Wir kommen nun zum dritten der oben genannten drei Dinge, zur
3. Hingabe
Die religiöse Entwicklung im 19. Jahrhundert führte weit herum zu einem grossen Verlangen nach völligerer Hingabe an den Herrn. Wer könnte daran zweifeln, dass trotz des Gemisches von Wahrheit und Irrtum, das bei diesen verschiedenen «Heiligungsbewegungen» zutage trat, tausende von Seelen teilweise dabei gefunden haben, was sie suchten, und dadurch einer reichlicheren geistlichen Segnung teilhaftig wurden? Man darf nicht ausser Acht lassen, dass Gott entsprechend den empfundenen Bedürfnissen der Seele zu Hilfe kommt, sogar über ihr Verständnis hinaus. Wo irgend sich Gläubige versammelt haben, um vom Herrn etwas zu empfangen, ist ihnen auf ihr Rufen eine herrliche Antwort zuteilgeworden.
Von diesem Augenblick an begannen mehrere unter ihnen ein Leben des Friedens und der Freiheit mit Gott. Sie bedienten sich dabei vielleicht mehrerer Ausdrücke, die nicht schriftgemäss sind; sie täuschten sich über die wahre Wirklichkeit ihrer Beziehung zum Herrn; sie verblieben in Unwissenheit über die Fülle der Gnade Gottes in der Erlösung und über die glückselige Hoffnung der Wiederkehr des Herrn; aber der Herr nahm nun in ihren Herzen einen Platz ein, den Er vorher nie besass; Er war sowohl zum Gegenstand ihrer Seelen wie auch zum Mittelpunkt geworden, dem sie zustrebten; die Folge davon war ein grosser Segen. Wir anerkennen dies alles voll und ganz und mit Freude. Das einzige, worauf wir im Interesse einer völligeren Segnung der Gläubigen Nachdruck legen möchten, ist die Wichtigkeit, die Gedanken Gottes in Bezug auf die Hingabe der Seinen zu verstehen.
Wir haben also die Frage zu untersuchen:
Was ist Hingabe?
Nach der vorherrschenden Meinung besteht sie in einem Akt der Selbstaufgabe zum Zweck eines völlig Gott geweihten Dienstes. Manchmal hört man sogar sagen, bei der Hingabe handle es sich um eine einmalige Tat unseres Willens; durch einen endgültigen und unabänderlichen Entschluss könnten wir uns selbst, nach Geist, Herz, Leib und Seele dem Herrn darbringen, um Ihm gänzlich zur Verfügung zu stehen. Es werden oft Versammlungen abgehalten, in denen die Anwesenden ermahnt werden, sich auf diese Weise dem Herrn hinzugeben.
Wenn sich eine Seele bewusst wird, in der Gegenwart Gottes zu stehen, ist es sehr wohl möglich, dass dann irgendein Hindernis, eine gewohnheitsmässige Sünde, eine schlechte Gewohnheit oder irgendeine Verbindung mit Bösem ans Licht kommt, bekannt und gerichtet wird. In diesem Fall wird eine solche Seele zweifellos einen wahren Segen davontragen. Aber das ist nicht die Hingabe, und wir müssen uns fragen: Sind solche Heiligungsversammlungen, bei denen man zur Selbstheiligung und Selbstauslieferung aufgerufen wird, nach der Schrift?
Alle diese Aufforderungen setzen beim natürlichen Menschen Kraft voraus. Das ist das erste, was wir hier feststellen müssen. Wir werden dabei als solche betrachtet, die fähig sind, das vorgesteckte Ziel zu erreichen, während wir doch – gemäss den Belehrungen in Römer 7 – zu lernen haben, dass wir das Gute, das wir wollen, ja gar nicht ausüben können, und dass wir, mit einem Wort, ganz und gar unvermögend sind, weder in uns noch durch uns selbst, irgendetwas für Gott zu tun.
Da wird man mich fragen: Werden wir denn nicht ermahnt, «unsere Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer»? Wird das nicht als «unser vernünftiger Dienst» bezeichnet? (Röm 12,1).
Gewiss, aber weder diese noch andere Bibelstellen über diesen Punkt bestätigen die soeben dargestellte Auffassung der Hingabe. Eine nähere Untersuchung dieser Stellen macht es uns klar. Die erste findet sich in Römer 6. In diesem Kapitel finden wir die Wahrheit unseres Gestorbenseins mit Christus und die Tatsache, dass wir als mit Christus Gestorbene von der Sünde gerechtfertigt (oder freigelassen) sind (Verse 1-7). Dann sagt der Apostel: «Wenn wir aber mit Christus gestorben sind, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden, da wir wissen, dass Christus, aus den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod herrscht nicht mehr über ihn. Denn was er gestorben ist, ist er ein für alle Mal der Sünde gestorben; was er aber lebt, lebt er Gott. So auch ihr, haltet dafür, dass ihr der Sünde tot seid, Gott aber lebend in Christus Jesus. Also herrsche nicht die Sünde in eurem sterblichen Leib, um seinen Begierden zu gehorchen; stellt auch nicht eure Glieder der Sünde dar zu Werkzeugen der Ungerechtigkeit, sondern stellt euch selbst Gott dar als Lebende aus den Toten und eure Glieder Gott zu Werkzeugen der Gerechtigkeit. Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade» (Röm 6,8-14). Hier werden wir also nicht nur als mit Christus gestorben und von der Sünde gerechtfertigt oder freigesprochen betrachtet, sondern wir haben uns auch als «Gott lebend in Christus Jesus» zu halten, da Christus ein für alle Mal der Sünde gestorben ist und Er das, was Er lebt, Gott lebt. Unser Leib, der von der Sünde frei gemacht ist, steht nicht mehr unter ihrer Herrschaft und wir sollen daher – so wird uns hier gesagt – unsere Glieder nicht mehr der Sünde als Werkzeuge der Ungerechtigkeit zur Verfügung stellen. Vielmehr sollen wir uns Gott als Lebende aus den Toten darstellen, d.h. als solche, die mit Christus gestorben sind, jetzt aber in dem aus den Toten auferstandenen Christus neues Leben besitzen.
In welcher Kraft lässt sich dies verwirklichen? In eigener, fleischlicher Willenskraft? Nein, denn wir haben uns ja für tot zu halten, usw. Also kann es nur durch den Heiligen Geist geschehen, in der Kraft des neuen Lebens, das wir in einem auferstandenen Christus besitzen. Als Ergebnis unserer Teilhaberschaft am Tod von Christus sind wir nicht mehr der Sünde Sklaven, sondern von ihr befreit. Was werden wir also mit unseren Gliedern tun? Die Antwort findet sich in der Ermahnung dieses Abschnittes: Sie sollen jetzt für Gott Werkzeuge der Gerechtigkeit sein. Denn wie wir uns selbst einerseits der Sünde für tot zu halten haben, so sollen wir uns anderseits als für Gott lebend halten in Christus Jesus. Die in diesem Kapitel gelehrte Wahrheit entspringt diesem elften Vers.
Die schon erwähnte Ermahnung von Römer 12,1: «Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes», gründet sich zwar auf die am Ende des achten Kapitels entwickelte Wahrheit, knüpft aber doch an die Lehre dieses sechsten Kapitels an. Die in der Erlösung entfalteten Erbarmungen Gottes werden uns in diesem Brief der Reihe nach vorgestellt. Anknüpfend an das, was Gott in Christus für uns ist und was Er getan hat, ermahnt uns der Apostel auf diesem Boden, unsere Leiber als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer darzustellen, was unser vernünftiger Dienst ist. Auch hier, wie im sechsten Kapitel, bezieht sich die Ermahnung auf unsere Leiber – jene von der Sklaverei der Sünde befreiten Leiber, in denen jetzt, nach der Belehrung des achten Kapitels, der Heilige Geist wohnt. Das erklärt den Gedanken des Apostels. Wir haben nicht, wie einst die Priester, ein totes Opfer darzubringen und auf Gottes Altar zu legen, sondern in der Kraft des Heiligen Geistes ein lebendiges und somit fortwährendes Opfer, das Gott dargebracht werden soll, solange wir auf der Erde sind.
Aber wie kann das geschehen? wird man wieder fragen. Durch einen Willensakt? Nein, das wäre unmöglich. Es lässt sich nur aufgrund der Anwendung des Todes verwirklichen, indem Christus unseren Leib regiert, und nicht wir selbst, wie wir es im Nachstehenden noch näher erläutern. Dies ist ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer und gleichzeitig unser vernünftiger Dienst, die Anerkennung dessen, was Gott auf dem Boden der Erlösung zukommt. Mit anderen Worten: Unser Leib gehört dem, der uns erkauft hat und soll Ihm daher von Augenblick zu Augenblick als ein lebendiges Opfer dargestellt werden, damit Er uns jetzt zu seiner eigenen Verherrlichung gebrauchen kann, seinem geliebten Sohn zum Zeugnis.
Nachdem wir nun diese Bibelstellen näher untersucht haben, sind wir vorbereitet zu betrachten, was Hingabe in Wirklichkeit ist. Wir wenden uns zu diesem Zweck zuerst einer Stelle im Alten Testament zu, in der uns die Weihe Aarons und seiner Söhne zum Priesteramt beschrieben wird (2. Mo 29). Wenn diese Weihe auch nicht freiwillig geschah, so kann sie uns doch als Bild für die Hingabe dienen. Wir wollen dabei nicht auf Einzelheiten eingehen, sondern nur auf die Bedeutung der Vorgänge, die diese Weihe begleiteten.
Erstens wurden die, die geweiht werden sollten, mit Wasser gewaschen (Vers 4), ein Bild von der Neugeburt. Sie besteht in der Tatsache, aus Wasser und Geist geboren zu sein (Joh 3,5), also in der Anwendung des Wortes auf die Seele durch den Heiligen Geist. Darauf wurden sie unter die Wirksamkeit des Opfers für die Sünde gestellt: Durch das Auflegen ihrer Hände auf dessen Kopf wurden ihre Sünden in bildlicher Weise auf das Opfer übertragen. Das Gericht ging über das Opfer hin, das Blut kam an die Hörner des Altars und das Fleisch, die Haut usw. wurden ausserhalb des Lagers mit Feuer verbrannt (Verse 10-14). So waren nun ihre Sünden weggetan und sie selbst zu Gott gebracht gemäss der vollen Annahme des Brandopfers (Verse 15-18). Das alles geschah, um sie für die Weihe fähig zu machen; in dem was folgt, haben wir die Weihe selbst.
Zuerst wurde vom Blut des Einweihungswidders auf das rechte Ohrläppchen, auf den Daumen der rechten Hand und auf die grosse Zehe des rechten Fusses der Priester getan; das übrige Blut aber wurde an den Altar ringsum gesprengt. Auf uns übertragen bedeutet dies, dass Gott aufgrund des Opfers von Christus, entsprechend dem Wert seines kostbaren Blutes, die völlige Hingabe seiner Diener und Priester will. Unter die Wirksamkeit dieses Blutes gebracht, sollen sie fortan ausschliesslich auf Gott hören, für Ihn handeln und wandeln. Um einen Preis erkauft, sollen sie im Leib, der Ihm gehört, Ihn verherrlichen. Ferner musste man vom Blut nehmen und es zusammen mit dem Salböl auf die Priester und ihre Kleider sprengen: Ein Bild von der Kraft, in der sich ihr Dienst zu erfüllen hatte. Er sollte nicht in der Energie des Fleisches oder durch eigene Willensanstrengung geschehen, sondern in der Salbung und durch die Kraft des Heiligen Geistes.
In der darauffolgenden Zeremonie ist die heutige Wahrheit der Hingabe dargestellt. Wir wissen alle, dass jene Opfer Vorbilder von Christus sind. Lesen wir also im Licht dieser Wahrheit, was man mit dem Widder der Einweihung tat Gewisse Teile dieses Opfers wurden mit einem Laib Brot, einem Kuchen geölten Brotes und einem Fladen aus dem Korb des Ungesäuerten in die Hände Aarons und seiner Söhne gelegt und als Webopfer vor dem HERRN gewoben. Ihre Hände waren also mit Christus gefüllt – Christus in der Hingabe seines Lebens, wie es durch das ungesäuerte Brot bildlich dargestellt wird (siehe 3. Mose 2 über das Speisopfer); und Christus in seiner Aufopferung bis zum Tod, dargestellt im Vorbild des Brandopfers. In Wirklichkeit bedeutet das mit Einweihen übersetzte Wort: «die Hände füllen». Indem Aaron und seine Söhne ihre Hände dem Bild nach mit Christus gefüllt hatten, waren sie eingeweiht, und sie konnten sich mit Ihm, dem einzigen annehmbaren Opfer, vor den HERRN hinstellen. Ferner lernen wir hier, dass die Speise der dem Herrn Geweihten aus den Zuneigungen Christi und aus der Kraft Christi, die durch die Brust und die Schenkel des Webopfers vorgebildet sind, bestehen soll. Nur so konnte ihre Weihe oder Hingabe aufrechterhalten und offenbart werden.