V. Vom Sinai nach Kades
(Das zweite Jahr)
Am ersten Tag des ersten Monats des zweiten Jahres nach dem Auszug aus Ägypten wurde die Wohnung aufgerichtet (2. Mo 40,1). Verschiedene Ereignisse folgten sich nun:
- Die Salbung der Priester, die Opfergabe der Fürsten (4. Mose 7);
- das Passah (4. Mose 9);
- am ersten Tag des zweiten Monats nimmt Mose die Zählung der Männer vor, «die zum Heer auszogen» (4. Mo 1,3).
Am zwanzigsten Tage des zweiten Monats dieses zweiten Jahres erhebt sich sodann die Wolke von der Wohnung des Zeugnisses (4. Mo 10,11). Die Kinder Israel verlassen die Wüste Sinai «zum ersten Mal» nach der durch den HERRN vorgeschriebenen Marschordnung. Sechs Stämme gehen der Lade und dem Heiligtum voraus; sechs Stämme bilden die Nachhut.
1. Augen in der Wüste
(4. Mo 10,29-36)
Die Wolke leitete die Bewegungen des Volkes (4. Mo 9,15-23). Musste das Lager aufbrechen, so bliesen die Priester die Trompeten (4. Mo 10,1-8). Der HERR hatte für alles Vorsorge getroffen und seine Gegenwart begleitete Israel.
Weshalb denn wünscht Mose eine menschliche Hilfe in der Person seines Schwagers Hobab? – Weil der Midianiter die Wüste und die Orte, wo man lagern konnte, sehr gut kannte! Gewiss, Mose war es auch darum zu tun, ihn an dem Guten, «das der HERR an uns tun will», teilnehmen zu lassen. Tatsächlich ging ja nicht Hobab dem Volk voraus, um einen Lagerplatz auszukundschaften; die Lade selbst war es, die ihren gewohnten Platz inmitten der Stämme verliess, um ihnen drei Tagesreisen weit voranzureisen und ihnen einen Ruheort zu erkunden! Die Wolke der göttlichen Gegenwart bestätigte durch ihr Mitgehen jeden Ortswechsel, als Folge der ausharrenden Fürsprache Moses (2. Mose 33), ungeachtet des Mangels an Vertrauen, den er jetzt in seiner Zufluchtnahme zu Hobab bewiesen hatte.
Ist es für uns nicht auch so? In Johannes 10 führt der gute Hirte seine eigenen Schafe heraus und «geht vor ihnen her»; die Schafe folgen Ihm, weil sie seine Stimme kennen. Welch kostbare Erfahrung, die man jederzeit machen kann: Er geht vor uns her! Ein unbekannter Lebensabschnitt öffnet sich, eine neue Zeit des Studiums, ein Aufenthalt in der Fremde, ein Stellenwechsel im Beruf … «Er geht vor uns her.» Lasst uns lernen, Ihm zu vertrauen und uns auf Ihn zu stützen! Die Lade geht dem Volk «drei Tagereisen» voraus. Keinerlei Notwendigkeit, sich zu beeilen; nur ruhig auf dem so bezeichneten Wege ihr nachfolgen. «Wer glaubt, wird nicht ängstlich eilen» (Jes 28,16). Möchten auch wir für uns selbst die Verheissung des Psalmisten erfassen: «Ich will dich unterweisen und dich den Weg lehren, den du wandeln sollst; mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten» (Ps 32,8). Die aus dem Wort Gottes geschöpfte Belehrung soll in der Gemeinschaft mit dem Herrn praktisch angewandt werden.
2. Die Last dieses ganzen Volkes
(4. Mo 11,10-17.24-29)
Das vierte Buch Mose, das Buch der Wüste, ist auch das des Murrens! Wie manches Mal beschwerten sich doch die Israeliten, wie oft weinten und klagten sie! In unserem Kapitel «beklagte sich das Volk … Das Volk schrie zu Mose … Das Mischvolk, das in ihrer Mitte war, wurde lüstern, und auch die Kinder Israel weinten wiederum … Mose hörte das Volk … jeden am Eingang seines Zeltes weinen …»
Es ist verständlich, dass der Führer dieses beständigen Gejammers überdrüssig wurde, das übrigens die Züchtigung des HERRN auf das Volk herabzog. Mose breitete vor Ihm seine Klage aus und sagte: «Warum? Warum? … Sie weinen gegen mich … Ich allein vermag dieses ganze Volk nicht zu tragen, denn es ist mir zu schwer.»
In 2. Mose 18 hatte Jethro, der Schwiegervater Moses, ihm den Rat gegeben, sich bei der Rechtsprechung durch die Obersten über die Tausende, über die Hunderte, über die Fünfzig und über die Zehn helfen zu lassen. Diese Männer sollten das Volk zu jeder Zeit richten und nur die grossen Fälle vor ihren Führer bringen. Mose sollte für sie vor Gott sein, die Angelegenheiten vor Ihn bringen und ihnen anderseits die Satzungen und die Gesetze erläutern. Er hatte diesen Rat, für den er die Billigung Gottes einholte (2. Mo 18,23) befolgt. Er nimmt in 5. Mose 1,9-18 darauf Bezug, ohne sich ungünstig darüber zu äussern. Wir haben in 1. Korinther 6,4 vielleicht ein Gegenstück dazu.
In unserem Kapitel handelte es sich nicht darum, Recht zu sprechen und Streitigkeiten zu schlichten, sondern mehr um das Tragen der Bürde der Verantwortung. Aber da war kein Zweifel, Gott war mächtig, Mose in der ihm auferlegten Aufgabe, das Volk zu führen, in jeder Weise zu helfen.
Aus dem Neuen Testament geht klar hervor, dass es im heutigen Volk Gottes nicht nach seinen Gedanken ist, wenn ein einzelner Mensch die ganze Verantwortung oder den ganzen Dienst in einer Versammlung übernimmt. Die Entscheidung in Apostelgeschichte 15 wurde nicht durch einen einzelnen Apostel getroffen, so hervorragend er auch war, sondern durch «die Apostel und die Ältesten samt der ganzen Versammlung» (Apg 15,22). Auch sehen wir, dass Paulus mehrere «Mitarbeiter» hatte (Phil 4,3; Kol 4,11 usw.), die er da und dorthin sandte oder die ihn auf seinen Reisen begleiteten. Besonders 1. Korinther 12, Römer 12 und Epheser 4 zeigen uns, dass im Leib Christi jedes Glied, jedes Gelenk seinen besonderen Dienst hat und dass alle zum Wohl des ganzen Leibes mitwirken. Der Herr allein teilt durch den Geist die verschiedenen Gaben aus, nicht nur die grundlegenden Gaben der Hirten und Lehrer, der Evangelisten und Propheten, sondern auch Gnadengaben zu allen Arten von Tätigkeiten, die ausserdem im Leib und im Werk zu erfüllen sind. Nicht alle haben dieselbe Befähigung, aber alle Glieder sollen dieselbe Sorge füreinander haben: «Je nachdem jeder eine Gnadengabe empfangen hat, dient einander damit als gute Verwalter der mannigfaltigen Gnade Gottes» (1. Pet 4,10).
Daher, wenn es auch vonseiten Moses nicht angezeigt war, sich so vor Gott zu beschweren, können wir doch annehmen, dass es eine Antwort der Gnade Gottes war, ihm siebzig Älteste zur Seite zu geben, um mit ihm die Last des Volkes zu tragen. Auf jeden Fall hat Mose diese Anordnung nicht übel aufgenommen, im Gegenteil. Als Josua Eldad und Medad verhindern wollte, im Lager zu weissagen, antwortete Mose: «Eiferst du für mich? Möchte doch das ganze Volk des HERRN Propheten sein, dass der HERR seinen Geist auf sie legte!» (4. Mo 11,29). Er begehrte keineswegs, der einzige Kanal des Geistes Gottes zu sein. In 1. Korinther 12,21 wird uns gesagt: «Das Auge aber kann nicht zu der Hand sagen: Ich brauche dich nicht; oder wiederum das Haupt zu den Füssen: Ich brauche euch nicht.» Jeder hat vom Herrn einen Dienst empfangen, um ihn zu erfüllen; ich kann ihn nicht auf andere abwälzen, noch darf ich die Funktion, die Gott anderen anvertrauen mag, gering schätzen oder sie nachzuahmen suchen. Aber alle sind berufen, in der Abhängigkeit vom Herrn im Werk «mitzuwirken und zu arbeiten» (1. Kor 16,16), in gegenseitiger Unterordnung und Achtung (Phil 2,4; Röm 12,3)! Es handelt sich nicht um eine Zusammenarbeit, wie man sie in einer menschlichen Organisation findet, sondern um eine Mitarbeit in einem lebendigen Organismus, in dem jeder den ihm von seinem Meister bezeichneten Platz einnimmt (Eph 4,16). Heute haben wir dabei 2. Tim 2,19-26 zu beachten!
3. Die bittere Enttäuschung von Kades
(5. Mo 1,19-46; 4. Mose 13 und 14)
«Elf Tagereisen sind es vom Horeb … bis Kades-Barnea» (5. Mo 1,2): Wenige Tage hätten genügt, um zur Grenze des Landes zu gelangen; jedoch finden wir das Volk erst nach mehr als 38 Jahren seit dem Weggang vom Sinai in Bereitschaft, das Land in Besitz zu nehmen (5. Mo 2,14). Die geistlichen Fortschritte einer Seele können rasch sein; aber oft gehen Jahr um Jahr durch Mangel an Glauben, Mangel an Wachsamkeit, Mangel an Liebe zum Herrn verloren.
Kades-Barnea befand sich an der Grenze von Kanaan und war der Ausgangspunkt zu dessen Eroberung. Mose erinnert in 5. Mose 1 daran. Nach der «grossen und schrecklichen Wüste», die sie durchwandert hatten, blieb den Israeliten nur noch übrig, sich mutig Palästinas zu bemächtigen. «Und ich sprach zu euch: Ihr seid bis zum Gebirge der Amoriter gekommen, das der HERR, unser Gott, uns gibt. Siehe, der HERR, dein Gott, hat das Land vor dich gestellt; zieh hinauf, nimm in Besitz, so wie der HERR, der Gott deiner Väter, zu dir geredet hat; fürchte dich nicht und verzage nicht!» (5. Mo 1,20.21). Man spürt aus diesen Worten die ganze Erleichterung heraus, die Mose darin empfand, das Volk bis dahin gebracht zu haben, durch die verschiedenen schwierigen Teilstrecken der Wüste hindurch bis zur Grenze Kanaans. Noch einige Anstrengungen, und er würde durch die Güte Gottes bald die schwere Last der Verantwortung ablegen und die Ruhe geniessen können.
Warum kam es anders?
a) Die Aussendung der Kundschafter
Das Volk begeht den Fehler, dass es Kundschafter aussenden will, um das Land in Augenschein zu nehmen (5. Mo 1,22). Genügt es ihnen denn nicht, dass Gott ihnen zugesichert hat, das Land fliesse von Milch und Honig, und Er werde sie bei dessen Einnahme begleiten? Nein, sie wollen, dass Männer «uns» das Land erforschen und «uns» Bescheid bringen. Nach 4. Mose 13 entsprach der HERR diesem Verlangen des Volkes und gebot Mose, sie zu senden. Er wird ihr Herz prüfen, ob sie geneigt sind, sich auf Ihn zu verlassen oder nicht.
b) Der Bericht der Kundschafter
Der zweite Fehler war der, den Bericht der Fürsten anzunehmen. Diese stellen fest, dass Kanaan den Verheissungen Gottes entspreche: «Wir sind in das Land gekommen … und wirklich, es fliesst von Milch und Honig» (4. Mo 13,27). Sie beeilen sich aber hinzuzufügen, dass das Volk, das darin wohnt, sehr stark sei; die Städte seien befestigt, sehr gross. Sie beschreiben das Land und entmutigen die Kinder Israel völlig, es sich zu erobern.
Kaleb erhebt kühnen Einspruch: Nehmen wir es in Besitz, wir sind durchaus fähig dazu! Anderntags gibt auch Josua seiner Überzeugung Ausdruck: Fürchtet nicht das Volk des Landes, der HERR ist mit uns!
Wird Israel auf die Zehn hören, die sie entmutigen, oder auf die zwei Männer des Glaubens, die auf den HERRN vertrauen und ihnen den Sieg zusichern?
Wie ist es bei uns? Sind wir von denen, die «das Land» empfehlen, oder von denen, die die Seelen von der Nachfolge des Herrn zurückziehen? Die Brüder kritisieren, Schlechtes von ihnen sagen und ihren Dienst am Wort herabsetzen, ein Beispiel geben in der Vernachlässigung des Besuches der Zusammenkünfte und vieles anderes mehr; sind das nicht alles Dinge, die unsere Geschwister entmutigen, die geistlichen Segnungen, die Gott uns gegeben hat in Besitz zu nehmen? Möchten wir doch alle wünschen, Josuas und Kalebs zu sein, die mit Gott rechnen, um in Besitz zu nehmen, was Er uns gegeben hat, und auch um andere anzuspornen, es zu tun.
c) Das Volk hört auf die Kundschafter
Das Volk hört auf die zehn Kundschafter. Die ganze Nacht erheben sie ihre Stimme, schreien und weinen, und am Morgen verwerfen sie Mose, um ein Haupt über sich zu setzen und nach Ägypten zurückzukehren. Von Josua und Kaleb sagt die ganze Gemeinde, dass man sie steinigen solle.
Welch eine schreckliche Stunde für Mose! Vielleicht die dunkelste seines Lebens. Wie viele Male ist er doch schon für dieses Volk eingetreten! Er hat sich sogar für sie zum Opfer gestellt, um Sühnung für sie zu tun, wenn dies möglich gewesen wäre. Mit Treue und Beständigkeit hat er sie bis zur Grenze des verheissenen Landes geführt. Jetzt verwerfen sie ihn und wollen nach Ägypten zurückkehren!
Der HERR prüft abermals seinen Knecht, indem Er ihm vorschlägt, das Volk zu vertilgen und ihn an dessen statt zu einer Nation zu machen, grösser und stärker als sie. Aber Mose will nicht allein ins Land eintreten und dabei sowohl seine Brüder als auch die Ehre Gottes preisgeben (4. Mo 14,16). Er fleht den HERRN an, ein weiteres Mal zu vergeben, «nach der Grösse deiner Güte, und so wie du diesem Volk verziehen hast von Ägypten an bis hierher!» (4. Mo 14,19). – «Und der HERR sprach: Ich habe vergeben nach deinem Wort.» Aber Mose wird sich der Züchtigung unterwerfen müssen, die das Volk wegen seines Unglaubens treffen wird.
Das ganze Geschlecht, das aus Ägypten heraufzog, wird in der Wüste umkommen. Der treue Diener will lieber 38 Jahre lang mit dem Volk Gottes Ungemach leiden, als dessen Vertilgung erleben und sich selbst in Ehren sehen. Er beugt sich, um mit ihnen die Züchtigung, die er nicht verdient hat, zu ertragen. Einen um den anderen seiner Gefährten des Auszuges wird er in der dürren Einöde als Leichname hinfallen sehen. Wie er nun meint, werden nur vier Überlebende von ihnen allen: Mose, Aaron, Josua und Kaleb, ins verheissene Land eingehen, nach 38 mühevollen Jahren.
Selbst als viele sich widersetzen und in eigener Kraft auf den Gipfel des Berges hinaufzusteigen suchen, unterwirft sich Mose der göttlichen Züchtigung und bleibt im Lager. Dann folgt das, woran er sich später mit tiefer Betrübnis erinnert: «Und wir wandten uns und brachen auf in die Wüste, den Weg zum Schilfmeer, wie der HERR zu mir geredet hatte» (5. Mo 2,1).
Auf die heutigen Verhältnisse angewandt, ist es oft ähnlich. Haben wir uns nicht zu demütigen und uns unter die Hand Gottes zu beugen, der sein Volk mit Züchtigung heimsucht, selbst wenn wir persönlich nicht direkt am Fehler, der das göttliche Eingreifen hervorrief, Anteil haben?