Wenn wir nun zu Römer 8 übergehen, so sehen wir, dass die Hingabe genau der in 2. Mose 29 enthaltenen Wahrheit entspricht, nur in einem tieferen Sinn. «Ihr aber seid nicht im Fleisch», sagt der Apostel, «sondern im Geist, wenn nämlich Gottes Geist in euch wohnt. Wenn aber jemand Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot der Sünde wegen, der Geist aber Leben der Gerechtigkeit wegen» (Verse 9-10).
Vers 9 zeigt uns die wahre christliche Stellung, die durch den Besitz des Heiligen Geistes und sein Wohnen in uns gekennzeichnet ist. Der Ausdruck ist sehr stark. Wenn jemand Christi Geist nicht hat – den Geist, in dem Christus selbst wandelte und handelte, als Er hier auf der Erde war – der ist nicht sein. Es fehlt ihm das Kennzeichen, dass er Christus angehört. Hier gelangen wir zum gleichen Punkt – wenn auch in einer ausgedehnteren Bedeutung – an dem die Priester vor ihrer eigentlichen Einweihung standen, auf die sie durch die Salbung mit Öl vorbereitet waren. Daher lesen wir im nächsten Vers: «Wenn aber Christus in euch ist» – ebenfalls ein Kennzeichen des Christentums (siehe Kolosser 1,27). Anders ausgedrückt: Nicht nur der Geist Gottes, sondern auch Christus wohnt im Gläubigen. Der Herr sagte im Blick auf die Zeit, in der der Heilige Geist gekommen sein würde: «An jenem Tag werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch» (Joh 14,20). So wird dann in Römer 8,1 gesagt, dass wir in Christus Jesus sind, und im 10. Vers, dass Christus in uns ist, gemäss den soeben erwähnten Worten des Herrn, die erst verstanden werden konnten, als der Heilige Geist gekommen war. Diese Wahrheit, dass Christus in uns ist, ist nun gerade die Quelle unserer Hingabe oder, wie man es auch sagen kann: Unsere Hingabe ist der Ausfluss der Tatsache, dass Christus in uns ist. Wir haben schon gezeigt, dass wir durch die Befreiung in den Besitz der Ruhe und der Kraft gelangen; und nun werden wir sehen, dass die dritte Segnung die Hingabe ist.
Wir lenken die Aufmerksamkeit zuerst auf die Sprechweise des Apostels: «Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot der Sünde wegen, der Geist aber Leben der Gerechtigkeit wegen» (Röm 8,10). Wenn wir diese Stelle richtig verstehen, so erkennen wir, was Hingabe ist. Darum möchte ich sie mit Gottes Hilfe klarzumachen suchen.
Vor unserer Bekehrung, wie wir alle wissen, waren wir es, die unseren Leib regierten. Er diente, entsprechend unserem eigenen Willen, der Erfüllung unserer Aufgaben, unseren Wünschen oder unseren Vergnügungen. In jedem von uns war der eigene Wille die treibende Kraft. Das war es, was der Apostel meinte, wenn er sagte, wir seien früher Sklaven der Sünde gewesen (Röm 6,16-17). Unser eigener Wille, durch das Fleisch der Macht Satans unterworfen und durch ihn in Bewegung gesetzt, war die höchste Gewalt, die über uns regierte. Das war aber nicht Freiheit, denn «jeder, der die Sünde tut, ist der Sünde Knecht» (Joh 8,34) und ach! wir lebten nur die Sünde aus, denn die Sünde ist nichts anderes als Unabhängigkeit von Gott; sie ist die Gesetzlosigkeit, das heisst ein zügelloser Wandel ohne Gesetz (1. Joh 3,4). Sünde bedeutet so viel wie: Nur sich selbst und seine eigenen Wünsche zum Gesetz haben.
Das war es, worin wir lebten. Jetzt aber lesen wir: «Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot der Sünde wegen.» Wenn ich es wagen darf, diesen Satz in andere Worte zu kleiden, so würde ich sagen: Ich weiss, dass, wenn mein eigener Wille tätig wird, nur Sünde daraus resultiert; da jetzt aber Christus in mir ist, halte ich den Leib für tot, damit nicht mehr ich ihn gebrauche, nach meinem Willen, sondern damit sich Christus seiner als Werkzeug zur Erfüllung seines Willens bediene. Wir halten den Leib für tot, weil wir überzeugt sind, dass Sünde entsteht, wenn wir ihn selbst regieren. Nun fügt der Apostel hinzu: «Der Geist aber Leben der Gerechtigkeit wegen.» Wenn wir den Leib für tot halten, so wünschen wir, da Christus in uns ist, dass der Herr und nicht die Sünde sein Gebieter sei, und wir betrachten die Tätigkeit des in uns wohnenden Geistes als das einzige Leben, das wir Christen kennen sollten, wenn wir wirklich erfüllt sein wollen «mit der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus ist, zur Herrlichkeit und zum Preise Gottes» (Phil 1,11). Mit andern Worten: Die praktische Gerechtigkeit kann nur dann in unserem Leben hervorgebracht werden, wenn der Leib als ein Gefäss für Christus, in der Kraft des Heiligen Geistes, betrachtet wird.
Nun können wir auf einige Punkte hinweisen, die dem Leser die Wahrheit über die Hingabe auf einfache Weise noch klarer machen. Zuerst stellen wir fest, dass die Hingabe darin besteht, dass Christus die völlige Herrschaft über den Leib der Seinen hat, so dass er ein Organ ist, der nichts anderes als Ihn selbst zum Ausdruck bringt. Zwei Schriftstellen werden meinen Gedanken erläutern: «Ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat» (Gal 2,20). Der gleiche Apostel schreibt an einer anderen Stelle: «Allezeit das Sterben Jesu am Leib umhertragend, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib offenbar werde» (2. Kor 4,10). In beiden Stellen haben wir denselben Gedanken: Christus allein soll durch den Leib der Seinen offenbart werden. Der Unterschied zwischen diesen beiden Versen liegt darin, dass im ersten das «Ich» durch Christus ersetzt wird, während der zweite uns das Mittel vorstellt («allezeit das Sterben Jesu am Leib umhertragend»), durch das sich «das Leben Jesu» offenbaren kann. Das also ist die Weihe: Christus ist an die Stelle des «Ich» getreten, Er hat die Oberherrschaft in uns, und Er selbst bedient sich unseres Leibes, um inmitten dieser Welt zu offenbaren, was Er ist.
Es ist der Wunsch eines jeden aufrichtigen Gläubigen zu erkennen, wie man zu dieser Hingabe gelangen kann. Wir haben schon daran erinnert, wie glücklich wir gewesen sind, Christus als unseren Stellvertreter am Kreuz anzunehmen. Als uns dann die Wahrheit der Befreiung klar wurde, waren wir glücklich, Ihn als den anzunehmen, der an unserer Stelle vor Gott steht. Und nun haben wir einen weiteren Schritt zu tun: Wir sollen Ihn als den annehmen, der nun die Stelle unseres «Ich» einnimmt, als den, der in dieser Welt unser Leben ist. Wie der Apostel dürfen wir nun sagen: «Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.» Dies wird uns dazu führen, das «Ich» zu verwerfen, in welcher Gestalt es sich auch zeigen mag, weil wir gelernt haben, dass das «Ich» (der eigene Wille) nur böse ist. Nun wird Christus die Triebfeder, der Gegenstand und das Ende von allem sein, was wir sagen oder tun. Er selbst, der allerdings immer vollkommene Mensch, hat uns den Weg zu diesem Ziel gezeigt. Er redete und handelte nie aus sich selbst; d.h. Er schöpfte seine Worte und seine Handlungen nicht aus dem Eigenen. Alles war vom Vater, wie Er gesagt hat: «Der Vater aber, der in mir bleibt, er tut die Werke» (Joh 5,19; 14,10). Nach dem gleichen Grundsatz soll Er, der in uns ist, durch die Kraft seines Geistes unsere Worte und unsere Taten hervorbringen, damit sie für Ihn ein Zeugnis und zu seiner Verherrlichung seien.
Wir begegnen dabei Hindernissen – Er hatte keine. Er war ein vollkommenes Gefäss und konnte sagen: «Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.» Wir aber haben noch das Fleisch in uns, und das Fleisch begehrt immer gegen den Geist und sucht in unseren Seelen seine Macht zu hemmen. Deshalb sagt der Apostel: «Allezeit das Sterben Jesu am Leib umhertragend», und in Römer 8,13: «Wenn ihr aber durch den Geist die Handlungen des Leibes tötet». Das will sagen: Es ist immer nötig, den Tod auf alles anzuwenden, was wir sind, damit wir in einem gewissen Mass der ungehinderte Ausdruck dessen sind, was Christus ist. Die Kraft, um dies zu verwirklichen, findet sich im Heiligen Geist, den wir besitzen.
Nehmen wir zum Beispiel an, ich stehe in einer Versuchung und sei im Begriff, mich gerade dem Zorn hinzugeben oder in irgendeine andere Sünde zu fallen. Sehe ich nun von mir weg auf Christus hin und erinnere ich mich dabei, dass ich durch die Gnade in seinem Tod mit Ihm einsgemacht bin, dann bin ich durch den Geist fähig, das Fleisch zurückzuweisen, mich der Sünde für tot zu halten. Auf diese Weise hält Christus seine Herrschaft über mich aufrecht, Er lebt in mir und redet durch mich, anstatt dass das, was ich bin, zum Ausdruck kommt. Daher auch die Ermahnung, den Heiligen Geist nicht zu betrüben (Eph 4,30). Wenn ich in irgendeiner Form dem Fleisch nachgebe und dadurch den Heiligen Geist zum Schweigen bringe, so wird nicht nur der Ausdruck davon, was Christus in mir ist, abgeschwächt, ich verliere dann auch die Kraft, die Handlungen des Leibes zu töten.
Somit, selbst wenn ich Christus als mein Leben hier auf der Erde annehme, statt meines alten «Ich», kann die Hingabe nur durch fortwährendes Selbstgericht in der Gegenwart Gottes aufrechterhalten werden, Tag um Tag, Stunde um Stunde. Das Licht ist es, das alles offenbar macht. Halte ich mich bewusst im Licht auf, so wie Gott im Licht ist, so werde ich sofort erkennen, wenn etwas nicht damit in Übereinstimmung ist. Ich übe dann Selbstgericht, indem ich meinen Fehltritt bekenne, und meine Weihe bleibt aufrechterhalten (siehe 1. Joh 1). Weit entfernt von der gewöhnlichen Auffassung, die Hingabe bestehe in einem entschiedenen Willensakt der Selbstübergabe, sehen wir also, dass sie vielmehr mit der Tatsache beginnt, Christus an die Stelle unseres «Ich» zu setzen und Ihm den vorherrschenden Platz in unserem Herzen und Leben einzuräumen; und diese Hingabe wird durch den fortwährenden Verzicht auf das «Ich» in der Kraft des Heiligen Geistes aufrechterhalten. Das ist die Hingabe, zu der Gott in seiner unendlichen Barmherzigkeit die befreite Seele hinführt.
Ich muss zwar hinzufügen, dass unsere Hingabe hier in dieser Welt nie vollkommen sein wird. Der Herr Jesus ist der einzige Gott vollkommen geweihte Mensch, und Er ist das Vorbild, dem wir gleichförmig werden sollen. Unsere Hingabe entspricht durchaus dem Mass unserer Gleichförmigkeit mit Ihm. Wer von einer völligen Hingabe seiner selbst spricht, versteht die Schrift falsch; das ist ein noch grösserer Irrtum als zu sagen, sie könne in einem bestimmten Augenblick, durch eine einzige Handlung der Selbstübergabe erreicht werden. Der Herr sagte in seinem, an den Vater gerichteten Gebet, am Vorabend seiner Kreuzigung: «Ich heilige mich selbst für sie, damit auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit» (Joh 17,19). Er war immer der wahre Nasiräer gewesen, völlig für Gott abgesondert; jetzt aber stand Er im Begriff, sich selbst zu heiligen, sich auf eine neue Art, nämlich als verherrlichter Mensch, für Gott abzusondern; und als solcher sollte Er das Mass unserer Heiligung – unserer praktischen Heiligung werden. Deshalb sagte Er: «Damit auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit», durch Wahrheit in Bezug auf das, was Er ist, als geheiligt und in der Herrlichkeit abgesondert. Für uns ist diese Heiligung demnach fortschreitend, und zwar in dem Verhältnis, wie die «Wahrheit» über unsere Seelen Macht gewinnt.
Der Apostel erklärt uns, wie dies vor sich geht: «Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist» (2. Kor 3,18). Christus in der Herrlichkeit ist vor unseren Seelen, Er ist dort ganz ohne Decke unseren Herzen offenbart; wir betrachten an Ihm die ganze Herrlichkeit Gottes, die auf seinem Angesicht erglänzt, alle sittlichen Vollkommenheiten, alle Eigenschaften und die ganze geistliche Vortrefflichkeit Gottes, in diesem verherrlichten Menschen vereinigt und offenbart. In dieser Weise mit Ihm, als dem Gegenstand unserer Betrachtung und Wonne beschäftigt, werden wir durch die Macht des Heiligen Geistes nach und nach – denn es heisst: von Herrlichkeit zu Herrlichkeit – in das Bild dessen verwandelt, auf den unsere Blicke gerichtet sind.
Aber ich wiederhole es, hier auf der Erde werden wir die völlige Verwandlung nach demselben Bild nie erreichen, denn erst, wenn wir Ihn sehen, wie Er ist, werden wir Ihm gleich sein (1. Joh 3,2). Die Offenbarung seines Lebens in unserem Leib hier auf der Erde steht immer im gleichen Verhältnis wie unsere Gleichförmigkeit mit Ihm. Deshalb kann es auf der Erde im Streben nach vollkommener, praktischer Heiligkeit keinen Halt geben, ihr Höchstmass ist hier auf der Erde nicht erreichbar. Wir sollen im Glauben wohl nach Heiligkeit streben, aber es kann nicht zu stark betont werden, dass die Heiligkeit, von der die Schrift spricht, eine völlige Gleichförmigkeit mit dem verherrlichten Christus ist. Das ist die schriftgemässe Heiligung, und wir können ihr durch Gottes Gnade täglich näher kommen. Sie wird aber erst dann unser völliges Teil sein, wenn wir unseren teuren Heiland von Angesicht zu Angesicht sehen. Zu gleicher Zeit werden jene, die die Wahrheit der Erlösung erkannt haben und in die Freude der Befreiung eingetreten sind, nur einen Wunsch haben, nämlich, dass Christus – und nur Er allein – die Vorrangstellung und den Platz der Oberherrschaft in ihrem Herzen und in ihrem Leben einnehme und sie völlig regiere.
Zum Schluss skizziere ich kurz die Charakterzüge, die den gottgeweihten Gläubigen kennzeichnen.
- Vor allem hat er keinen eigenen Willen. Er sagt, wie der Apostel: «Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.» Da er mit Christus gekreuzigt ist, ist er vor Gott mit seinem an den alten Menschen gebundenen, eigenen Willen zu Ende gekommen. Er behandelt ihn folglich als eine gerichtete Sache und lehnt seine Tätigkeit ab. Der Wille von Christus ist sein einziges Gesetz. Ihm gehört er ganz und gar an, damit der Herr allein ihn regiere.
- Ferner sucht der hingegebene Gläubige ausschliesslich die Verherrlichung von Christus. Als der Apostel im Gefängnis war und die Möglichkeit des Märtyrertodes vor sich sah, was sagte er da? «Nach meiner sehnlichen Erwartung und Hoffnung, dass ich in nichts werde zuschanden werden, sondern mit aller Freimütigkeit, wie allezeit, so auch jetzt Christus erhoben werden wird an meinem Leib, sei es durch Leben oder durch Tod» (Phil 1,20). Das «Ich» war seinen Augen entschwunden, nur die Verherrlichung von Christus erfüllte seine Seele.
- Christus war auch das ein und alles, das Ziel, der Beweggrund und der Anziehungspunkt des Lebens des Apostels, und das war das sichere Kennzeichen seiner Hingabe. «Das Leben ist für mich Christus», sagte er. Und obwohl für ihn das Sterben Gewinn gewesen wäre, wollte er nicht selber wählen, weil Christus alles für ihn war und Er allein es wusste, wie der Apostel Ihm am besten dienen konnte.
- Schliesslich bestand seine Hoffnung darin, bei Christus zu sein. Wenn Christus der Anziehungspunkt unserer Zuneigungen ist, wenn Er unsere Herzen erfüllt, kennen wir nichts anderes, als vorwärts zu schauen, dem Augenblick entgegen, wo wir bei Ihm sein werden. «Wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein»; das Herz strebt immer danach, bei seinem Schatz zu sein. Steht dann der Tod vor dem hingegebenen Gläubigen, so wird auch er mit Paulus sagen: «Abzuscheiden und bei Christus zu sein, ist weit besser». Ist aber der Tod noch nicht vor ihm, so wird er in der glückseligen Hoffnung der Wiederkunft des Herrn leben, in der Erwartung, für immer bei Ihm zu sein. Er selbst hat gesagt: «Siehe, ich komme bald.» Und das Herz dessen, der Ihm geweiht ist, antwortet: «Amen, komm Herr Jesus!»