Gottes wunderbare Langmut
Mehr als 800 Jahre waren verflossen, seit Israel unter Josua in Kanaan, ins Land der Verheissung eingezogen war. Die «Ungerechtigkeit der Amoriter», die vorher darin gewohnt hatten, war «voll» geworden (1. Mo 15,16), und Israel hätte bei der Besitznahme des Landes das Gericht Gottes über sie ausführen und diese Völker vernichten und vertreiben sollen. Sie durften mit ihnen keinen Bund machen, damit ihnen diese nicht zum Fallstrick würden. Sie mussten die Götzenaltäre jener Heiden niederreissen, deren Bildsäulen zerbrechen und deren Ascherim ausrotten, um ja nie in Versuchung zu kommen, einen anderen Gott anzubeten und ihm zu dienen (2. Mo 34,12-17).
Entsprach ihr Verhalten diesen Anweisungen des HERRN? Leider nicht! Aus Psalm 106,34-36 geht hervor, dass sie gerade in diesen drei Hauptpunkten ungehorsam und untreu waren:
- «Sie vertilgten die Völker nicht, von denen der HERR ihnen gesagt hatte;
- sie vermischten sich mit den Nationen und lernten ihre Werke;
- sie dienten ihren Götzen, und sie wurden ihnen zum Fallstrick.»
Da musste sich die Weissagung Moses in 5. Mose 4,25-28 erfüllen: «Wenn … ihr euch verderbt und euch ein geschnitztes Bild macht … und tut, was böse ist in den Augen des HERRN, deines Gottes, um ihn zu reizen: So nehme ich heute den Himmel und die Erde als Zeugen gegen euch, dass ihr gewiss schnell aus dem Land umkommen werdet … Und der HERR wird euch unter die Völker zerstreuen …»
Schon kurz nach der Eroberung des Landes, nach dem Tod Josuas, verdarb sich das nachfolgende Geschlecht in der von Gott vorausgesehenen Weise. Somit wäre damals schon die Voraussetzung für das angekündigte Gericht gegeben gewesen.
Weshalb kam es denn für die zehn Stämme erst siebenhundert Jahre und für Juda erst achthundert Jahre später? Wegen der unfassbaren Langmut Gottes und seines unergründlichen Erbarmens über das abtrünnige und widerspenstige Volk!
Wohl liess Er zu, dass Israel in der Zeit der Richter und der Könige wegen seiner Treulosigkeit immer wieder von den Feinden hart bedrängt, im Kampf besiegt und für viele Jahre unterjocht wurde. Aber sobald sich im Herzen des Volkes und seiner Führer auch nur schwache Spuren von Reue und Verurteilung ihrer Wege zeigten, gab Er ihnen wieder Erleichterung und Befreiung. Und in all dieser Zeit hatte Gott nie erlaubt, dass das Volk aus dem Land vertrieben und gefangen weggeführt wurde.
In der Tat, die Geschichte des Volkes Israel beweist, dass Gott «barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und gross an Güte und Wahrheit» ist (Ps 86,15). Wenn Er sich auch erst in seinem Sohn in «Gnade und Wahrheit» voll offenbart hat, so sind doch schon diese Strahlen seiner Herrlichkeit aus der Zeit des Gesetzes von leuchtendem Glanz. Dieser Gott ist es, der uns Christen durch seinen Geist zuruft: «Zieht nun an, als Auserwählte Gottes, als Heilige und Geliebte: herzliches Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut, Langmut, einander ertragend und euch gegenseitig vergebend …» (Kol 3,12.13).
Änderung der Regierungswege Gottes
Gott hatte von dem Tag an, da ihre Väter aus dem Land Ägypten auszogen, bis auf den Tag, da Jeremia weissagte, alle seine Knechte, die Propheten, zu Israel gesandt, um das Volk auf seinem bösen Weg aufzuhalten und zur Umkehr zu Ihm und seinen Geboten zu bewegen (Jer 7,25). Aber sie hörten nicht auf seine herzbewegende und warnende Stimme.
Durfte es nun immer so weiter gehen? Nein, Gott war Israel gegenüber wohl «langsam zum Zorn», doch musste dieser an dem durch Ihn festgesetzten Tag endlich über sie kommen. Israel musste beiseite gesetzt werden, um den «Zeiten der Nationen» Platz zu machen (Lk 21,24).
Schon waren die zehn Stämme, die sich bald nach der Regierung Salomos unter Jerobeam auf einen Weg des Abfalls von dem HERRN begeben hatten, in die assyrische Gefangenschaft weggeführt worden (2. Kön 15,29; 17,6).
Für Juda war dies ein drohender Warnfinger. Aber sie gewöhnten sich an diese ernste Tatsache. Bald trieben sie es noch ärger als Israel. «Manasse verleitete sie, mehr Böses zu tun als die Nationen, die der HERR vor den Kindern Israel vertilgt hatte» (2. Kön 21,9). Auch für Juda waren daher die Tage im Land gezählt. Der König von Babel wird sie in eine siebzigjährige Gefangenschaft wegführen (Jer 25,9-11), aus der nur ein kleiner Überrest zurückkehren soll.
Das Auftreten Jeremias
Bevor Gott dieses Gericht über die zwei Stämme brachte, wollte Er durch Jeremia noch einen letzten, eindringlichen Appell an sie richten, um das Volk zur Umkehr zu bewegen.
Wie musste es dem jungen Mann zumute gewesen sein, als Gott zum ersten Mal zu ihm sagte: «Geh und rufe vor den Ohren Jerusalems und sprich»? (Jer 2,2).
Zweifellos suchte der Widersacher ihn von der Ausführung des Auftrages zurückzuhalten, indem er ihm einflüsterte: «Dem Volk ist doch nicht mehr zu helfen! Du machst dich nur verhasst und hilfst niemandem!» Oder: «Wie darfst du es wagen, du unerfahrener Jüngling, vor den Ohren alter Propheten, Priester und Ältesten eine Botschaft auszurufen, mit der du ihr Leben, ihre Worte und ihr Tun verurteilst?»
Jeremia liess solcherlei Erwägungen nicht in sein Herz dringen. Der HERR hatte zu ihm gesprochen und ihm die Worte in den Mund gelegt, die er ausrufen sollte. Ihm wollte er gehorchen. Ob der gute Same seines Wortes dabei auf lauter Steine oder bei einigen wenigen auf zubereitetes Erdreich fiel, das konnte nur Gott richtig beurteilen. Und «der HERR war mit ihm wie ein gewaltiger Held» (Jer 20,11). Auf Ihn stützte er sich und auf seine kostbaren Zusagen. So wollte er es halten während seines ganzen Dienstes.
Ist uns dieser treue junge Prophet nicht ein grosser Ansporn? Wie damals die Kinder Juda, so steht heute die ganze Welt vor dem Ausbruch schwerster Gerichte. Die Bibel bezeugt es uns ernst und deutlich. Sie sagt uns, dass die kommenden Drangsale alles Dagewesene an Schrecklichkeit übertreffen werden. Welche Gnade, dass den Menschen in dieser Welt durch das Evangelium noch immer eine Botschaft der Buße und der Errettung verkündigt werden darf! Möchte jeder von uns in seinem Mass daran teilnehmen!
Um vom Inhalt der Botschaft Jeremias in den ersten 25 Kapiteln seines Buches einen Begriff zu bekommen, wollen wir versuchen, ähnliche Aussagen in kleine Abschnitte zusammenzufassen.
Vom Brautstand zum Ehebruch
In ergreifenden Worten erinnert der HERR das Volk an die ersten Tage nach dem Durchzug durch das Rote Meer. Er hatte es soeben erlöst und befreit, und nun wandelte es hinter Ihm her durch die Wüste dieser Welt in der Zuneigung seiner Jugend, in der Liebe seines Brautstandes. Israel war heilig dem HERRN. Sein Herz war auf Ihn gerichtet und von Gottes Grösse erfüllt. Und Er umgab es in unwandelbarer Treue und Güte. Er selbst war sein Schutz und sein Führer. In Ihm, der Quelle lebendigen Wassers waren alle seine Hilfsquellen (Jer 2,1-3.13).
Aber schon am Sinai, als Mose auf dem Berg verzog, um aus dem Mund des HERRN das Gesetz zu empfangen, «verdarb» sich das Volk. Nach all den vielen Wundertaten des HERRN beging es die grosse Freveltat, sich ein goldenes Kalb zu formen, ihm zu opfern und zu sagen: «Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben» (2. Mo 32,4). Hier begann die Geschichte des Abfalls und der Abgötterei unter dem erlösten Volk, die sich mit längeren und kürzeren Unterbrüchen immer wieder fortsetzte. Zur Zeit Jeremias war der Götzendienst auch in Juda zu einem Dauerzustand geworden.
Dass Israel seine bräutliche Liebe von dem HERRN weg auf Götzen richtete, schmerzte Ihn tief. Er empfand diese Sünde als Hurerei und Ehebruch Ihm gegenüber. Er hatte Anspruch auf ihr ganzes Herz, aber sie verschenkten es den Göttern. Welche Treulosigkeit! Überall im Buch Jeremia klagt der HERR darüber. (Lies besonders Kapitel 2 und 3.)
Auch uns ruft der Apostel durch den Heiligen Geist zu: «Kinder, hütet euch vor den Götzen» (1. Joh 5,21). Auch unser Herz wünscht Er in der ersten Liebe zu sehen und ganz zu besitzen.
Die Geschichte des leinenen Gürtels
Jeremia 13
Noch durch ein anderes Bild wollte Gott dem Volk seine grosse Untreue zum Bewusstsein bringen: Der junge Prophet musste sich eines Tages einen leinenen Gürtel kaufen und ihn um seine Lenden legen. Dann aber empfing er den Auftrag, den Gürtel am Euphrat (500 km Entfernung in Luftlinie!), wo die Nationen wohnten, zu verbergen. Ein anstrengender, gefahrvoller Marsch von insgesamt mehr als tausend Kilometern! Aber Jeremia gehorchte und machte keine Einwände.
Nach vielen Tagen musste er diese lange Reise noch einmal unternehmen, um den Gürtel wieder zu holen. Aber wie sah dieser jetzt aus? Er war verdorben und taugte zu gar nichts mehr!
Mit diesem verdorbenen Gürtel in der Hand sollte er sich nun vor die Leute hinstellen und sie daran erinnern, dass sich der HERR das Volk Israel zum Eigentum erkauft und auch das ganze Haus Juda an sich geschlossen habe, damit sie Ihm zum Volk und zum Namen und zum Schmuck seien. Aber sie hätten sich geweigert, auf Ihn zu hören und seien den Göttern der Nationen nachgegangen. Dadurch wären Israel und Juda für Gott gänzlich untauglich geworden.
Wie das Volk diese eindrückliche Bußpredigt aufgenommen hat, wird uns nicht mitgeteilt. Aber wir können uns gut vorstellen, dass sie lachten. Der Unbußfertige ist ja so schnell dazu bereit. «Der Narr! Zweitausend Kilometer läuft er in der Welt herum, um uns immer wieder dasselbe zu sagen!» So mochten sie gesagt haben. Ja, Jeremia war ihnen zum Gelächter geworden (Jer 20,7).
Wir aber wollen es nicht vergessen, dass wir nur dann zu Gottes Ruhm sind, wenn wir uns eng an Ihn anschliessen.
Zweifach Böses
Das Volk des HERRN hatte zweifach Böses begangen: Es hatte Gott verlassen und damit alle Hilfsquellen zum Wandel in seinem Licht und seinem Frieden (Jer 2,13). Dadurch verliess es auch sein Gesetz und alle seine Gebote (Jer 9,13). War es da verwunderlich, dass in seiner Mitte Bosheit auf Bosheit verübt wurde? Sie bereicherten sich durch Ungerechtigkeit und frönten der Gewinnsucht. Statt Recht zu üben, bedrückten sie die Witwen und Waisen und beuteten sie aus (vgl. Jer 5,28; 6,13; 7,1-7.) Sie hintergingen und verleumdeten sogar Bruder und Freund (Jer 9,2-8).
Indem sich das Volk Götzen machte, grub es sich Zisternen aus, in der Erwartung, dort für den Durst seiner Seele Wasser zu finden. Aber wie täuschte es sich! Hand in Hand mit dem Götzendienst bereitete sich die gröbste Unreinheit unter ihnen aus: «Deine Söhne haben mich verlassen und schwören bei Nicht-Göttern… Sie haben Ehebruch getrieben und laufen scharenweise ins Hurenhaus» (Jer 5,7). Die Kinder Juda liessen im Tal Hinnom sogar ihre Söhne und Töchter dem Molech durchs Feuer gehen und verbrennen (Jer 7,31). Wahrlich, «dumm wird jeder Mensch, ohne Erkenntnis», der Götzen macht und ihnen dient! (Jer 10,14).
«Tun, als ob»
Besonders in den Tagen Josias, aber auch später noch, gab man sich gerne einen frommen Anstrich. Bei all ihrem bösen Tun war es für die Götzendiener eine Beruhigung zu wissen, dass das Volk in Beziehung zu dem HERRN stand. Sie nannten Ihn sogar «mein Vater, der Freund meiner Jugend», was sie aber nicht hinderte, Übeltaten zu begehen (Jer 3,4.5). Ihr Leben war gekennzeichnet durch «stehlen, morden und Ehebruch treiben und falsch schwören und dem Baal räuchern und anderen Göttern nachwandeln.» Aber doch brachten sie es fertig, im Tempel vor Gott zu treten und zu sagen: «Wir sind errettet» (Jer 7,9.10). Voller Stolz sagten sie: «Wir sind weise, und das Gesetz des HERRN ist bei uns» (Jer 8,8), und doch achteten sie nicht auf seine Worte und verschmähten sein Gesetz. Sie verharrten auf ihren Sündenwegen, aber täuschten Gottesfurcht vor, indem sie Gott Weihrauch und Brandopfer und Schlachtopfer darbrachten! (Jer 6,19.20). Wussten sie denn nicht, dass es Gott vor allem darum geht, auf seine Stimme zu hören und auf seinen Wegen zu wandeln?
Wie widerlich muss eine solche Heuchelei oder Falschheit für Gott sein! Auch Gläubige neigen dazu, jedes Mal, wenn ihr Herz von Ihm abweicht.
Falsche Propheten, ruchlose Priester
Das Alte Testament berichtet von vielen treuen Propheten. Es waren heilige Männer, die Gott mit seiner eigenen Botschaft zu seinem Volk sandte. Sie fürchteten Ihn und richteten sein Wort aus, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzutun. Aber die Propheten Jerusalems, auf die die Fürsten und das Volk hörten, waren von ganz anderer Art. Sie wandelten selbst im sittlichen Verderben und stärkten die Hände der Übeltäter. Sie waren nicht von Gott gesandt und doch weissagten sie im Namen des HERRN. Sie redeten aus ihrem eigenen Herzen und schämten sich nicht, ihren Worten dadurch Gewicht zu geben, dass sie sagten: «Er hat geredet». Statt das Volk im Blick auf das kommende Unheil zu warnen, logen sie: «Der HERR hat geredet: ihr werdet Frieden haben … Es wird kein Unglück über euch kommen» (Jer 23,14.17.21.31)
Aber auch die Priester hätten Boten des HERRN sein sollen (Mal 2,7). Sie trugen eine besonders grosse Verantwortung für den Zustand des Volkes. Hätten die Lippen der Priester Erkenntnis und die Lehre des Gesetzes bewahrt, wie viele hätten sie da von ihrer Ungerechtigkeit zurückbringen können! Stattdessen waren sie selbst vom Weg abgewichen und hatten viele straucheln gemacht im Gesetz. Denn das Volk blickte auf ihre geistlichen Führer und liess sich von ihnen irreleiten. Unter dem Einfluss der falschen Propheten machten die Schriftgelehrten das Gesetz des HERRN zur Lüge. Statt in tiefem Ernst das Volk in das Licht seines heiligen Wortes zu bringen, heilten sie seine Wunde leichthin. Sie predigten nicht Buße, weil sie selbst ihre bösen Wege nicht verurteilten (Jer 8,8-11).
So stand es also um die Kinder Juda: «Die Propheten weissagen falsch, und die Priester herrschen unter ihrer Leitung, und mein Volk liebt es so» (Jer 5,31).
Sehen wir heute in der Christenheit nicht Ähnliches? Treten nicht viele als Diener Gottes vor das Volk hin, die Er nicht gesandt hat, und die durch ihr eigenes Wort das Wort des lebendigen Gottes verdrehen (Jer 23,36), das doch «wie Feuer» ist «und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert»? (Jer 23,29).