Psalm 22 (5)

Psalm 22,23-25

Das Hauptthema von Psalm 22 sind die sühnenden Leiden unseres Heilands am Kreuz, die Er in den drei Stunden der Finsternis erduldet hat (V. 1-11). Diese Leiden vonseiten Gottes waren aber von der Bosheit und Feindschaft der Menschen und von der Einwirkung der Kreuzigung auf den Körper unseres Herrn begleitet (V. 12-22).

Erhörung in der Auferweckung

«Ja, du hast mich erhört von den Hörnern der Büffel» (V. 22).

In Vers 22 gibt es einen grossen Wechsel. Im ersten Teil ruft der Heiland zu Gott: «Rette mich aus dem Rachen des Löwen!» Der Rachen des Löwen spricht von der Todesdrohung des Feindes, der den Herrn Jesus dazu bewegen wollte, das Werk am Kreuz nicht zu vollenden und nicht in den Tod zu gehen. Doch der Herr blieb der treue Zeuge bis in den Tod und vollbrachte das Werk der Erlösung.

Im zweiten Teil des Verses sagt der Heiland: «Ja, du hast mich erhört von den Hörnern der Büffel.» Jetzt steht Er bereits hinter dem Kreuz. Damit wir diesen Satz gut verstehen, ist es nötig, einige Stellen aus dem Neuen Testament dazu zu lesen.

  • «Er ging ein wenig weiter und fiel auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber, doch nicht wie ich will, sondern wie du willst» (Mt 26,39).
  • «Er sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir weg! Doch nicht was ich will, sondern was du willst!» (Mk 14,36).
  • «Er kniete nieder, betete und sprach: Vater, wenn du willst, so nimm diesen Kelch von mir weg – doch nicht mein Wille, sondern der deine geschehe!» (Lk 22,41.42).
  • «Wir glauben an den, der Jesus, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat, der unserer Übertretungen wegen hingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist» (Röm 4,24.25).
  • «Der in den Tagen seines Fleisches, da er sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn aus dem Tod zu erretten vermochte, mit starkem Schreien und Tränen dargebracht hat (und wegen seiner Frömmigkeit erhört worden ist)» (Heb 5,7).

Der Herr Jesus betete in Gethsemane zum Vater. Seine Bitte war, dass der Kelch an Ihm vorübergehe. Im Matthäus-Evangelium fügt Er jedoch hinzu: «Nicht wie ich will, sondern wie du willst.» Im Markus-Evangelium sagt Er: «Nicht was ich will, sondern was du willst.» Im Lukas-Evangelium drückt Er es so aus: «Nicht mein Wille, sondern der deine geschehe.» Das Gebet des Herrn Jesus in Gethsemane zeigt uns, wie schwer das Werk für Ihn war, das Er zu vollbringen hatte. Er sah alles vor sich und brachte in seinem Gebet zum Vater seine tiefe Not zum Ausdruck, als die furchtbaren Leiden und das schwere Werk der Erlösung vor seiner Seele standen.

Die Erhörung bestand nicht darin, dass Er das Werk nicht vollbringen musste. Unmöglich hätten Menschen sonst errettet werden können. Der Herr Jesus wusste es und war darin völlig eins mit dem Vater. Darum ging Er hin, um dieses Werk auszuführen. Dennoch wurde sein Gebet erhört, und zwar in seiner Auferweckung! Darauf weisen seine Worte hin: «Ja, du hast mich erhört von den Hörnern der Büffel.» Sie bedeuten, dass Gott Jesus durch die Auferweckung aus der Macht des Todes herausgenommen hat.

Es gab für Gott zwei Gründe, Jesus Christus nach vollbrachtem Erlösungswerk aus den Toten aufzuerwecken. Den ersten Grund finden wir in Römer 4,25: Die Auferweckung unseres Herrn ist der Beweis, dass das Werk am Kreuz vollkommen ist. Gott hat mit der Auferweckung des Erlösers dokumentiert, dass dessen Sühnungstod in seinen Augen vollkommen genügt, um Menschen zu rechtfertigen.

Der zweite Grund wird uns in Hebräer 5,7 vorgestellt: Gott hat Jesus wegen seiner Frömmigkeit auferweckt. In seinem ganzen Leben war Er der Fromme Gottes. Diesen wunderbaren Titel unseres Herrn finden wir schon in Psalm 16,10: «Meine Seele wirst du dem Scheol nicht überlassen, wirst nicht zugeben, dass dein Frommer die Verwesung sehe.» Gott konnte nicht zulassen, dass sein Frommer, der in völliger Hingabe an Ihn gelebt hatte, die Verwesung sah. Er konnte Ihn nicht im Tod lassen, sondern hat Ihn aus der Macht des Todes befreit und auferweckt.

Wenn der Herr Jesus hier sagt: «Ja, du hast mich erhört von den Hörnern der Büffel», dann denken wir an seinen Titel in Kolosser 1,18: Er ist der Erstgeborene aus den Toten. Es werden noch viele aus den Toten auferweckt werden – alle geliebten heimgegangenen Gläubigen. Sie werden nicht im Tod bleiben, sondern bei der Entrückung auferweckt werden. Aber Christus ist der Vornehmste oder Ranghöchste von allen aus den Toten Auferweckten. Ihm allein gebührt diese Ehre!

Vorbemerkungen zu den Versen 23-32

Die sühnenden Leiden des Herrn Jesus in den drei Stunden der Finsternis und sein Tod am Kreuz haben wunderbare Gnade und herrlichen Segen zur Folge. Alle, die an Ihn glauben, sind Nutzniesser seines vollbrachten Werks. Das wird uns ab Vers 23 gezeigt.

Wir können die Verse 23-32 in vier Abschnitte gliedern. Die ersten drei Teile zeigen uns drei Bereiche, in denen sich die Ergebnisse der Leiden und des Todes unseres Herrn entfalten. Der vierte Teil – ich sage das mit grosser Vorsicht – ist eine Zusammenfassung.

  • Verse 23-25: Segen für seine Brüder
  • Verse 26.27: Segen für das Volk Israel
  • Verse 28-30: Segen für die Nationen
  • Verse 31.32: Er hat es getan!

Offenbarung und Anbetung

«Verkündigen will ich deinen Namen meinen Brüdern; inmitten der Versammlung will ich dich loben» (V. 23).

Der erste Segensbereich betraf seine Jünger, in deren Mitte der Herr Jesus als Auferstandener trat. Er nannte sie Brüder und verkündigte ihnen durch Maria Magdalene den Namen seines Gottes und Vaters: «Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott» (Joh 20,17). Diesen Namen seines Gottes teilte Er seinen Brüdern mit, während Er noch als Auferstandener auf der Erde war. Sie bildeten den Anfang und den Kern der Gläubigen der Gnadenzeit. Darum betrifft das, was in den Versen 23-25 steht, lehrmässig auch uns, die wir auf dem christlichen Boden stehen. Wir können also die Aussagen, die wir jetzt betrachten, direkt für uns nehmen, die wir in der wunderbaren Zeit der Gnade an den Herrn Jesus glauben.

Zwei Bewegungen

Als Erstes verkündigte der Auferstandene seinen Brüdern den Namen des Vaters und den Namen Gottes. Er tat es durch Maria Magdalene. Das ist eine Bewegung von oben nach unten und eine Offenbarung von Gott. Der Name «Vater» ist die höchste Bezeichnung von Gott, der Name «Gott» ist seine umfänglichste Bezeichnung. Der Herr Jesus hat das Erlösungswerk vollbracht, damit sein Vater unser Vater und sein Gott unser Gott werden konnte. Durch sein Werk am Kreuz von Golgatha hat Er uns den Zugang zu seinem Gott und Vater geöffnet, der jetzt auch unser Gott und Vater geworden ist.

Als Zweites stimmte der Auferstandene das Lob Gottes inmitten der Versammlung an. Das ist eine Bewegung von unten nach oben und betrifft die Anbetung Gottes und des Vaters. Der Herr Jesus spricht zwar in der Einzahl: Ich will dich loben. Das ist eine Besonderheit, auf die ich aufmerksam machen möchte. Unser Herr Jesus hat mit seinen Jüngern nie ein gemeinsames Gebet gesprochen, sondern immer persönlich gebetet. Dennoch umfasst seine Aussage «inmitten der Versammlung will ich dich loben» die Anbetung in der christlichen Zeit, die zu Gott emporsteigt.

Das sind die beiden grossen Linien, die auch für uns völlig wahr sind: zuerst die Linie der Offenbarung von oben nach unten und dann die Linie der Anbetung von unten nach oben.

Wenn wir den Herrn Jesus inmitten seiner Brüder und inmitten der Versammlung sehen, denken wir an einen weiteren Titel: Er ist der Erstgeborene unter vielen Brüdern (Röm 8,29). Er nennt die Gläubigen seine Brüder. Damit führt Er sie in die Familie Gottes ein und erhebt sie auf seine Höhe. Er schämt sich tatsächlich nicht, sie Brüder zu nennen (Heb 2,11). Dennoch bleibt Er der Vornehmste und Ranghöchste von allen, die zur Familie Gottes gehören.

Christliche Anbetung

Wenn wir anhand der neutestamentlichen Stellen über die christliche Anbetung nachdenken, sehen wir, dass sie vor allem einen kollektiven Charakter trägt. Wir können natürlich persönlich anbeten, aber jedes Mal, wenn es um die christliche Anbetung geht (Joh 4,23.24; 1. Pet 2,5; Heb 10,19-22; 13,13-15), wird sie als eine kollektive Sache vorgestellt.

Ich habe in der Bibel zwei Seiten der Anbetung gefunden. Die eine finden wir im Hebräer-Brief und im 1. Petrus-Brief. Dort treten die Anbeter als heilige Priester vor Gott. In diesem Fall geht es also um den Namen «Gott». Wir stehen als eine Priesterschar vor Ihm und bringen Ihm geistliche Schlachtopfer dar, indem wir die Person und das Werk unseres Herrn Jesus vor Ihm erheben. Ein Liederdichter bringt es treffend zum Ausdruck:

  • Wir treten vor dein Angesicht,
  • o Gott, um Dir zu dienen.
  • Als Priester hier in deinem Licht,
  • sind wir vor Dir erschienen,
  • weil unser Herr
  • zu deiner Ehr
  • als Opfer sich gegeben
  • für uns zum Heil und Leben.

Die zweite Seite der Anbetung finden wir im Epheser-Brief. Dort werden die Gläubigen als Familie Gottes gesehen. Sie haben mit dem Vater Gemeinschaft über seinen Sohn. Wir lesen dazu in Epheser 2,17.18: «Er kam und verkündigte Frieden, euch, den Fernen, und Frieden den Nahen. Denn durch ihn haben wir beide den Zugang durch einen Geist zu dem Vater.» Hier geht es nicht um den persönlichen Zugang, den jeder von uns als Kind zum Vater hat, sondern um den gemeinsamen Zugang. Gläubige Menschen aus den Nationen und gläubige Menschen aus den Juden treten miteinander in die Gemeinschaft mit dem Vater ein, um mit Ihm zusammen seinen Sohn zu betrachten. Auch das drückt ein Liederdichter passend aus:

  • O Vater! Einer ist’s vor allen,
  • auf Ihn blickst Du mit Wohlgefallen,
  • auf den geliebten, eignen Sohn.
  • Wie in dem Schoss der Ewigkeiten,
  • so war Er’s in der Füll der Zeiten,
  • und jetzt als Mensch auf deinem Thron.

In Johannes 4,23.24 verbindet der Herr Jesus diese beiden Seiten: «Es kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die wahrhaftigen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn auch der Vater sucht solche als seine Anbeter. Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten.» Er spricht hier von der Anbetung des Vaters und von der Anbetung Gottes.

Sowohl die Offenbarung von oben nach unten als auch die Anbetung von unten nach oben gründen sich auf das Erlösungswerk, das der Herr Jesus am Kreuz vollbracht hat.

Gottesfurcht und Ehrfurcht

«Ihr, die ihr den HERRN fürchtet, lobt ihn; alle Nachkommen Jakobs, verherrlicht ihn, und scheut euch vor ihm, alle Nachkommen Israels!» (V. 24).

Wenn wir diesen Vers mit 1. Petrus 2 verbinden, können wir seine Aussage besser verstehen.

Zuerst heisst es: «Ihr, die ihr den HERRN fürchtet, lobt ihn.» Das bezieht sich auf unsere heilige Priesterschaft, die sich an Gott richtet und durch Anbetung verwirklicht wird (1. Pet 2,5). Wir sehen, dass Gottesfurcht nötig ist, damit wir Ihn als heilige Priester anbeten können.

Weiter lesen wir: «Alle Nachkommen Jakobs, verherrlicht ihn.» Das betrifft unsere königliche Priesterschaft, die sich an die Menschen richtet und das Zeugnis über Gott beinhaltet (1. Pet 2,9). Gott «verherrlichen» bedeutet, Ihn auf der Erde darzustellen. Wir sollen durch unser Verhalten seine Tugenden verkündigen.

Dann steht noch: «Scheut euch vor ihm, alle Nachkommen Israels.» Das weist abschliessend auf die Ehrfurcht hin, die wir vor Gott und dem Herrn Jesus haben sollen. Ob wir als heilige Priester oder als königliche Priester tätig werden – immer wollen wir uns ehrfürchtig vor dem Namen des Herrn beugen.

Tod und Auferstehung

«Denn er hat nicht verachtet noch verabscheut das Elend des Elenden, noch sein Angesicht vor ihm verborgen; und als er zu ihm schrie, hörte er» (V. 25).

Dieser Vers ist nicht einfach. Mit aller Vorsicht möchte ich vorstellen, dass hier von Gott und dem Herrn Jesus die Rede ist. Mit «er» ist Gott gemeint und der «Elende» ist Jesus Christus. Gott hat den Heiland in seiner grössten Not am Kreuz nicht verachtet, sondern anerkannt. Als Er zu Ihm schrie, erhörte Er Ihn in der Auferweckung. Wir haben hier zum Abschluss des ersten Bereichs noch einmal den Tod und die Auferstehung unseres Herrn vor uns. Sein Sterben am Kreuz und seine Auferweckung sind das Thema unserer Anbetung als heilige Priester und der Kern unseres Zeugnisses als königliche Priester. Wenn wir beim Brotbrechen gemeinsam anbeten, steht der Tod und die Auferstehung des Herrn Jesus vor uns. Genauso ist die Kernaussage unseres Zeugnisses auf der Erde der Tod und die Auferstehung unseres Herrn. Was für einen wunderbaren Erlöser haben wir doch! Gepriesen sei sein herrlicher Name!