werden konnte. Selbst heute noch liegt die Decke auf dem Herzen des Volkes Israel (2. Kor 3,15).
Gott hat die Erkenntnis seiner Herrlichkeit im Angesicht Christi leuchten lassen. Wir alle, die wir den Herrn Jesus kennen, können mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauen und so von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, nach demselben Bilde verwandelt werden, als durch den Herrn, den Geist (2. Kor 3,18). Haben wir die Einzelheiten dieses wunderbaren Verses schon beachtet: Wir alle … werden verwandelt werden? Dies ist nicht das Vorrecht eines besonderen Menschen, wie Mose es war, noch die Auszeichnung eines hervorragenden Dieners, sondern für alle ist die wunderbare Vision da: Es gibt für uns keine Decke mehr … Aber noch braucht es Zeit und ein Herz dazu, um Ihn zu betrachten!
- 1Diese Offenbarung Gottes hier steht jedoch noch in Verbindung mit seiner Regierung der Welt: «… aber keineswegs hält er für schuldlos den Schuldigen –, der die Ungerechtigkeit der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, an der dritten und an der vierten Generation.» Das Evangelium hingegen stellt uns Ihn in den Worten dar: «Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Christus und uns den Dienst der Versöhnung gegeben hat: Nämlich dass Gott in Christus war, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend, und er hat in uns das Wort der Versöhnung niedergelegt» (2. Kor 5,18.19). (C. H. Mackintosh)