Einleitung
In dieser Artikelserie werden die Weissagungen Jeremias nur kurz zusammengefasst. Es geht hier mehr um seine Person. Denn dieser Knecht Gottes, der sein Leben lang in treuem Gehorsam die von dem HERRN empfangene Botschaft seinem widerspenstigen und abtrünnigen Volk ausrichtete, kann uns in verschiedener Hinsicht zum Vorbild und zum Ansporn sein.
Wir leben zwar unter den Nationen der Christenheit und haben den Auftrag, den Menschen das Evangelium des Christus, eine herrliche Frohbotschaft zu überbringen (Mk 16,15). Aber auch wir begegnen dabei der Gleichgültigkeit, ja dem Widerspruch und der Feindschaft der «Söhne des Ungehorsams», die nach dem Willen des Fleisches und der eigenen Gedanken leben wollen. Selbst Gläubige, die den schmalen Pfad verbreitern möchten, hören das Wort der Wahrheit nicht immer gern.
Aber wenn ein Jeremia sich weder durch schärfsten Widerstand noch durch Verfolgung und Leiden abhalten liess, das Wort Gottes dem Volk zu verkündigen, wie viel weniger haben dann wir Ursache, uns dem vom Herrn erteilten Auftrag zu entziehen, auf die dabei ja nur ein wenig von der Schmach des Christus fällt! Möge uns Jeremias Beispiel zum Segen sein!
Seine Herkunft
Jeremia war, wie die Propheten Hesekiel und Sacharja, der Sohn eines Priesters (Jer 1,1; Neh 12,16). Er wurde in Anatot auferzogen, der Stadt, die den Söhnen Aarons gegeben worden war (Jos 21,18).
Konnte er in einer günstigeren Umgebung aufwachsen? Maleachi sagt doch von den Priestern: «Denn die Lippen des Priesters sollen Erkenntnis bewahren, und das Gesetz sucht man aus seinem Mund, denn er ist ein Bote des HERRN der Heerscharen» (Mal 2,7). Hilkija, sein Vater, war einer der Priester, die Gott treu geblieben waren (2. Chr 34). Jeremia hat unter ihm den HERRN früh fürchten gelernt; er betrat nicht den Weg der Abtrünnigen, sondern folgte dem Gott Israels in lebendigem Glauben nach. – Eines der zahlreichen Beispiele dafür, dass da, wo gläubige Eltern in Treue ihrer Verantwortung entsprechen, ein grosser Segen entstehen und auf die Kinder überfliessen kann.
Seine Berufung
Plötzlich geschah das Wort des HERRN zum jungen Jeremia persönlich: «Bevor ich dich im Mutterleib bildete, habe ich dich erkannt, und bevor du aus dem Mutterschoss hervorkamst, habe ich dich geheiligt: Zum Propheten an die Nationen habe ich dich bestellt» (Jer 1,4.5).
Wie einige andere Knechte – z.B. Simson, Johannes der Täufer, der Apostel Paulus – hat Gott auch Jeremia zu einer grossen Aufgabe berufen, noch ehe er geboren war.
Ob Er ihn im Blick darauf mit besonderen natürlichen Fähigkeiten ausgestattet hat, wissen wir nicht. Jeremia selbst hielt sich nicht dafür, gut reden zu können (Jer 1,6); auch scheint er überdurchschnittlich empfindsam gewesen zu sein – zwei Veranlagungen, die seinen ohnehin schwierigen Dienst noch schwerer machten. Aber Gott liebt es, sich durch schwache Werkzeuge zu verherrlichen, und die tiefe Empfindsamkeit half Jeremia, den bösen Zustand des Volkes noch besser zu erfassen, wenn er innerlich dabei auch unsäglich viel litt.
Eines vor allem hat Gott bewogen, gerade Jeremia zum Propheten zu berufen: Er «erkannte» zum Voraus (Jer 1,5), dass dieser Mann in nie wankender Treue und unablässigem Gehorsam vier Jahrzehnte lang sein Wort übermitteln würde, auch wenn die Botschaft dem Menschenverstand nutzlos oder unzeitgemäss erschien. Was wir erst am Lebensende eines Menschen feststellen können, ist Gott schon vor dessen Lebensbeginn offenbar. Bevor z.B. Abraham den Sohn empfangen hatte, «erkannte» Gott schon, «dass er seinen Kindern und seinem Haus nach ihm befehle, damit sie den Weg des HERRN bewahren …» (1. Mo 18,19).
Die Zeit, in die der Dienst Jeremias fiel
Das Wort des HERRN geschah zu ihm «in den Tagen Josias … des Königs von Juda, im dreizehnten Jahr seiner Regierung … bis zum Ende des elften Jahres Zedekias … bis zur Wegführung Jerusalems im fünften Monat», so lesen wir am Anfang dieses Buches (Jer 1,2.3). Anschliessend daran weissagte er noch unter dem kleinen jüdischen Überrest, der, entgegen dem Wort des HERRN, aus Furcht vor den Chaldäern nach Ägypten geflohen war, wie in den Kapiteln 39-45 berichtet wird. Die Führer dieses Überrestes hatten ihn gezwungen, sie dorthin zu begleiten (Jer 43,6).
Somit lebte der Prophet Jeremia vierzig Jahre lang unter dem Volk der Juden in Jerusalem und eine kurze Zeit unter den ungehorsamen jüdischen Flüchtlingen in Ägypten. Im Unterschied zu Hesekiel und Daniel, den Propheten in der babylonischen Gefangenschaft, war es die Aufgabe Jeremias, dem Volk der Juden in Jerusalem, das sich im denkbar schlechtesten Zustand befand, das Gericht der siebzigjährigen Gefangenschaft, aber auch die Zurückführung eines geläuterten Überrests anzukündigen. Mehr als 100 Jahre früher waren die zehn Stämme in die assyrische Gefangenschaft weggeführt worden. Nun aber war das Böse auch unter Juda und Benjamin ausgereift (vgl. Jer 3,6-10), obwohl sich Gott früh aufgemacht hatte, um zu ihren Herzen zu reden und sie zu warnen (siehe Jer 25,3.4. und viele andere Stellen). Sie hatten nicht auf Ihn gehört. Da war vorauszusehen, dass Jeremia durch das Ausrichten einer solchen Botschaft seitens des von Gott abgefallenen Volkes der heftigste Widerspruch, schlimme Feindschaft und Verfolgung erwachsen würde. Sie sahen ihre Schuld nicht ein, wollten nicht umkehren von ihren bösen Wegen und sich nicht unter die züchtigende Hand Gottes beugen. Sie hörten lieber auf die Worte falscher Propheten, die Trug redeten und sagten: Binnen zwei Jahren wird der HERR das Joch des Königs von Babel zerbrechen (Jer 28,3.4).
Gesinnungsgenossen Jeremias
Die Treuen im Volk waren in jenen Tagen sehr gering an Zahl. Anfänglich schien es zwar nicht so. Jeremias Prophetendienst begann doch im dreizehnten Jahr der Regierung Josias, des gottesfürchtigen Königs. Wie uns in 2. Chronika 34 und 35 berichtet wird, hatte dieser ein Jahr zuvor begonnen, «Juda und Jerusalem von den Höhen und den Ascherim und den geschnitzten und den gegossenen Bildern zu reinigen» (2. Chr 34,3). Dasselbe tat er sogar auch im Zehnstämmereich Israels, das nur noch von einem kleinen Überrest bewohnt war. Fünf Jahre später reinigte Josia das Haus Gottes und stellte es wieder her. Im Anschluss daran liess er alle in Jerusalem und Benjamin in den Bund Gottes treten und hielt auch alle, die sich in Israel befanden, dazu an, dem HERRN ihrem Gott zu dienen. Im selben Regierungsjahr feierte Josia auch zur bestimmten Zeit das Passah dem HERRN, in einem solchen Ausmass, wie es seit den Tagen Samuels in Israel nicht mehr gefeiert worden war.
Aber trotz all diesem Eifer Josias für Gott und seine Sache stand nun der Tag vor der Tür, an dem Gott Unglück über diesen Ort und seine Bewohner bringen wollte, alle die Flüche des Gesetzes wegen ihres Abfalls von Ihm und wegen ihrer Abgötterei. Denn obwohl sie scheinbar auf die Anordnungen Josias eingegangen waren und ihm bei seinem grossen Reformationswerk geholfen hatten, taten sie doch keine Buße vor Gott. Solange Josia auf dem Thron sass, wichen sie wohl nicht ab «von der Nachfolge des HERRN, des Gottes ihrer Väter», aber es war nur äussere Form. Sie waren nicht mit ihrem ganzen Herzen zu Ihm zurückgekehrt, sondern nur «mit Falschheit» (Jer 3,10). Es ging weder Selbstgericht noch eine Verurteilung ihrer früheren Wege voraus.
Wie musste dieser gottesfürchtige und einflussreiche königliche Freund für Jeremia ein Trost und eine moralische Stütze gewesen sein in seinem schweren Prophetendienst gegenüber einem wachsenden und sich versteifenden Widerstand! – Oft ertappen wir uns dabei, dass uns einige treue Gesinnungsgenossen wichtiger sind als die Hilfe eines nie versagenden, allgegenwärtigen und allmächtigen Gottes! Und doch – wie leicht können selbst die treusten Freunde versagen und uns enttäuschen!
So nahm auch Josia im Alter von erst 39 Jahren ein plötzliches Ende, als er gegen den Pharao Neko ins Feld zog, ohne von Gott beauftragt worden zu sein. Ein schwerer Schlag für Jeremia! Wir begreifen, dass er bei der grossen Wehklage des Volkes im Tal Megiddo (2. Chr 35,22-25; Sach 12,11) aus tiefstem Herzen ein Klagelied über Josia anstimmte.
Als dann die gottlosen Söhne Josias nacheinander auf den Thron kamen, wurde Jeremia immer mehr zu einem Rufer in einer sittlichen Wüste. Wohl war da noch ein kleiner, gottesfürchtiger Überrest vorhanden, aber dieser besass keine Macht und hatte wenig Einfluss auf den König, auf die Fürsten und das Volk. Unter diesen ist Baruch zu nennen, der Freund und Gehilfe Jeremias, der nach allem tat, was der Prophet ihm gebot (Jer 36,8). Da waren auch einige Fürsten, auf die das Wort Gottes durch Jeremia Eindruck machte. Schliesslich hat sogar Ebedmelech (Jer 36,25), ein dunkelhäutiger Äthiopier, ein Eunuch im Haus des Königs, der auf den HERRN vertraute, sich in selbstvergessener Weise für Jeremia verwendet, als dieser in tiefster Not war (Jer 38).
Und wenn es schien, als ob die ernste Botschaft Jeremias, sein unermüdlicher Aufruf zur Buße, zur Umkehr und zur Beugung unter die Wege der Züchtigung Gottes, auf lauter taube Ohren fiel, dürfen wir da nicht an Daniel und seine drei tüchtigen Freunde denken? Auch sie hörten ja vor ihrer Wegführung, wie ganz Juda und Jerusalem, die Reden Jeremias. Und wenn diese vier jungen Männer schon bei ihrer Ankunft in Babel eine solch entschiedene, Gott wohlgefällige Haltung einnahmen, war dies dann nicht auch eine Frucht des Dienstes Jeremias zur Ehre Gottes unter den Nationen und zum Segen des weggeführten Volkes?
Wie Gott Jeremia zum Dienst ermunterte
Als Jeremia zum Dienst berufen wurde, war er sich der ganzen Schwere seiner Aufgabe bewusst. Die hingebenden Bemühungen Josias, um das Land vom Götzendienst zu reinigen, vermochten den treuen jungen Mann nicht über den unverändert bösen Zustand des Volkes zu täuschen. Er kannte ihre Wege, ihre Widerspenstigkeit und fürchtete sich vor ihnen (Jer 1,8). Er sagte zu Gott: «Ach, Herr, HERR, siehe, ich weiss nicht zu reden, denn ich bin jung» (Jer 1,6).
Schön ist, dass sich Jeremia seiner Mängel, seiner Schwachheit und seiner Unerfahrenheit bewusst war. Junge Menschen kennen sich sonst meist noch sehr wenig und sind daher leicht geneigt, sich zu überheben.
Falsch aber ist, vor einer deutlichen Berufung Gottes zurückzuschrecken. Da gilt es im Glauben und im Vertrauen auf Ihn zu gehorchen und keine Fragen zu stellen. Gott trägt dann die Verantwortung und wird das schwache Werkzeug seiner Wahl für die ihm auferlegte Aufgabe auszurüsten wissen.
So antwortete Gott Jeremia mit Bestimmtheit, aber auch in grosser Gnade: «Sage nicht: Ich bin jung; denn zu allen, wohin ich dich senden werde, sollst du gehen, und alles, was ich dir gebieten werde, sollst du reden. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin mit dir, um dich zu erretten … Ich lege meine Worte in deinen Mund.» Gott will ihn Schritt für Schritt leiten; Er will seine Worte in Jeremias Mund legen; Er will ihn aus der Hand aller Widersacher erretten. Genügt dies nicht vollauf?
Gott gibt ihm noch ein anderes Geleitwort mit auf den Weg: «Du aber gürte deine Lenden und mache dich auf» (Jer 1,17a).
Damit ist gewiss nicht nur das Aufschürzen des Mantels gemeint. Wenn es schon für uns alle wichtig ist, nach der Ermahnung des Petrus, «die Lenden unserer Gesinnung umgürtet» zu halten (1. Pet 1,13), so hätte deren Missachtung für den, der Gott dient, noch zusätzliche schlimme Folgen: Er würde unfähig zum Dienst. Denn dann würden fleischliche Überlegungen und weltliche Dinge Herz und Sinn erfüllen und seinen vertrauten Umgang mit Gott unterbrechen. Die Hingabe an Ihn und die Kraft im Dienst würden dadurch in grossem Mass geschwächt.
Schliesslich macht der HERR seinen jungen Knecht darauf aufmerksam, dass Verzagtheit vor den Menschen – eine Folge mangelnden Vertrauens in Ihn – zur Folge haben könnte, dass sich Gott hinter ihm zurückzieht. Dann aber hätte er wirklich Ursache, vor den Menschen verzagt zu sein (Jer 1,17b).
Zwei Gesichte für Jeremia
Der HERR liess nun Jeremia zwei Gesichte sehen, die ihm auf eindrückliche Weise die grosse Bedeutung und den Charakter der Weissagungen zeigen sollten, die Er ihm geben wollte.
Beim ersten Gesicht sah Jeremia einen Stab des Mandelbaumes, der auf Hebräisch «der Wachsame» heisst. Gott sagte ihm damit: «Ich werde über mein Wort wachen, es auszuführen» (Jer 1,11.12). Diesen göttlichen Ausspruch könnte man zwar als Titel über alle Weissagungen der Heiligen Schrift setzen. Doch scheint Gott durch diesen Stab eines Baumes, der früher als alle anderen Bäume zu blühen beginnt, Jeremia andeuten zu wollen, dass Er das Wort, das Er in seinen Mund legen würde, sehr bald ausführen wird. Wie musste das Wissen um diese Tatsachen für den jungen Propheten ein Ansporn sein, seine Botschaft in Treue auszurufen! – Möchten auch wir nie vergessen, dass Gott selbst hinter seinem Wort steht, um seine Verheissungen wahr zu machen, aber auch, um bald die angekündigten Gerichte auszuführen! Dieses Bewusstsein wird uns antreiben, das Evangelium den Menschen unermüdlich vorzustellen.
Im zweiten Gesicht sah Jeremia einen siedenden Topf, dessen Vorderteil gegen Süden gerichtet war (Jer 1,13-16). So soll, erklärt ihm der HERR, von Norden her (damit ist besonders Babylon gemeint – vgl. Jer 25,9-11) das Unglück über alle Bewohner des Landes losbrechen, als Gericht über ihre Bosheit und ihre Abgötterei. Die Ankündigung dieses Gerichts nimmt im Buch Jeremia einen grossen Platz ein und kennzeichnet somit seine Botschaft; diesem Ausdruck: «von Norden her» begegnet der Leser seines Buches immer wieder.
Gott bestellte diesen Propheten aber auch über die Nationen und über die Königreiche, um auszurotten und niederzureissen und zu zerstören und abzubrechen, aber auch um zu bauen und zu pflanzen (Jer 1,10). Beachte in diesem Zusammenhang besonders Kapitel 25,15-38 und die Kapitel 46 bis 51.
So begann nun Jeremia seinen Prophetendienst, der ihn unter dem eigenen Volk zu einem Märtyrer machte. Man verfolgte ihn und suchte ihn sogar zu töten. Aber Gott machte ihn (Jer 1,18)
- zu einer festen Stadt, die ein ganzes Heer von feindlich gesinnten Menschen nicht einnehmen konnte;
- zu einer eisernen Säule, die unerschütterlich das Zeugnis Gottes trug; und
- zu einer kupfernen Mauer der Absonderung gegen das Böse rings um ihn her.
Die Könige von Juda, die Fürsten, die treulosen Priester und das Volk des Landes werden gegen ihn streiten, ihn aber nicht zu überwältigen vermögen.