Psalm 22 (1)

Psalm 22,1-4

Einleitung

Ich hoffe und wünsche, dass wir alle ein grosses Interesse am Herrn Jesus Christus, dem Sohn Gottes, haben. Wenn das so ist, dann sind wir alle eifrige Leser der Evangelien. In diesem Teil der Bibel berichten uns vier Männer, die vom Geist Gottes inspiriert waren, über das Leben, das Sterben und die Auferstehung unseres Herrn. Wir werden reich gesegnet, wenn wir diese göttlichen Berichte immer wieder lesen. Dort finden wir, was unser Heiland sprach, was Er tat, welche Wege Er ging und was Er am Kreuz von Golgatha vollbrachte.

Wenn wir jedoch in sein Herz hineinsehen und wissen möchten, was unser Herr Jesus auf seinem Weg von der Krippe bis zum Kreuz empfunden hat, dann müssen wir uns mit den Psalmen beschäftigen. Dort lässt uns Gott Blicke in das Herz unseres Heilands tun.

Im ersten Psalm-Buch finden wir fünf Psalmen, die besonders vom Herrn Jesus sprechen. Drei von ihnen haben seine Person zum Thema, zwei von ihnen beschäftigen sich mit seinem Werk am Kreuz.

  • In Psalm 2 geht es um seine Person. Der Herr Jesus wird dort als Sohn Gottes vorgestellt, der vom Heiligen Geist gezeugt worden ist und als solcher der König Israels ist.
  • In Psalm 8 wird uns eine höhere Herrlichkeit seiner Person gezeigt. Er ist der Sohn des Menschen, der nicht nur über Israel herrschen wird, sondern über alle Werke der Hände Gottes gesetzt ist. In Johannes 1 begegnet Nathanael dem Herrn Jesus und sagt zu Ihm: «Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels.» Diese Aussage stimmt mit Psalm 2 überein. Da gibt ihm der Herr zur Antwort: «Du wirst Grösseres als dieses sehen.» Was Er damit meint, erklärt Er sogleich: «Ihr werdet den Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes auf- und niedersteigen auf den Sohn des Menschen» (Joh 1,49-51). Das bezieht sich auf Psalm 8. Die Tatsache, dass der Sohn des Menschen über Himmel und Erde regieren wird, ist tatsächlich grösser als seine Königsherrschaft über Israel.
  • Psalm 16 teilt uns auch etwas über die Person unseres Herrn mit. Dort sehen wir Ihn als den vollkommenen Menschen und Diener Gottes.
  • In Psalm 22 geht es um das Werk des Herrn Jesus am Kreuz. Er steht hier als das vollkommene Sündopfer vor uns.
  • In Psalm 40 wird uns Christus gezeigt, wie Er in die Welt kam, um den Willen seines Gottes zu tun. Das beinhaltete das Werk am Kreuz, wo Er das vollkommene Brandopfer war.

Wenn wir uns im Weiteren mit Psalm 22 beschäftigen, ist es wichtig, ihn im Licht des Neuen Testaments zu betrachten. Wir kennen das vollbrachte Erlösungswerk des Herrn Jesus aus dem Neuen Testament und können mit diesem Wissen über das nachdenken, was schon im Alten Testament über seine Leiden und seinen Tod am Kreuz geschrieben steht.

Bei der Betrachtung dieses Themas ist Zurückhaltung und Vorsicht geboten. Wir wissen, dass wir jetzt heiliges Land betreten. Es geht uns wie Mose, als Er den brennenden Dornbusch sah, der nicht verzehrt wurde. Da sprach Gott zu ihm: «Tritt nicht näher herzu! Zieh deine Schuhe aus von deinen Füssen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden» (2. Mo 3,5). So ziehen auch wir im Geist unsere Schuhe von den Füssen aus, denn wir betreten den heiligen Boden des Erlösungswerks unseres Herrn. Es ist meine Bitte, bei dieser Betrachtung die passenden Worte zu finden.

Der grosse Gedanke in Psalm 22 ist der Herr Jesus als das vollkommene Sündopfer am Kreuz von Golgatha. Vor uns stehen besonders die drei Stunden der Finsternis, in denen Er für fremde Schuld litt. Wir wissen, dass der Heiland sechs Stunden am Kreuz hing, bevor Er starb. Die drei ersten Stunden waren besonders durch die Feindschaft der Menschen geprägt. In den zweiten drei Stunden, als dichte Finsternis über dem Land war, stand Er im göttlichen Gericht. Davon spricht Psalm 22, wie der Anfang deutlich macht: Die Schläge des göttlichen Gerichts trafen unseren Heiland, während Er unter körperlichen Qualen am Kreuz hing.

Von Gott verlassen

«Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern von meiner Rettung, den Worten meines Gestöhns?» (Vers 2).

Der Anfang eines Psalms zeigt uns oft den eigentlichen Inhalt. So ist es auch in Psalm 22. Nach der Überschrift in Vers 1 fängt er gleich mit dem Ausruf unseres Herrn an: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?»

Die Zeit, als unser Heiland von den Menschen gefangen genommen, verspottet und geschlagen wurde, überschreibt Lukas mit der «Stunde des Menschen und der Gewalt der Finsternis» (Lk 22,53). In dieser Zeit taten die Menschen mit dem Herrn Jesus, was sie wollten. Sündige Hände nahmen Ihn fest. Er stand vor dem Synedrium, dem römischen Statthalter Pilatus und dem König Herodes, die über Ihn zu Gericht sassen. Bei all dieser Feindschaft und Ungerechtigkeit schwieg Er. In all den Leiden, die Ihm die Menschen zufügten, öffnete Er seinen Mund nicht. Das hat Jesaja schon viele Jahrhunderte zuvor prophezeit: «Er wurde misshandelt, aber er beugte sich und tat seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern; und er tat seinen Mund nicht auf» (Jes 53,7). Als aber Jesus Christus im göttlichen Gericht stand, konnte Er am Ende der drei Stunden der Finsternis nicht mehr schweigen! In seinem Rufen zu Gott drückte Er die tiefe Not seiner Seele aus.

Er sprach Ihn mit «mein Gott» an, um zu zeigen, dass sein Gottvertrauen nicht wankte. Noch am Ende der drei dunklen Stunden vertraute Er völlig seinem Gott. Wenn wir das Leben des Herrn Jesus auf der Erde betrachten, sehen wir, dass Er oft von «meinem Vater» sprach. Aber nur zweimal wird uns berichtet, dass unser Heiland «mein Gott» sagte. Das erste Mal hören wir es am Ende der drei Stunden der Finsternis: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Mt 27,46). Das zweite Mal sprach Er als Auferstandener zu Maria Magdalene: «Ich fahre auf … zu meinem Gott und eurem Gott» (Joh 20,17). Darin erkennen wir eine Antwort auf das «Warum» am Kreuz. Diese Warum-Frage unseres Heilands war berechtigt, denn Er war rein und heilig. Er war ohne Sünde und vollkommen gerecht. In Psalm 37,25 sagt David: «Ich war jung und bin auch alt geworden, und nie sah ich den Gerechten verlassen.» Trotzdem wurde Jesus Christus am Kreuz von Gott verlassen. Wenn es um die Heiligkeit seiner Person geht, ist dieses «Warum» unseres Herrn eine berechtigte Frage. Wenn wir jedoch daran denken, dass Er für uns zur Sünde gemacht wurde und unsere Sünden trug, dann sagen wir ganz persönlich: «Wegen mir ist Er von Gott verlassen worden. Er litt für mich, damit sein Gott auch mein Gott werden konnte.»

Der Herr Jesus hat die göttliche Strafe für meine Sünden und für die Sünden all derer getragen, die einmal an Ihn glauben (1. Pet 2,24). Gott hat Ihn, der Sünde nicht kannte, zur Sünde gemacht, weil die Erbsünde in uns allen ist und Gott die Erbsünde verurteilen muss (2. Kor 5,21; Röm 8,3). Darum hat Gott Ihn verlassen.

In grösster Not

«Mein Gott! Ich rufe am Tag, und du antwortest nicht; und bei Nacht, und mir wird keine Ruhe» (Vers 3).

Dieser Vers zeigt uns, wie tief der Schmerz unseres Herrn war. Wir können nicht ergründen, was es für seine heilige Seele bedeutete, dass Gott Ihn für unsere Sünden bestrafte und die Sünde an Ihm verurteilte. Unmöglich können wir seine Leiden ermessen, als sich der heilige Gott von Ihm abwandte.

Mit der ganzen Kraft seines Lebens hat Er seinem Gott gedient. Mit seiner ganzen Kapazität hat Er in Hingabe an seinen Gott gelebt. Doch nun muss Er erfahren, dass Gott Ihn verlässt. Er ruft am Tag und bei Nacht – doch Gott antwortet Ihm nicht! In Habakuk 1,13 wird der Grund dafür angegeben: «Du bist zu rein von Augen, um Böses zu sehen.» Darum hat Gott sich vom Heiland abgewandt.

«Mir wird keine Ruhe.» Dieses Wort bewegt mein Herz. Wir denken daran, dass Er in seinem ganzen Leben von der Krippe bis zum Kreuz eine vollkommene innere Ruhe besass. Er ging durch alle Schwierigkeiten des Lebens mit einem tiefen Frieden im Herzen. Von dieser Ruhe spricht Er in Johannes 14,27: «Meinen Frieden gebe ich euch.» Er möchte, dass wir als Gläubige mit einem ruhigen Herzen durch helle und dunkle Tage gehen. Er selbst ging auf seinem ganzen Lebensweg mit dieser wunderbaren Ruhe durch alle Umstände hindurch. Aber in den Stunden der Finsternis fand Er diese Ruhe nicht! Welch ein Schmerz für Ihn!

Gott ist heilig

«Doch du bist heilig, der du wohnst bei den Lobgesängen Israels» (Vers 4).

Dieser Vers zeigt uns, warum der Herr Jesus das Erlösungswerk vollbringen musste. Es geht jetzt nicht um die Seite des Menschen, sondern um die Seite Gottes. Dabei werden uns zwei grosse Tatsachen vorgestellt, die Gott betreffen. Zuerst sagt der Herr: «Doch du bist heilig …» Das heisst: Gott ist Licht! Dann fügt der Heiland hinzu: «… der du wohnst bei den Lobgesängen Israels.» Das bedeutet: Gott ist Liebe! Einerseits muss Gott in seiner Heiligkeit die Sünde verurteilen. Anderseits hat Er den Wunsch, bei den Menschen zu wohnen. Darin liegt die grosse Antwort, warum der Herr Jesus das Erlösungswerk vollbringen musste: Weil Gott Licht ist und weil Gott Liebe ist.

In Johannes 3 finden wir diese beiden Seiten auch. Zuerst erklärt der Herr: «Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöhte, so muss der Sohn des Menschen erhöht werden» (Vers 14). Das ist die Antwort auf die Tatsache, dass Gott Licht ist. Hier wird gezeigt, dass der Tod des Herrn Jesus wegen der Heiligkeit Gottes ein Muss war. Doch dann heisst es weiter: «So hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe» (Vers 16). Gott ist Liebe. Darum hat Er seinen Sohn ans Kreuz und in den Tod gegeben. Hier gibt es kein Muss, weil alles freiwillig ist und aus der Liebe Gottes hervorkommt.

Diese beiden Wahrheiten stehen also in Vers 4 vor uns. Gott ist Liebe und wünschte, bei uns Menschen zu wohnen. Doch das war nicht möglich, weil Er als Gott des Lichts heilig ist und wir Sünder waren. So musste unser Herr Jesus am Kreuz leiden und sterben, damit Gott bei den Menschen wohnen kann! Dieses Thema finden wir auch im zweiten Buch Mose. Im ersten Teil wird uns die Erlösung durch das Passahlamm und die Befreiung aus Ägypten gezeigt. Im zweiten Teil wird der Wunsch Gottes verwirklicht: Die erlösten Israeliten bauen in der Wüste das Zelt der Zusammenkunft, damit Gott bei ihnen wohnen und ihre Anbetung entgegennehmen kann. Auf der Grundlage des Erlösungswerks am Kreuz kann der heilige Gott tatsächlich in der Mitte eines erlösten Volkes wohnen.